Zum Beispiel das Handy. Es gehört heute schon zur Normalität einer Tischgesellschaft oder Gesprächsrunde, dass mindestens ein Teilnehmer abwesend anwesend ist, d.h. seinen mobilen kleinen Partner in einer Hand hält und ständig auf das Display schielt. Und die Geister scheidet. Was den einen als ungezwungene Kommunikation im Netzzeitalter erscheint, stösst den andern als unanständiger Bruch mit den Manieren auf. Nun sind Manieren ja keine Naturkonstanten, vielmehr Indikatoren für soziale und kulturelle Veränderungen. Und deshalb bietet sich Technik auch als Leitfaden zu einer Geschichte der Höflichkeit an.
Die Geschichte von „Hallo“
Nehmen wir das erzbanale „Hallo“. Heute die normalste Gesprächseröffnung, war es im 19. Jahrhundert als solche so gut wie unbekannt. Es gehörte nicht zum guten Ton, mit jemandem ein Gespräch anzufangen, ohne zuerst vorgestellt zu werden. Als der englische Journalist Henry Morton Stanley den Afrikaforscher David Livingston im Kongo ausserhalb gesellschaftlicher Gepflogenheiten traf, begrüsste er ihn nicht mit „Hallo“, sondern mit dem legendären „Dr. Livingston, nehme ich an?“ Das britische „Hullo“, aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammend, bringt nicht primär Gesprächsbereitschaft zum Ausdruck, sondern Überraschung: „Hallo, wen haben wir denn da!“ (heute auch Verärgerung oder Sarkasmus: „Hallo, hast du verstanden, wovon hier die Rede ist!“). Mit den ersten elektrischen Telekommunikationsgeräten stellte sich auch die Frage nach der passenden kurzen Grussform. Zwei Hauptangebote standen zur Diskussion, Graham Bells „Ahoi“ und Thomas Edisons „Hallo“, das er in die Schalldose seines 1877 erfundenen Phonographen gerufen haben soll. „Hallo“ war der traditionelle Ruf, um die Jagdhunde anzufeuern, und er ist eng verwandt mit dem Ruf „Hilla“, „Hillo“, „Holla“, mit dem man jemanden auf Distanz begrüsst. Und genau das tut man ja am Telefon. Edisons „Hallo“ setzte sich auf der ganzen Linie durch. 1883 wurde es in den Oxford English Dictionary aufgenommen. „Hallo girls“ nannte man die ersten Telefonistinnen in den 1880er Jahren. Mark Twain verhalf dem Wort in seinem Sketch „A Telephonic Conversation“ (1880) zum Einstieg in die Literatur.
Die Unhöflichkeit des Dankens
Im März 2013 regte Nick Bilton, Technikjournalist bei der New York Times, in einem Blog die Umwertung der konversationellen Werte an. „Einige Leute sind so unhöflich,“ schrieb er: „Wirklich, wer sendet eine E-Mail oder SMS-Nachricht, die bloss „Danke“ mitteilt? Wer hinterlässt eine gesprochene Nachricht auf dem Anrufbeantworter, statt einen Kurztext zu schicken? Wer bittet einen um eine Auskunft, die man googeln kann? Ist diesen Leuten eigentlich bewusst, dass sie unsere Zeit verschwenden? Die Mailbox ist zum Beispiel eine unhöfliche Art, mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Man überlege nur einmal, wie lange es dauert, auf sie zuzugreifen, und dann diesen gewundenen Mitteilungen zuzuhören: ‚Hi, hier ist So-und-so...’ (..) Und schliesslich gibt es die schlimmsten Missetäter, jene, die eine Mail schreiben, um mitzuteilen, dass sie eine gesprochene Nachricht hinterlassen haben.“ Sein Vater, so Bilton, habe die Lektion nach einem Dutzend Voice-Mails an den Sohn gelernt, nachdem dieser nie antwortete. Mit seiner Mutter verkehrt Bilton vorzugsweise via Twitter. Weil er offensichtlich bereits jetzt in der Zukunft lebt (eines seiner Bücher trägt den Titel “Ich lebe in der Zukunft und so funktioniert das“).
Zeitverschwenderische Gesprächsangebote
Biltons Kolumne war nicht satirisch gemeint, sondern bitter ernst. Der Grundton: Statt sich über Unhöflichkeiten aufzuregen, sollte man sie eher als Ausdruck neuer Gepflogenheiten im medial-sozialen Umgang sehen, will sagen: die Etikette für die digitale Ära neu definieren. Nun gibt es sicher eine Menge Redundanzen im Netz (allerdings auch im konventionellen Gespräch). So gesehen, kann man sich fragen, ob im Zeitalter der kommunikativen Inkontinenz „Unhöflichkeit“ nicht als selbstschützende Anästhetisierung gegen die Flut ungebetener und zeitverschwenderischer Gesprächsangebote zu betrachten sei: „Leuten, die in digitaler Kommunikation ertrinken, erscheinen viele soziale Normen nicht mehr sinnvoll.“ Anderen Leuten dagegen schon. Die oft tiefe Indigniertheit der über 500 Kommentare auf die Kolumne lässt den Schluss zu, dass Bilton einen empfindlichen moralischen Nerv traf (was wahrscheinlich auch seine und seiner Zeitung Absicht gewesen sein dürfte). Eine Leserin schrieb rundheraus: „Das ist ein Soziopath – und Sie stellen ihn an?“
„Erkrankung des Kontakts“
Man muss nicht so weit gehen, um in Biltons Plädoyer doch Anzeichen eines „beschädigten Lebens“ auszumachen, das Theodor W. Adorno in seiner berühmten „Minima Moralia“ vor über einem halben Jahrhundert beschrieben hatte – ein Buch nota bene, das man sich gerade heute wieder zu Gemüte führen müsste. Adorno sprach von einer „Erkrankung des Kontakts“. Symptome dafür: Man begrüsst sich, „anstatt den Hut zu ziehen, mit dem vertrauten Hallo der Gleichgültigkeit“, oder man schickt sich „anstatt von Briefen (..) anrede- und unterschriftlose Inter office communications.“ Eine gewisse Wehmut nach Grossbürgeretikette liesse sich heraushören, wäre da nicht der erbarmungslose analytische Bescheid, der nun wie auf die heutige Situation zugeschnitten erscheint: „Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab.“ Ich vermute, genau das war es, woran viele Leserinnen und Leser von Biltons Kolumne Anstoss nahmen: die Exzision des Zartsinns aus dem Gewebe der Kommunikation. Denn die Rede von „unnötiger“, „belastender“, „ärgerlicher“, „zeitverschwenderischer“ Kommunikation verrät ja implizite den (Un-) Geist der Profitmaximierung menschlicher Beziehungen. Wer zu fragen beginnt, was an einem Gespräch oder einer Begegnung um der Effizienz willen ausgemerzt werden kann und soll, reduziert soziale Probleme auf Redundanzvermeidung. „Effizienz“ gehört zum Vokabular des Ingenieurs; in der Anthroptechnologie der Zauberlehrlinge von Silicon Valley sind Individuen, Familien, Gemeinschaften „upzugradende“ Systeme.
Zeitgeiz
Neue Medien mögen bestimmte Freundlichkeitsformen überflüssig machen, nicht aber Freundlichkeit. Sie sucht sich andere Formen der Authentizität: Zärtliche Phone-Anrufe, liebevolle SMS-Nachrichten, ein Gruss via MP3-Song. Warum soll man solche Botschaften nicht verwenden, solange sie als Angebote in einer Palette von Möglichkeiten figurieren? Entscheidend dabei ist, diese Palette nicht verkümmeren zu lassen. Und genau diese Gefahr droht im heute herrschenden Zeitregime. Kommunikation ist ein Tauschgeschäft. Ausgetauscht werden Information, Aufmerksamkeit, Zuneigung oder Abneigung. Ich gebe dir meine Zeit, wenn ich deine E-Mail oder deine SMS-Nachricht lese. Tue ich das nicht, heisst das, dass mir die Zeit dafür zu teuer ist. Ich entwickle einen Zeitgeiz. Und genau dann falle ich in das Bilton’sche Verhaltensmuster. Vom anderen „effizientes“ Gesprächsverhalten einzufordern, bedeutet, das Diktat in der zwischenpersönlichen Beziehung zu übernehmen: Halte dich gefälligst an die Regeln der Gesprächsökonomie, Dummkopf! Adorno klassierte Schreiberlinge à la Bilton schon präemptiv: „Wenn Zeit Geld ist, scheint es moralisch, Zeit zu sparen, vor allem die eigene, und man entschuldigt solche Sparsamkeit mit der Rücksicht auf den anderen (..) Jede Hülle, die sich im Verkehr zwischen die Menschen schiebt, wird als Störung des Funktionierens der Apparatur empfunden, der sie nicht nur objektiv eingegliedert sind, sondern als die sie mit Stolz sich selber betrachten.“
Die Zärtlichkeit des Teilens
Untergründig und hinterlistig sickert die Profitwirtschaft in unsere Seelen. Wir opfern Aufmerksamkeit und Sorge – soziales Kapital also – einer schnellen Erledigungsagenda. Effizienz ist dabei die übermächtige Gleichmacherin. Und damit unterminieren wir tatsächlich soziale Beziehungen. Denn sie sind gerade nicht gleichmacherisch. Gewiss, alle Menschen sind gleich – was Recht und Würde betriffft –, aber einige Menschen sind für uns immer gleicher als andere, man könnte auch sagen: weniger gleichgültig. Ohne Beziehungshierarchie keine Wert- und Wichtigschätzung. Eine Person zu schätzen, heisst, sie über andere zu stellen, in dem Sinne, dass sie schlicht mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung, Liebe „verdient“. Weil mir diese Person etwas „sagt“, kann sie mir alles sagen: die mir nächsten Dinge, den redundantesten Müll. Der Inhalt ist irrelevant. Alles entscheidend ist das „Zarte“: das Teilen der Zeit. Der temporale Kommunismus.
Oder wie es ein Blogger mit wundervoll poetischer Lakonie ausdrückte: „Wir waren verliebt. Wir steckten unsere iPhones weg. Und - ja, das war’s.“