Das Motorrad ist magisch. „Kein Vehikel vermittelt die Welt so intensiv wie eine anständige Maschine“. Warum ist das so? „Die Maschine instrumentiert den Körper, der Körper die Maschine.“ Und es gibt nichts Besseres als „sich in die Landschaft einfühlen, Bewegungsfreiheit spüren, nichts um sich spüren als Licht und Wind.“ Der bekannte Schweizer Schriftsteller Niklaus Meienberg hat das geschrieben. (1) Er feierte die „Verschmelzung mit Maschine und Natur“ - das sind gewagte Worte. Gewagt wie das Motorradfahren selber.
Wer wie ich mit Mitte 50 in die Motorradwelt eingestiegen ist, folgt keiner spontanen Eingebung. Da hat sich ein Wunsch entwickelt, der lange nicht wahrgenommen, verdrängt oder einfach nur aufgeschoben worden ist. Bei mir war es so, dass ich das Motorradfahren für die riskante Marotte von Leuten hielt, die etwas einfach, vielleicht zu einfach gestrickt sind. Oder die wie Niklaus Meienberg das Extreme lieben. Und Meienberg diente mir zugleich als Warnung. Denn seine Liebe zum Motorradfahren hat er immer wieder mit üblen Stürzen und Unfällen bezahlt.
Das Gefühl der Freiheit
Sich über diese und die zahllosen anderen Warnungen hinweg zu setzen, geht nur, wenn die Sehnsucht stärker ist. Die hatte mich eines Tages gepackt und liess mich nicht mehr los. Am Anfang standen mir ganz klare Bilder vor Augen: Mit dem Motorrad für mich allein in die Höhe der Berge fahren, auf dem Weg zu hoch gelegenen Seen, allein mit einer Landschaft, die sich durch ein Motorrad erst richtig erschliesst. Ein Auto ist zu behäbig. Mit dem Motorrad lässt sich die Natur anders erreichen.
Dann traten diese konkreten Bilder in den Hintergrund. Die Sehnsucht aber blieb und wurde eher stärker. Ich wusste nicht, wohin sie mich führen würde. Das klingt ungereimt und ist es vielleicht auch: Aufzubrechen zu einem Ziel, das man auch nicht annähernd definieren kann. Ein Aufbruch ins Unbekannte. Man trägt plötzlich Klamotten, die man früher nie angezogen hätte. Und es gibt Überraschungen. Als ich erzählte, dass ich Motorrad fahre, hörte ich von vielen Bekannten, von denen ich das gar nicht wusste, dass sie das auch tun. Es ist, wie wenn man das erste Mal seinen Hund spazieren führt und auf lauter Hundebesitzer trifft, die man vorher kaum bemerkt hat.
Worum kreisen die Gespräche zwischen Bikern? Alle sind begeistert vom Losfahren, vom Erlebnis der Bewegung, von Touren und Reisen, von den Schwierigkeiten, die im Umgang mit den Maschinen zu meistern sind. Biker sind ein eigener Club. Man grüsst sich ja auch, wenn man sich auf den Strassen begegnet, durch Abspreizen der linken Hand. Mir ist das früher nie aufgefallen. Aber dieses Grüssen berührt mich. Drückt es doch aus, dass Biker schon auf den normalen Strassen in einer anderen Welt als die von Autofahrern unterwegs sind.
Teil des Rausches
Das Gefühl der Freiheit, das sich schon beim Losfahren einstellt, ist schwer zu erklären. Denn rational betrachtet bin ich mit dem Motorrad nicht weniger als sonst abhängig von Strassen, Tankstellen, Restaurants, Hotels und Bankomaten. Und auch die Sorgen bleiben die gleichen. Oder nicht? Werden sie plötzlich kleiner, weil die Aufmerksamkeit vollständig vom Fahren absorbiert wird? Diese Antwort klingt gut, kann aber nicht stimmen. Denn wieso sollte eine Sorge durch andere eliminiert werden? Dann müssten ja alle Bessergestellten unter Brücken schlafen.
Warum fühle ich mich auf dem Bike freier als im Auto? Natürlich bin ich mit dem Bike gerade auf Pässen schneller und agiler als mit einem Auto, aber das kann nur einen Teil des Rausches sein. Es ist, wie wenn es im Hirn Klick macht, und ein ganz neues Gefühl entsteht. In dem Moment, in dem die Fahrt beginnt, ist auch die Angst vor Unfällen wie weggezaubert. Das Motorrad ist wie ein Sprung in die Freiheit. Ich fahre los, es gehorcht mir, ich erlebe mich im Zustand der Souveränität.
Könnte es sein, dass die Bändigung der Kraft ein urmenschliches Erlebnis und zugleich ein tief verankertes Bedürfnis ist? Wenn man sich auf ein Motorrad setzt, hat man es mit einem Gewicht zu tun, das ein normaler Mensch nicht heben kann: Die meisten Motorräder wiegen zwischen 190 und 260 Kilo, grössere Maschinen um 450 Kilo. Schon ein 125er Motorroller hat mindestens 140 Kilo. Das sind Gewichte, die man nur im Gleichgewicht beherrschen kann. Kippt eine Maschine aus der Mitte, dann ist, je nach Schwerpunkt, früher oder später finito. Dazu kommt die Leistung der Motoren. Gemessen an der menschlichen Kraft sind selbst niedrigste PS von unglaublicher Wucht. Es ist dem Menschen nicht in die Wiege gelegt, solche Kräfte zu bändigen. Aber er hat Ähnliches schon immer gemacht: Er hat grosse Tiere bezwungen und gezähmt und ist geritten. Die Lust im Sattel des Pferdes und die im Sattel eines Motorrades ist durchaus vergleichbar.
Intensives Zwiegespräch
Denn es ist immer dieselbe Lust, übermenschlichere Kräfte als die eigenen zu erleben. Die Kraft des Pferdes: meine Kraft, die Kraft des Motorrads: meine Kraft. Kein Auto kann je diese Intimität erzeugen. Denn das Pferd zwingt mir ebenso wie das Motorrad seine Wirklichkeit auf, die darin besteht, dass ich mich mit dem Pferd oder dem Motorrad in einem Gleichgewicht befinden muss. Das Auto verlangt das nicht; da bin ich Passagier. Der Genuss der Kraft hat das Gleichgewicht zur Bedingung. Ist dieses Gleichgewicht, man könnte auch Harmonie der Bewegung sagen, gestört, zerbricht die Einheit, und der Mensch fliegt irgendwo hin. Oder er wird unter dem Gewicht des Pferdes oder des Motorrades begraben.
Je länger man Motorrad fährt, desto mehr Spass macht es, seine Maschine mit dem Körper immer besser in Einklang zu bringen. Und auch beim schnelleren Fahren, beim scharfen Bremsen und erst recht in den Kurven möchte man immer effizienter und eleganter sein. Jede Kurve, schreibt Moritz Holfelder, „erzählt mir etwas über mich, über meinen aktuellen Zustand.“ (2) Das ist der Punkt. Auf dem Motorrad befinde ich mich in einem intensiven Zwiegespräch: mit der Maschine, mit der Strasse und mit mir.
Wie eine Geliebte
Dieses Zwiegespräch ist keine Plauderei. Denn in allerkürzester Zeit lernt man, dass der eigene Blick eine Kraft hat, die man sich nie vorgestellt hätte. Ob man will oder nicht: Der Blick lenkt das Motorrad, ob man nun langsam oder schnell fährt. Ein falscher Blick in der Kurve wird unweigerlich zum Crash führen. Aber der bewusst eingesetzte Blick hilft auch, die engste Wende zu fahren. Es ist ein langer Prozess, bis man gelernt hat, dass der Körper und die Maschine wie von selbst in die Richtung gehen, die man „ins Auge gefasst“ hat.
Die Herausforderung der Bewegung: Mit dem Motorradfahren ist man nie fertig. Es gibt immer etwas zu verbessern. Aber je besser man etwas kann, desto grösser ist die Lust. Man fährt Achten und engste Manöver mit Lenker im Anschlag auf den Übungsplätzen der Strassenverkehrsämter und auf diversen Trainingsanlagen. Diese Kurven bringen Spass - wenn man sie kann. Man möchte sie wieder und wieder machen und spüren, wie der Körper von Mal zu Mal besser im Einklang mit der Maschine ist.
Mir wurde erst nach und nach klar, warum meine erste Sehnsucht nach dem Aufbruch in die Höhe der Berge durch etwas Unbestimmteres abgelöst wurde. Es hängt damit zusammen, dass das Motorrad wie eine Geliebte ist, die jeden Ort verwandelt. Jeden Ort? Nein, schon die Wege.
(1) „Blochen in Assen – und auch sonst“ von Niklaus Meienberg ist wohl der beste Essay, der je über das Motorradfahren geschrieben worden ist. Man findet ihn in: Niklaus Meienberg, Vorspiegelung wahrer Tatsachen, Limmat Verlag, Zürich 1983
(2) Moritz Holfelder, Motorrad fahren, dtv 2000