Warum baut einer eine neue Glasfaserverbindung zwischen der Terminbörse von Chicago und den Aktienbörsen von New Jersey? Einfach geradeaus durch alle Hindernisse hindurch und für 300 Millionen Dollar? Damit Informationen um 13 Tausendstelsekunden schneller ausgetauscht werden können als über die existierenden Leitungen. Willkommen in der Welt des High Frequency Trading (HFT), des Flash Tradings oder eben der Flash Boys.
Es ist nicht kompliziert, ...
Lewis hat mit seinem neusten Bestseller in den USA eine bereits erbittert geführte Debatte angestossen. Seit Langem ist bekannt, dass im HFT zwei Drittel aller Börsengeschäfte abgewickelt werden. HFT bedeutet, dass mit ausgeklügelten Algorithmen und der brachialen Rechenpower von Supercomputern minimalste Kursschwankungen im Bereich von Millionstelsekunden ausgenützt werden. Die Flash Boys wehren sich mit allen Kräften gegen die These von Lewis, dass ihre Tätigkeit völlig überflüssig, ja schädlich ist.
Einem normalen Investor ist es nicht bewusst, selbst wenn er ein Profi und durch einen Bloomberg-Terminal an die realen Kurse in Echtzeit angeschlossen ist, dass nach der Betätigung der Enter-Taste für einen Börsenauftrag Bruchteile von Sekunden vergehen, bis der am Handelsplatz Börse ankommt – und von den Börsencomputern verarbeitet wird. Hat jemand entsprechend schnell Zugriff auf diese Information, hat er einen Wissensvorsprung. Und verdient damit alleine in den USA schätzungsweise über 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Kompliziert genug.
... sondern sehr kompliziert
Hinzu kommt, dass es neben den Börsen alleine in den USA 14 sogenannte «Dark Pools» gibt. Nicht zu verwechseln mit Darkrooms, sind das Handelsplätze für Finanzprodukte. Hier bleiben Käufer und Verkäufer anonym, es gibt keine Offenlegungspflicht für Transaktionen, keine Kontrollen, kaum Regeln. In diesen Dark Pools finden rund vierzig Prozent aller Handelsgeschäfte statt.
Sie befinden sich nicht auf schmierigen Servern im hintersten Kirgisistan, wie man meinen könnte, sondern werden von hochseriösen Banken betrieben, neben US-Geldhäusern sind die Deutsche Bank und die Credit Suisse ganz vorne dabei, sogar offizielle Börsen betreiben sie noch nebenher.
Der Initialzünder
Lewis beschreibt, wie die Verhaftung des IT-Mitarbeiters Sergey Alenykow am 3. Juli 2009 seine Aufmerksamkeit auf die geheimnisvolle Welt der Flash Trades und der Dark Pools lenkte. Alenykow hatte bei Goldman Sachs gekündigt, um bei einer HFT-Firma anzuheuern und ein paar Megabyte selbstgeschriebener Programme mitgenommen. Diese seien aber Multimillionen wert, beklagte sich Goldman Sachs, schlimmer noch, ihr Missbrauch könne «die Märkte manipulieren». Das war echt witzig, denn das beinhaltete ja, dass Goldman Sachs diese Codes nur ordnungsgemäss verwendete.
Von hier und vom Bau des neuen Glasfaserkabels aus führt Lewis den Leser in eine Welt, die nicht nur dem Finanzlaien wie die Ausgeburt eines sehr begabten Science-Fiction-Autors vorkommt. Nur ist alles real, und es geht darum, wie Lewis schreibt: «Wenn hochintelligente Menschen mit der Ausnutzung der Schwachstellen des Finanzsystems astronomische Summen verdienen, haben sie jeden Anreiz, das System weiter zu schwächen oder schweigend zuzusehen, während andere es schwächen.»
Die Helden
Während Lewis in seinen vorherigen Bestsellern (Liar’s Poker und The Big Short, beide auf Deutsch erhältlich und weiterhin sehr lesenswert) den Ursachen der letzten Finanzcrashs auf den Grund geht, legt er diesmal seine Story an einer wahren Heldengeschichte an. Wie ein paar engagierte Finanzspezialisten und IT-Cracks um Brad Katsuyama herum sich daran machten, eine neue Börse auf die Beine zu stellen.
Nicht als Systemkritiker oder Gegner des Börsenhandels. Sondern einfach mit der Absicht, eine Börse wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollte: ein genialer Marktplatz, auf dem sich Käufer und Verkäufer von Finanztiteln treffen und mit möglichst gleichlangen Spiessen handeln. Ohne Mittelsmänner, die nur über eine Fähigkeit verfügen: Sie können in die Zukunft schauen. Zwar nur um ein paar Millionstelsekunden, aber das reicht, um Milliardengewinne einzustreichen.
Sind es nicht Peanuts?
Nun ist ein möglicher Extraprofit von vielleicht zwanzig Milliarden Dollar pro Jahr nichts Weltbewegendes, da sind wir uns seit der Finanzkrise 1 andere Zahlen gewohnt; beim Herstellen der Hyposchrottblase kassierten Banker alleine an in Zusammenhang damit stehenden Boni rund tausend Milliarden Dollar.
Aber das Problem besteht darin, dass mit HFT die Börsen zu immer komplexeren Systemen werden. Das äussert sich darin, dass sogenannte Flash Crashs – plötzlich einsetzende Achterbahnfahrten der Börsenkurse, hervorgerufen durch diese Computerprogramme oder simple Fehlmanipulationen oder Verkettung unglücklicher Umstände – sich immer mehr häufen und, ähnlich wie Finanzkrise 1, zu einer möglichen Kernschmelze des gesamten Weltfinanzsystems führen können.
Die Lektüre der «Flash Boys» sei jedem empfohlen. Lewis kann etwas, was eigentlich kein Banker kann: Er erklärt scheinbar Kompliziertes ganz einfach. Und unterhaltsam. Nicht, weil er banalisiert, sondern weil die meisten modernen Produkte des sogenannten High Tech Financial Engineering am Schluss ganz banal sind.
*Michael Lewis: Flash Boys. Campus Verlag, 2014