Für die ganz grosse Überraschung hat Frankreich gesorgt, als Hunderttausende gegen die Ehe für alle, "Mariage pour tous", lautstark protestierten. Auf den ersten Blick liegen die Motive offen zutage. Da ist einmal der unbeliebte Präsident, und da gibt es die korrupte politische Funktionärskaste. Denen eines auszuwischen, ist allzu verlockend. Und überhaupt wird in Frankreich gern spektakulär protestiert. Das hat Tradition. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Dem Trend folgen
In Deutschland wiederum läuft ein schleichender Prozess ab. Die regierenden und die an der Basis zunehmend resignierenden Christdemokraten hatten sich eigentlich darauf festgelegt, den verfassungsmässig hervorgehobenen Rang der traditionellen Ehe und Familie nicht anzutasten. Aber wie das so geht in einer Regierung mit Angela Merkel: Sie und ihre Arbeitsministerin Ursula von der Leyen wittern einen Trend und nutzen ihn - Parteitagsbeschlüsse hin oder her.
Zudem gibt es neue Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die die Ansprüche auf Gleichstellung und Gleichbehandlung stärken. Weitere Urteile werden folgen. Daher können Politiker im Zweifelsfall behaupten, nur das voranzutreiben, was sowieso kommt. Und genau hier liegt das Problem.
Berechtigtes Missbehagen
Es scheint kein vernünftiges Argument gegen die Gleichberechtigung gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit der traditionellen Ehe zu geben. Wer es wagt zu sagen, dass ihm das Ganze missfällt, findet sich in der Ecke der Reaktionäre wieder. In Frankreich haben prompt Rechtsradikale die Bewegung gegen die "Ehe für alle" derartig an sich gerissen, dass sich die Wortführerin Frigide Barjot am Ende gar nicht mehr traute, an diesen Demonstrationen teilzunehmen.
Das sind eigentümliche Mechanismen: Der Trend zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften ist unaufhaltsam, und Argumente dagegen zerbröseln geradezu. Dennoch gibt es ein Missbehagen, das sich mal laut und sichtbar, mal verhalten, fast schon verborgen äussert. Könnte in diesem Missbehagen auch etwas Berechtigtes liegen?
Gott und der Zeitgeist
In der Gleichstellungsdiskussion geht es um Rechte, aber auch um Moral. Über Moral wird aber kaum gesprochen, denn wer das Wort in diesem Zusammenhang gebraucht, riskiert, als Moralist von gestern abqualifiziert zu werden. Denn die Befürworter der Gleichstellung möchten ja gerade erreichen, dass über persönliche Beziehungen nicht das Korsett der Moral gestülpt wird. Jeder soll das tun und lassen dürfen, was er will, sofern er nicht andere einschränkt oder schädigt. Das aber ist nicht allein ein rechtlicher Grundsatz, sondern auch ein moralisches Postulat: Der Wille des Einzelnen ist für jeden Einzelnen der moralische Gesetzgeber. Dieser Wille endet erst dort, wo er an die Freiheit beziehungsweise das Selbstbestimmungsrecht anderer stösst.
Es steht dem Einzelnen zudem frei, für sich andere moralische Gesetzgeber als den eigenen Willen anzuerkennen, zum Beispiel Gott - wie auch immer konfessionell bestimmt. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es keinen Gott mit allgemeinverbindlichen Regeln. Es gibt diesen und jenen Gott, der dieses und jenes verordnet. Religionsgemeinschaften wie die christlichen Kirchen berufen sich natürlich auf ihren Gott als obersten moralische Gesetzgeber, passen die Auslegung seines vermeintlichen Willens aber so an, dass es zu keinen unlösbaren Konflikten mit dem Zeitgeist kommt. Und da, wo dies doch geschieht, etwa bei der Zölibatsfrage, kommt es auch innerhalb der religiösen Gemeinschaft zu heftigen Verwerfungen.
Wandel der Moral
Man sieht also auch an der Moral religiöser Gemeinschaften, dass diese ständig neu interpretiert und zum Teil radikal reformiert werden muss, um sich in der Gegenwart zu behaupten. Moral durchläuft zumindest im westlichen Verständnis immer wieder Zyklen der Aufklärung.
Die Moral hat zwei Komponenten: Sie wurzelt in nicht weiter begründbaren Überzeugungen und sie bedient sich der Vernunft, also der Argumentation. In modernen Gesellschaften ist die Vernunft der Motor, der die gewachsenen Überzeugungen untergräbt. Das zeigt sich an der Ehediskussion schon seit Jahrzehnten. Früher war die kirchliche Heirat für eine Ehe unabdingbar, heute ist sie es nicht. Früher galten Kinder als Zweck der Ehe; auch das ist lange vorbei. Scheidungen, wechselnde Partnerschaften waren noch vor wenigen Jahrzehnten tabu, heute gehören sie zum Normalfall, geht es doch immer darum, dass sich der Einzelne optimal einrichten und entfalten kann. Das gilt als vernünftig.
Achtung und Nichtachtung
Dass moralische Grundsätze in einer modernen Gesellschaft nur noch eine Nischenexistenz führen, haben der Soziologe Niklas Luhmann und der katholische Philosoph Robert Spaemann 1989 aus Anlass der Verleihung des Hegel-Preises an Luhmann pointiert dargelegt: "Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral". Für Luhmann ist Moral eine besondere Art der Kommunikation, die Hinweise auf Achtung und Missachtung mitführt. Die meisten wichtigen Themen sind davon also unberührt: Wer einen Computer bedient, ein Auto kauft oder eine Reise plant, benutzt seine Informationen und seinen Verstand. Die Moral hat dabei höchstens im Sinne von Grundsatzfragen etwas zu suchen: Ist ein Auto noch verantwortbar etc.?
Luhmanns Analyse der Achtung beziehungsweise Missachtung als Komponente der Moral gibt einen Hinweis darauf, warum es heute fast nicht mehr möglich ist, das Thema der Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaften anders als der Mainstream zu sehen. Denn wer die konventionelle Ehe weiterhin privilegieren will, setzt sich dem Verdacht aus, dass er damit automatisch die Homosexuellen missachtet. Das darf natürlich nicht sein, und deswegen schweigen die Konservativen zumindest in Deutschland.
Emotionale Verankerung
Und wenn sie auf die Strasse gehen wie in Frankreich, laufen sie Gefahr, genau jene als Bündnisgenossen zu bekommen, denen die Missachtung im Sinne des Ressentiments nur allzu recht ist: die Rechtsradikalen.
Über Luhmann hinausgehend stellt sich aber die Frage, ob es beim Gleichstellungsthema nicht auch moralische Elemente gibt, die auf subtile Weise anders gelagert sind und mit Achtung oder Missachtung gar nichts zu tun haben. Könnte es sein, dass wir emotional manche Dinge für richtig oder falsch halten, die wir rein rational betrachtet ganz anders beurteilen würden? Bezüglich der Gleichstellung wäre es dann so, dass der Kopf sie richtig findet, die Emotionen dazu aber eine Dissonanz erzeugen.
Das ist nicht erstaunlich. Denn Emotionen sind tief verankert, Familienbilder auch. Der Kopf kann sagen, was er will, die Emotionen rufen immer wieder Bilder, Werte und Massstäbe ab, die nicht nur in der frühesten Kindheit angelegt werden, sondern als kollektives Gedächtnis über Generationen verankert sind. Wenn es über Jahrhunderte für richtig gehalten wurde, dass eine Familie aus einem mit einer Frau verheirateten Mann und gemeinsamen Kindern besteht, dann kann der Verstand zu dem Ergebnis kommen, dass es auch anders geht, die Emotionen sind aber noch anders getaktet.
Bruch der Treue
Wir kennen das nur zu genau aus der Diskussion über die Treue in Paarbeziehungen. Im Gefolge der 60er-Jahre wurde es Mode, Ansprüche an Treue als patriarchalisches Besitzdenken abzuqualifizieren. Dieses hoffnungslos veraltete Besitzdenken musste natürlich überwunden werden. Also wurde es schick, auf die Treue zu pfeifen, und wer sie einforderte, hatte schon verloren. Es war das grosse Verdienst des Zürcher Psychologen und Therapeuten Jürg Willi, in seiner "psycho-ökologischen Sicht" von Paarbeziehungen darauf aufmerksam zu machen, dass diese Art der Emanzipation hohe emotionale Kosten verursacht ("Was hält Paare zusammen?", Hamburg 1991). Man müsse doch nur einmal fragen, was der Partner zu einem Bruch der Treue sage, um das Ausmass der Verletzung zu erkennen.
Wie viel Modernität verträgt der Mensch? Offenbar brauchen wir Tabus, die uns schützen, auch wenn Tabus als rückständig gelten. Wenn man sie abräumt, kommen sie als Regression in anderer Gestalt zurück: verstärkter Gebrauch des Dialekts, Rückzug auf das Lokale, Fremdenfeindlichkeit. Um so verbissener werden diejenigen, die gegen diese Rückständigkeit antreten, ihre Rationalität ins Feld führen. Aber anzunehmen, dass ausgerechnet bei einer so intimen Lebensfrage wie dem ganz persönlichen Zusammenleben die pure Rationalität siegt, ist zumindest gewagt.
Die neuen Eltern
Dieser Vorbehalt aber hilft in der Praxis kaum weiter. Denn wer immer etwas gegen die Ansprüche homosexueller Lebenspartnerschaften zu sagen wagt, wird sich prompt den Vorwurf der Homophobie einfangen. Das geschieht erst recht, wenn man gewissen Einladungen nicht Folge leisten möchte. Um aber die ganze Tragweite der Frage nach den Tabus zu erfassen, ist es sinnvoll, die engere Sphäre der Sexualität zu überschreiten. Denn dann zeigt sich eine ganz fatale Tendenz.
Was nicht nur in Frankreich die Skeptiker oder expliziten Gegner der völligen Gleichstellung auf den Plan ruft, ist der vorgesehene nächste Schritt: das Recht der Homosexuellen auf Kinder. Damit ist nicht nur die Möglichkeit der Adoption gemeint, sondern auch die künstliche Erzeugung von Kindern. Die Reproduktionsmedizin offeriert dafür inzwischen ein reichhaltiges Arsenal an Möglichkeiten. Aus Eltern werden Samen- und Eispender. Warum sollte man Homosexuellen Angebote verweigern, die von heterosexuellen Paaren in Anspruch genommen werden können? Das soll mal einer begründen. Er wird sich die Zähne daran ausbeissen.
Der moderne Tod
Denn seit Jahrzehnten greift die Reproduktionsmedizin immer tiefer in die Vorgänge des Lebensbeginns ein. Sie hat sich damit eine unüberbietbare normative Kraft geschaffen. Die Zeiten, in denen man sich noch über die pränatale Diagnostik aufregte, sind schon so gut wie vergessen. Schritt für Schritt hat die Medizin in aller Stille ein Tabu nach dem anderen gebrochen. Der Lebensbeginn ist zum Gegenstand technisch-medizinischen Handelns und entsprechender Kontrolle geworden. Gemessen daran ist die Frage geradezu lachhaft, warum Homosexuelle von diesen Fortschritten nicht profitieren sollten. Denn es handelt sich bei den zukünftigen „Eltern“ sowieso nur noch um Ei- oder Samenspender.
Das letzte medizinische Tabu ist der Tod. Wann wird diese Festung mit rationalen Argumenten gestürmt? Der schwedische Dramatiker Carl-Henning Wijkmark hat darüber bereits 1978 ein kleines Buch veröffentlicht, das 2001 auf Deutsch erschien: "Der moderne Tod. Vom Ende der Humanität." - Das Fatale an Wijkmarks fiktionalen Dialogen schwedischer Staatsbeamter: Jedes Argument, jede geplante Massnahme lässt sich fabelhaft begründen. Bis heute sind diese Argumente in ihrer Klarheit nicht zu toppen. In einer rational durchgeplanten Welt mit begrenzten Ressourcen liegt es nahe, auch das Sterben in den Griff zu bekommen und darauf zu achten, dass kein Aufwand zu einer Lebensverlängerung betrieben wird, deren Sinn sich jeder Plausibilität entzieht.
Diese Problematik kann man nicht denjenigen in die Schuhe schieben, die "nur" die Gleichstellung homosexueller Paare mit heterosexuellen wollen. Aber sie markiert unübersehbar die Tatsache, dass rationale Argumente allein noch keine wünschenswerte Zukunft herbeiführen. Vielmehr kann es durchaus sinnvoll sein, auf die eigenen Emotionen zu hören, die Einsprüche erheben. Ein Missbehagen kann ein wichtiges Signal sein, auch wenn es sich rein rational noch nicht ganz erklären lässt.