Wer mit jungen Menschen zu tun hat, weiss um ihr historisches Interesse und erlebt, wie sie sich für Zeiten und Kulturen faszinieren lassen. Er kennt ihren Wunsch nach Verstehen eigener und fremder Welten. Doch die Sachkenntnis ist klein, das Wissen um Zusammenhänge bescheiden. Wegschauen ist keine Lösung; die Schule müsste Gegensteuer geben. Stattdessen schafft sie Geschichte als eigenständiges Fach ab.
Alles ist Gegenwart
„Junge Menschen heute leben vernetzt, in der Horizontalen“, schreibt der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann. Und er fügt bei: „Sie sind gleichzeitig in Tokio, New York und Berlin; aber Historisches ist für sie bloss ein Wikipedia-Eintrag.“ Alles ist Gegenwart.
Was sich nicht vergegenwärtigen lässt, ist nicht existent. So könnte man denken. Dazu nochmals Hürlimann: „Meine Generation dagegen ist in der Vertikalen aufgewachsen: Am Anfang war das Alte Testament, da war Rom, da war die alte Schweizer Geschichte, und die Menschen begriffen sich als eine Verlängerung des Gewesenen.“(1)
Da hat Thomas Hürlimann recht: Daten und Informationen bewohnen das Horizontale.
Erkenntnisse entstehen nicht beiläufig
Sie sind die Signaturen der Gegenwart. Erkenntnissen und Bildung dagegen wohnt eine Vertikalität inne. Die Schule steht darum vor grossen Aufgaben. Aus den Daten-Haufen wie Big Data lassen sich zwar nützliche Informationen herausdestillieren, doch sie sind bloss additiv. Sie generieren kaum Erkenntnisse. Erkenntnisse entstehen nicht beiläufig. Sie sind Ergebnis von Arbeit und nicht zufälliger Effekt von Aufwischen und Finden. Lernen und begreifen muss jeder Schüler selbst.
Das ist anstrengend. Es braucht einen animierenden Unterricht, den dialogischen Diskurs und vital präsente Lehrer. Wichtig sind Lehrerinnen, die ihren Schülern etwas abverlangen und sie mit Strukturen konfrontieren, die Jugendliche in ihrer Eigen- und Gegenwartswelt niemals kennenlernen würden. Unterricht als gegenhaltende Kraft mit dem Mut zum Gegenläufigen. Die Horizontale braucht die Vertikale.
Alterungsresistente Bildungsgehalte vermitteln
Die Schule ist darum in ihrer Aufgabe, zur Lernfähigkeit hinzuführen, so wichtig wie nie zuvor. Und darum müssten sich Lehrpläne auf diejenigen Gehalte und formalen Grundfähigkeiten konzentrieren, über die man dauerhaft lernfähig bleibt – und nicht auf Aktualitäten: Bildungsgehalte ohne Verfallsdatum. In einer kommunikativ verdichteten Dienstleistungsgesellschaft braucht es ein gut entwickeltes muttersprachliches Können in Wort und Schrift. Bedeutsam sind elementare mathematische wie naturwissenschaftliche Fähigkeiten und als zwingende Bedingung die fremdsprachliche Qualifikation.
Wichtiges Bildungselement ist auch das Wissen um die eigene Geschichte und damit die Fähigkeit, Herkunft und Zukunft miteinander zu verbinden. In unserer modernen Zivilisation brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Eine solche Haltung macht kooperations- und zukunftsfähig. Historisches Denken ist die Basis.
Geschichte muss als Geschichte präsent sein
Doch die Schweizer Schulen schafften Geschichte als eigenständiges Fach ab. Geschichte mäandriert als nebulöser Schwarm im Fachbereich „Mensch und Umwelt“ mit unzusammenhängenden Einzelteilen: ein bisschen Pfahlbauer, ein wenig Römer, eine Dosis Rittertum. Keine Übersicht, kein verbindendes Zusammenhangwissen, keine Strukturen, nicht einmal auf der temporalen Ebene. Geschichte wurde systematisch abgewertet.
Kaum eine gesicherte Stundenzahl. Kaum Kontrolle. Auch der Lehrplan 21 korrigiert nicht. Im Gegenteil. Er streicht Geschichte sogar an der Sekundarschule. Das Fach wird Teil von „Räume, Zeiten, Gesellschaften“ (RZG) – zusammen mit Geografie. Definiert sind zwölf Grundansprüche. Sie lassen Geschichte nur noch als einzelne Fragmente erkennen. Ihr Stellenwert ist nicht vorgeschrieben. Sie liegen im persönlichen Ermessen der Lehrerin, sind dem beliebigen Gutdünken des Lehrers überlassen. Fürs Fach Geschichte konstruieren diese Konstrukte kaum einen neuen Stellenwert.
Räume, Zeiten, Gesellschaften
Sobald aber eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. In den Köpfen der Kinder sowieso: „Wenn Geschichte nicht als Geschichte in Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen nicht vorhanden“, meint eine Geschichtsdidaktikerin. „Der Begriff «Geschichte» weist programmatisch auf das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft hin, auf ihren Umgang mit der Zeitlichkeit, auf ihre Art der Reflexion und Analyse des Vergangenen“, kritisiert der Historiker Lucas Burkart. (2) Mit dem Fachbereichsnamen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gehe das verloren, fügt er an. Geschichte lehre Zusammenhänge in die Breite, aber auch zwischen Geschichte und Gegenwart herstellen zu können.
Vor solchen Sammelfächern warnte schon der renommierte Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Franz E. Weinert: „Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.“ Als Ausnahme nannte er den Projektunterricht; reale Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt.
Kompass in einer komplexen Welt
Die Zivilisationsdynamik ist ungebremst. Doch der Blick nach vorne braucht den Rückspiegel. Je schneller sich die Gesellschaft verändert, desto wichtiger wird das Wissen um die eigene Geschichte – und das Bewusstsein: „Da kommen wir her.“ Wenn wir diese Dimension völlig verlieren, verlieren wir die Vertikale. Wenn wir uns ganz in die Horizontale begeben und uns nur noch auf die Gegenwart beziehen, dann verlieren wir das Verhältnis zur Geschichte und damit die Orientierung – und ohne Orientierung keine Grundwerte des Zusammenhaltes, keine Vorstellungen zur Raison d’Être der Schweiz. Schule vermittelt den Blick zurück; doch er zielt immer auch nach vorne. Zukunft braucht eben Herkunft, um Odo Marquards vielzitiertes Wort zu nennen.
Darum ist Geschichte so wichtig. Sie erzählt spannende Geschichten. Menschen brauchen gute Geschichten. Sie wecken Interesse. Sie führen zu Ereignissen wie zum Beispiel zur Französischen und Helvetischen Revolution von 1789 bzw. 1798 oder zur Bildung des Bundesstaates von 1848. Nicht als isolierte Ereignisse, nicht als zusammenhangloser Haufen, nicht als begriffsloses Nebeneinander. Weder einfach Jahreszahlen noch Fakten, auswendig gelernt und mechanisch reproduziert. Nein. Jedes Geschehen steht in einem grösseren Zusammenhang mit der Gegenwart.
Das zeigt zum Beispiel die Zeit zwischen 1798 und 1848 – eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Auch für junge Menschen. Es war der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft, der Konflikt zwischen Einheitsstaat und Staatenbund, der Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem alteidgenössischen Partikularismus – in Gestalt der Traube. Der fünfzigjährige Kampf zwischen Apfel und Traube war intensiv. Es gab Krieg; es floss Blut. Fast wäre die Schweiz auseinandergebrochen. Der Bundesstaat von 1848 brachte den Kompromiss – in Form der Orange: ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten – dank einer föderativen Staatsstruktur.
Die Parallele zur Gegenwart ist evident – und damit das Postulat des scharfsinnigen Schweizer Historikers Herbert Lüthy: „Alle Geschichte ist Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.“
Der Zusammenhang als Türöffner
Erst wenn wir die Dinge im Kontext erkennen, gehen uns historische Welten auf. Das Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen bildet die Sensibilität für zeitliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse, fürs Gewordene und Gegenwärtige. Der Zusammenhang wird zum Türöffner in die Zukunft. Nicht umsonst prägte der Philosoph Hans Blumenberg vor vielen Jahren den Ausdruck, Bildung sei kein „Arsenal“, sondern ein „Horizont“. Nicht Daten und Fakten, sondern Orientierung. Bildung als Orientierungsfähigkeit in geistigen und historischen Welten.
Das kommt nicht von selbst. Jede Einsicht von Bedeutung – auch eine geschichtliche – will gedanklich erarbeitet sein. In der Vertikale. Das erspart uns keine Datenmaschine. Auch in Zukunft nicht. Und das Schulfach Geschichte ist eine Art Grundversicherung. Das progressive Land Hessen schaffte das Fach ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt.
(1) Kedves Alexandra, Thomas Hürlimanns Kirschgarten. In: Tages-Anzeiger, 5.6.2015, p. 25.
(2) Lucas Burkart, Jugendliche sollten eine Faszination für andere Zeiten entwickeln. In: NZZ,18.3.2012.