Wir feiern Georg Gerster als Pionier der Flugfotografie. Es gibt aber auch gute Gründe, den Fotografen als Journalisten zu feiern, als Essayisten, als Autor. Georg Gerster war Journalist, bevor er Fotograf wurde, und er ist es stets geblieben. Sechs Jahre lang war er in den 50er Jahren Mitarbeiter der „Weltwoche“, erst im Feuilleton, dann in der „Werkstatt des Wissens“.
Georg Gersters erster, leider verschollener literarischer Versuch war ein Kriminalroman – „unter enträtselbarem Decknamen“, wie François Bondy bemerkt hat. Leichter aufzufinden dann die Dissertation von 1954 des Germanisten bei Professor Emil Staiger unter dem Titel: „Die leidigen Dichter. Goethes Auseinandersetzungen mit dem Künstler“. Laut François Bondy erschien dem Dissertanten die Zuwendung zur Aussenwelt als bestimmendes Prinzip im Denken und Schaffen des deutschen Klassikers: Statt „dunkle Dichterlust“ habe Goethe vom Poeten den „geschärften Malersinn“ verlangt.
Flugbild, nicht Luftaufnahme
Was anderes aber, nicht nur etymologisch gesehen, ist der Fotograf als einer, der mit Licht malt? Und was anderes macht ein Flugfotograf, als mit kreativer Ader und geschärftem Blick aus Oberflächlichem Tiefgründiges hervorzuholen, aus dem Negativ der Erdoberfläche das Positiv des Flugbilds zu entwickeln? Georg Gerster pflegt ausdrücklich von Flugbildern und nicht von Luftaufnahmen zu reden.
Luftaufnahmen, sagt er, hätten etwa Technisches, etwas Mechanisches, wie eine Automaten- oder eine Röntgenaufnahme. Flugbilder dagegen kreiert nicht nur das Auge, sondern da gestaltet die Seele mit. Die Seele haucht der Fotografie das Unverwechselbare ein, macht das Abbild zum Bild. Ein Satellit hat keine Seele, eine Drohne auch nicht, Georg Gerster aber – Fotograf, Journalist und Weltentdecker – sehr wohl.
Auf jeden Fall sind wir vom „Journal 21“ stolz darauf, Georg Gerster unter unseren Mitarbeitenden zu wissen. Er zählt ohne Zweifel zu jenen, die einlösen, was wir seit acht Jahren vollmundig versprechen: Journalismus mit Mehrwert. Er tut es derzeit mit Flugbildern von Dachlandschaften, fünften Fassaden, wie Architekten Dächer auch nennen. Davor hat er im „Journal 21“ die Vielfalt des Unesco-Kulturerbes dokumentiert: zum Beispiel den salzigen Bogoria-See in Kenia, Futternapf für Millionen von Zwergflamingos, oder den riesigen Meidan-i Schah, den „Platz des Königs“ im iranischen Isfahan.
Journalistenlehre bei Manuel Gasser
Alle seine Flugbilder kommentiert er knapp und kompetent, wie es sich geziemt für einen, der bei Manuel Gasser in die Journalistenlehre gegangen ist. Nach seinem Werdegang gefragt, verhehlt der Jubilar nie, wieviel er der kritisch fordernden Förderung des „Weltwoche“-Chefredaktors zu verdanken hat. Daran erinnert auch François Bondy im Nachwort zu Georg Gersters 1988 erschienenem Buch „Die Welt im Sucher – Wahrnehmungen, Erkundungen, Bestandsaufnahmen“.
Herausgegeben von Iso Camartin, versammelt der Band zwei Dutzend Texte zu Bildreportagen, die zwischen 1961 und 1987 in der Wochenendbeilage der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen sind. François Bondy zitiert Hugo Loetscher, der in der Einführung zu einer Ausstellung Georg Gersters in Zürich einst bemerkt hat: „Gerster könnte ohne Bild in einer Ausstellung des Schweizer Journalismus stehen.“ Der Flugfotograf, folgert Hugo Loetscher, sei ebenso Schreibmaschine wie Kamera.
In der Gedenkschrift zu dessen 70. Geburtstag erinnert sich Georg Gerster in direkter Ansprache an sein journalistisches Vorbild Manuel Gasser: „Insgesamt lehrte mich Ihr Beispiel etwas von der Disziplin, die der Umgang mit Sprache fordern darf.“ Und er beschreibt Manuel Gassers Schreibprozess ab der Reinschrift wie folgt: „Sie zogen die Schraube Ihrer Selbstkritik um eine weitere Windung an, tilgten Adjektive – und während Sie der Grossschreibung gaben, was der Grossschreibung ist, magerte Ihr Manuskript, statt sich zu blähen, wunderbarerweise zu klassischer Einfachheit ab. Aus der Klausur gingen kleine Meisterwerke hervor, ohne ein Spur von Sprach-Spreiz und -Stelz.“
Legendäre Swissair-Plakate
Als ich 1974 bei der „Weltwoche“ am Talacker als geduldeter Gast in François Bondys Büro zu volontieren begann, war Georg Gerster seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr auf der Redaktion. Eine meiner Arbeiten war ein ganzseitiges Porträt des Fotografen Georg Gerster. Mit dessen Swissair-Plakaten hatte ich, wie andere auch, zu Hause die Wände meines Zimmers tapeziert, so etwa mit dem Poster „usa“, das die ineinander verschlungenen Freeways von Los Angeles zeigt: Fernweh pur! Das Magazin des „Tages-Anzeigers“ widmete damals diesen Swissair-Plakaten eine Titelgeschichte und stellte sie unter ein Zitat von Albrecht Dürer: „Die Kunst ist in der Natur, man muss sie nur herausreissen.“
Noch für die „Weltwoche“ schrieb Mitte der 70er Jahre Georg Gersters früherer Kollege Peter Schmid. Einst Londoner Korrespondent, war der Berner Oberländer inzwischen als Roving Reporter unterwegs – Vertreter einer heute fast ausgestorbenen Spezies. Dr. Schmid reiste nach eigenem Gusto unermüdlich um den Erdball, aus der Schweiz nach China, von China nach Südafrika, von Südafrika nach Australien, um nur gelegentlich auf der Redaktion aufzutauchen.
Unvergesslich eine Klage Peter Schmids, die vom ebenso weit gereisten Georg Gerster so wohl nie zu hören gewesen ist. Obwohl es beiden, dem Fotografen wie dem Roving Reporter, verwehrt geblieben ist, aus Indien zu berichten. Georg Gerster scheiterte an Delhis labyrinthischer Bürokratie, Peter Schmid am langen Arm der indischen Zensur, da er kritisch über Ministerpräsidentin Indira Gandhi berichtet hatte.
Peter Schmids Lamento war eines Morgens auf der Redaktion zu vernehmen, als er, bleich und übernächtigt, gefragt wurde, ob man denn etwas für ihn tun könne, Kaffee holen oder Kopfwehtabletten besorgen, um sein anscheinend angeschlagenes Befinden zu heben. Er lehnte dankend ab und antwortete kurz, er habe nur ein Problem: „Mir göi d’Länder uus.“
Flieg, Vogel, flieg!
Georg Gerster sind die Länder nie ausgegangen. Das hätten seine Neugier und sein Wissensdurst nicht zugelassen. Er hätte sich wohl auch, wäre das möglich gewesen, von der NASA ins All schiessen lassen, um die ultimativen Flugbilder der Erde machen zu können. So beschränkte er sich 1961 darauf, den Start einer Atlas-D-Rakete in Cape Canaveral zu schildern, an deren Bord noch kein Astronaut, sondern der Schimpanse Enos schläfrig des Abschusses harrte:
„Nach drei langen Sekunden schnellen die Haltklammern zurück. Das Ungeheuer ist frei. Unerwartet würdevoll und gesittet erhebt es sich von seinem Starttisch, so langsam, dass man meint, jeden Augenblick müsse es zurückfallen. Feierlich reitet es seinen Flammenschweif, allmählich Geschwindigkeit gewinnend. Erst dann kommt zum Schönen das Schreckliche. Infernalisch, wie von tausend Feuerwerken, rollt der Donner heran, unmässig – gotteslästerlich den Himmel über dem Kap zum Bersten füllend.“ Der Titel der Reportage: „Flieg, Vogel, flieg!“
Der Bericht aus Cape Canaveral liest sich eindrücklich – auf jeden Fall so gut, dass die Worte auch ohne Bilder nachwirken. Wobei der Autor nicht nur den Raketenstart und das Cape an der Atlantikküste Floridas akribisch beschreibt, sondern das Ganze auch einbettet in den Kontext des amerikanischen Raumfahrtprogramms – vom Augenzeugenbericht zur Meta-Ebene aufsteigend, vom Detail zum grossen Ganzen, von der irdischen Perspektive zur erhabenen Aufsicht.
„Flieg, Vogel, flieg!“ Den ersten Fotoflug hat Georg Gerster 1963 in einer gemieteten Cessna über dem Sudan unternommen. Trotz Tausender von Flugstunden, die er in unterschiedlich vertrauenswürdigen Kisten absolviert hat, ist Georg Gerster stets ein Mitflieger geblieben. Um ein Pilotenbrevet hat er sich nie bemüht.
Das sei ihm zwar unverständlich, schreibt er 1983 im Bildband „Flug in die Vergangenheit“, gereiche aber seinen Mitmenschen am Boden, d. h. uns allen zum Vorteil: „Jeder Flug rührt mich auf; in vierzig Jahren habe ich es nicht zustande gebracht, meine Begeisterung zu zügeln, wenn bei jeder Überhöhung die Erde sich immer wieder neu dramatisch verwandelt. Ich bin also auf Piloten angewiesen, die ob des Sehens nicht das Fliegen vernachlässigen.“
Für seine Gedankenflüge, an der Schreibmaschine oder am Keyboard, braucht Georg Gerster keine Piloten. Die unternimmt er selbst – sicher, souverän und kompetent. In Gefahr, bei journalistischen Soloflügen abzustürzen, ist er nie gekommen. Während der Flugfotograf seine realen Flüge „visuell aufregende Gratwanderungen zwischen Information und Abstraktion“ nennt, sind die Höhenflüge des Journalisten intellektuell anspruchsvolle Expeditionen zwischen Fakten und Interpretation: „Als Flugfotograf suche ich, was ich nicht verloren habe, und finde, was ich nicht suche.“ Auch der Journalist Georg Gerster hat viel gefunden.