Der Philosoph Peter Sloterdijk hat 2009 ein Buch vorgelegt, in dem er den Nachweis führen möchte, dass der Mensch zwar stets nach Höherem strebt, in diesem Streben aber kein Beweis für die Existenz eines höchsten Wesens liegt. Der Titel des Buches, „Du musst dein Leben ändern“, suggeriert auf den ersten Blick etwas anderes. Denn man erwartet, dass der Befehl: „Du musst“, von Gott ausgeht. Um dem gleich entgegenzutreten, hat Sloterdijk seinem Buch den Untertitel gegeben: „Über Anthropotechnik“. Das wirkt wie eine kalte Dusche.
Der Befehl
Der Titel des Buches geht auf das Sonett „Archaïscher Torso Apollos“ von Rainer Maria Rilke zurück. Darin schildert Rilke seine Ergriffenheit bei der Betrachtung des Apollo-Torso von Auguste Rodin. Dabei geschieht etwas ganz Merkwürdiges: Rilke hat plötzlich das Gefühl, dass der Torso ihn anblickt. Und von dem Torso geht der Befehl aus, sein Leben zu ändern.
Die Tatsache, dass der Mensch sich immer wieder zur Veränderung aufgerufen fühlt, beschreibt Sloterdijk als „Vertikalspannung“. Auf mehr als 700 Seiten beschäftigt sich Sloterdijk mit den vielfältigen Formen und Arten, in denen Menschen nach Höherem streben: Vervollkommnung im Sport, in der Kunst, in asketischer Lebensweise. Es handelt sich hierbei um „Exerzitien“.
Subjekt und Objekt
Die Selbsttranszendierung oder eben die Vertikalspannung wird allein durch eine Umkehrung von Subjekt und Objekt ausgelöst, wie Rilke sie beschreibt. Diese Umkehrung von Subjekt und Objekt bezeichnet Sloterdijk als „trainierbare Grösse“ und eine „Operation von mikroreligiöser Qualität“: „Gelingt mir dies irgendwie, so ist es mir auch möglich, dem Stein sein subjekthaftes Glühen abzunehmen.“
Und dann erlebt der Mensch Folgendes: „Es ist die Autorität eines anderen Lebens in diesem Leben. ... Sie ist mein innerstes Noch-Nicht. In meinem bewusstesten Moment werde ich vom absoluten Einspruch gegen meinen status quo betroffen: Meine Veränderung ist das eine, das not tut."
"Nicht satisfaktionsfähig
Aber dazu gehört nicht der Gang in die Kirche. Denn die Kirche beruht für Sloterdijk auf einem Missverständnis der Vertikalspannung: Diese wird eben nicht von Gott ausgelöst. Für Sloterdijk gibt es keinen Gott, der ruft, sondern „die Autorität eines anderen Lebens in diesem Leben“. Warum ist ihm das so wichtig? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil religiöse Deutungen moderner philosophischer Vernunft nicht standhalten. Theologen seien, so schreibt er an anderer Stelle, für Philosophen „nicht satisfaktionsfähig“.
Aber sind die Verluste nicht zu hoch? Wird die Welt nicht nur farblos, sondern geradezu haltlos, wenn religiöses Denken als überholt abgeschrieben wird? Diese Befürchtung wird immer wieder zum Ausdruck gebracht und sie kommt aus einem tiefen Empfinden. Aber die religiöse Tradition kann durchaus unter dem Vorzeichen kritischen Denkens präsent gehalten werden. Seit Jahrzehnten erweist der Philosoph Kurt Flasch immer wieder aufs Neue die Möglichkeit, sich sehr intensiv religiösen Denktraditionen zuzuwenden, ohne darunter das moderne Denken zu begraben.
Grosses, erhabenes Denken
Kurt Flasch bezeichnet sich selbst als Philosophiehistoriker. Seine Werke über das Denken des Mittelalters sind einzigartig. Einem breiteren Publikum wurde Kurt Flasch durch seine Übersetzungen des Dekameron von Boccaccio bekannt. Seine Übersetzung der „Göttlichen Komödie“ ist ein neuer Höhepunkt in seinem Schaffen. Im Jahr 2010 wurde Flasch für sein Werk, „Kampfplätze der Philosophie“ mit dem Tractatus-Preis geehrt. Im Herbst diesen Jahres erhält Flasch den Joseph-Breitbach-Preis der Literatur, die von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur verliehen wird. Flasch sei der „urbanste Schriftsteller“ des Landes, heisst es in der Begründung.
Der Mystik Meister Eckharts und den Werken Augustins hat er mehrere Bücher gewidmet, die höchstes Lob bei den Kritikern gefunden haben. Dabei warnt Kurt Flasch immer wieder davor, die Gedankengänge, die er so kunstvoll entschlüsselt, mit Leidenschaft und in wunderbarer Klarheit darlegt, als heute noch anwendbar misszuverstehen. Es handele sich „um grosses, erhabenes Denken“, aber es sei „vergangenes Denken“. Mit Flasch betreten wir also eine Vergangenheit, die allein von historischem Interesse ist. Wer Anregungen für mystische Gefühle sucht, findet sie in Flaschs Buch über Meister Eckhart, aber wenn er sich unmittelbar daran wärmen will, würde Kurt Flasch ihm dabei keine Gesellschaft leisten. Für Flasch ist der Ofen aus.
Kurt Flasch will die jeweiligen Aussagen über Gott, über die Dreifaltigkeit, über die Schöpfung oder über die Sünde des Menschen in ihrem historischen Werdegang rekonstruieren. Er will sie in ihrer Zeitgebundenheit verstehen. Man kann Kurt Flasch mit einem Kenner mechanischer Uhrwerke vergleichen. Er hält faszinierende Vorträge über die unterschiedlichen Bauweisen, die Kunst ihrer Erfinder und Erbauer, aber am Ende sagt er: Für eine genaue Zeitangabe nehmen wir heute eine Quarzuhr.
Nichts ist Kurt Flasch mehr zuwider als das vage Gerede über den Glauben. „Was meinst du, wenn du Gott sagst?“, ist die Frage, auf die er präzise Antworten verlangt. Denn - das ist eine seiner Pointen - die hat es ja früher einmal gegeben. Aber weil die Kultur nicht auf der Stelle tritt, haben sie inzwischen ihre Gültigkeit verloren. Die Sonne dreht sich eben nicht um die Erde, wie früher einmal angenommen wurde.
Gott in überholten Denkmodellen
Es gibt Theologen, die Flasch durchaus nicht mögen. Sie sehen in seiner historisch-kritischen Arbeit nur Akte der Destruktion. Aber auch Theologen stehen vor dem Dilemma, dass sich in ihrer historischen Forschung die überlieferten Gewissheiten verflüchtigen. „Was wir von Jesus wirklich wissen, passt auf eine Postkarte“, bemerkte einmal der berühmte Neutestamentler Rudolf Bultmann. Theologen retten sich dadurch, dass sie zwischen ihrem Glauben und den wissbaren Ergebnissen historischer Forschung trennen. Hinter vorgehaltener Hand nennt Flasch das „Eiertänze“.
Wenn Kurt Flasch sagt, dass er kein Christ sei, provoziert er die Frage, wie seine Leidenschaft für das christliche Denken zu deuten ist. Es wird nicht durch den Hass der Feindschaft angetrieben. Aber auch nicht durch die Begeisterung eines wie auch immer gearteten Glaubens an Gott. Denn Gott zerfällt für Flasch in historisch überholten Denkmodellen.
Der gebotene historische Abstand
Im Epilog seines Augustin-Buchs schildert er berührend und eindringlich, wie in seiner Kindheit die Deckengemälde der Kirche des alten Augustinerklosters seiner Heimatstadt Mainz mit den verschiedenen Darstellungen Augustins auf ihn gewirkt haben. Er sah Augustin „im Himmel, goldumrandet“, inmitten von Engeln, emporschwebend zu Gott und zum Paradies. Diese Gestalt und diese Bilder boten den erlösenden Kontrast zu den finsteren Nazijahren.
Wir treten Kurt Flasch nicht zu nahe, wenn wir sagen: In seiner Kindheit hat Kurt Flasch die Kraft erfahren, die in der Religion liegt. Aber er hat lernen müssen, dass diese Kraft historisch gebunden ist. Deswegen verachtet er sie nicht, sondern wendet sich ihr immer wieder zu – in dem gebotenen historischen Abstand. Das erfordert sein philosophisch geformter Geist.
Leonard Cohen
Aber Herz und Verstand sind zweierlei Dinge. Was geschieht, wenn es einen Überschuss an religiösen Gefühlen gibt, die sich an keine Konfession und schon gar nicht an rationale Überzeugungen binden lassen? Wie kann diesen Gefühlen Ausdruck verliehen werden? Wir begeben uns jetzt auf sehr dünnes Eis.
Denn wir betreten einen Bereich, der zur Popularkultur gehört. Damit stellen sich sofort zwei Fragen: die Frage nach der Qualität und die Frage der Zuordnung zu religiösen Ausdrucksformen. Das Urteil, es handele sich doch nur um Kitsch und Sentimentalität, ist schnell gesprochen. Wenn jetzt Leonard Cohen ins Blickfeld geraten soll, dann muss es dafür Gründe geben, die jenseits seiner Popularität liegen. Worin liegen sie?
Konzentrierte und kontinuierliche Arbeit
Leonard Cohen ist in erster Linie Lyriker. Bevor er als Musiker Weltrum erlangte, hatte er sich mit seinen Gedichten und Romanen schon einen Namen gemacht. Zunächst sah er in der Lyrik den entscheidenden Zugang zum Verständnis der Wirklichkeit, und es waren Lyriker, mit denen er leidenschaftlich über die Qualität von Texten diskutierte. Bis heute schreibt der mittlerweile 78-Jährige Tag für Tag an seinen Texten – mit grösster Disziplin. Für sein literarisches Werk wurde er 2011 mit dem Prinz-von-Asturien-Preis und in diesem Jahr mit dem Inaugural PEN Award for Song Lyrics of Literary Excellence ausgezeichnet.
Eine Eigenart Cohens besteht darin, dass er an einzelnen Texten, die er zumeist selbst vertont, mehrere Jahre arbeitet, sie immer wieder umschreibt, neue Strophen hinzufügt und andere verwirft. Er selbst sagt von sich, dass er „nicht aus dem Vollen schöpfen könne“, sondern der kontinuierlichen und konzentrierten Arbeit bedürfe.
Der Kämpfer an seinem Platz
Entsprechend sind seine Texte in höchstem Masse „verdichtet“. In einigen seiner Chansons bilden die Härte und Kompromisslosigkeit der Lyrik zur einschmeichelnden Musik grösstmögliche kognitive Dissonanzen, so in dem Song „In my secret Life“ und erst recht in dem apokalyptischen „The Future“. Diese Apokalypse beginnt mit der Einsamkeit eines Folterers – „There is no one left to torture“ - beschwört gegen den bevorstehenden Untergang alte Zustände - „Give me back the Berlin Wall“, diagnostiziert die Krankheit des Westens - „There´ll be a breaking of the ancient western code, your private life will suddenly explode“ - und benutzt dabei eine prophetische Sprache: „I´ve seen the nations rise and fall“. Sein Refrain ist: „I,ve seen the future, it is murder“. Und in dem Ganzen kommen dann noch Cohens Witz und Ironie zum Ausdruck: „I`m the little Jew, who wrote the Bible.“
Leonard Cohen litt die meiste Zeit seines Lebens unter Angstzuständen. Sein Rauchen und vor allem sein exzessiver Konsum von Beruhigungsmitteln sind legendär. Auf seiner bislang letzten Welttournee machte er sich immer wieder einen Spass daraus, etliche davon aufzuzählen – fast eine Apotheke. Sechs Jahre hat er in einem buddhistischen Kloster zugebracht – auch um seiner Angst Herr zu werden. In dem Film, „I´m Your Man“, spricht er davon, wie er sich selbst in Anlehnung an eine Passage aus der Bhagavad Gita als einen Kämpfer sieht, der ohne eigenes Zutun an einen Platz gestellt wurde, an dem er seine Pflicht zu erfüllen hat.
"Hallelujah"
Einer seiner populärsten Songs ist das 1984 erstmals aufgenommene „Hallelujah“. In mehrjähriger Arbeit schrieb er etwa 80 Strophen. Das Lied beginnt mit einem doppelten Zwiegespräch: Einer Freundin erklärt Cohen, er habe von einem Akkord gehört, den König David gespielt und der sogar Gott gefallen habe. An David gewendet meint er, er habe einen Beweis für Gott gebraucht. Den habe er, David, in einer schönen Frau und dem sexuellen Glück mit ihr gefunden. Wieder an die Freundin gewendet bemerkt er bezüglich Gott: „You say I took the name in vain, I don't even know the name. But if I did, well, really, what's it to you?“
Gesang und Melodie drücken eine durch nichts gebrochene Innigkeit aus, obwohl es im Text heisst: „It's a cold and it's a broken Hallelujah“ - wieder diese typische Dissonanz. Leonard Cohen dankt – wem auch immer. In seinem Live-Konzert in London 2009 fügte er ein: „I came to London, just to fool you.“ - Ironie, Brechungen, Spiritualität – und die Haltung der Dankbarkeit: Das Publikum jubelt.
"Vengeance belongs to the Lord"
Seine neueste CD aus diesem Jahr trägt den Titel: „Old Ideas“. Der erste Song, „Going home“, erinnert nicht zufällig an den berühmten Satz Augustins: „Und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ Entsprechend wiederholt Cohen im Refrain: "Going home without my burden, going home behind the curtain, going home without the costume, that I wore.“ In keinem der Lieder - ausser beiläufig in „Amen“, in dem es heisst: „Tell me again, that you know, what I´m thinking, but vengeance belongs to the Lord“ - kommt das Wort Gott vor.
Die Texte sind anspruchsvoll, nicht beim ersten Hören oder Lesen zu entschlüsseln, aber die Melodien sind Ohrwürmer. Auch hier eine Reduktion, die kaum zu überbieten ist. Manchen Hörern - besonders den mit Cohen nicht vertrauten - werden diese Melodien zu eingängig erscheinen.
Eine Art Umweltzerstörung
Wozu dieser weite Weg von Peter Sloterdijk über Kurt Flasch zu Leonard Cohen? Alle drei beziehen sich auf gewaltige Energien aus den Tiefenschichten der Religion, insbesondere der christlichen. Sloterdijk spricht von Vertikalspannung und will diese unreligiös deuten. Ob ihm das ganz ohne Widerspruch gelingt, tut hier nichts zur Sache. Flasch zergliedert wie kein Zweiter das christliche Denken als einen Schatz unserer Denkgeschichte, aber fordert zugleich intellektuell gebotene Distanz. Cohen zelebriert seine Spiritualität, die ganz im Sinne Sloterdijks ohne expliziten Jenseitsbezug auskommt. Er artikuliert damit ein tief sitzendes Gefühl seiner Zuhörer.
Von dieser Energie aber können die Kirchen nicht mehr zehren. Ganz im Gegenteil: Je wirksamer sie ist, desto stärker treibt sie die Menschen von den Kirchen weg und lässt diese verödet zurück. Es ist eine Art Umweltzerstörung, die das Biotop der Kirchen trifft – ungewollt, unausweichlich und unabwendbar. Dieser fundamentale Prozess ist nicht mit dieser oder jener „Reform“ zu stoppen. Es handelt sich dabei um eine Tragik, der nur um den Preis fundamentalistischer Regression zu entkommen ist. Aber das ist ein anderes Thema – und eine noch grössere Tragik.