Wenn den Akteuren des israelisch-palästinensischen Konflikts politisch nichts mehr einfällt und die Verwirrung obsiegt hat, verlegen sie sich auf den «demographischen Faktor», um in ihrer Öffentlichkeit Ängste und Hoffnungen zu schüren. Dass Bill Clinton ihn jüngst in einer Rede in Israel aufgenommen hat – «Wie viele Siedler auch immer Sie in die Westbank hinüberbringen: Die Palästinenser haben mehr Babys als die Israelis als Ganzes» –, zeigt an, dass das Argument auch international Verwendung findet, obwohl der Rückgriff rassistische Züge trägt.
Die Argumentation unterstellt nämlich, Juden und Araber könnten, quasi genetisch prädestiniert, nicht zusammenleben. Demgemäss fand der «demographische Faktor» in Israel bei der palästinensischen Flucht und Vertreibung 1947/48, in der nachfolgenden Gesetzgebung und später in Entwürfen religiös-nationalistischer Kreise ebenso seinen Niederschlag wie in Yasser Arafats Losung vom «Krieg der Gebärmütter» aus den 1990er Jahren. Beide Seiten lassen sich von der Überzeugung leiten, dass die eigenen Rechte durch die Geburtenüberschüsse «der anderen» unerträglich beschädigt würden.
Beiderseitiger staatspolitischer Vorrang der Religion
Die im März vereidigte Regierung in Jerusalem hat sich darauf verständigt, das Grundgesetz von 1992 zu ändern, um dem jüdischen vor dem demokratischen Charakter Israels Vorrang einzuräumen. Damit würde das Attribut «jüdisch» nicht nur eine jüdische Bevölkerungsmehrheit festschreiben (der Verdienstorden für Vielfach-Mütter ist vielleicht schon in Auftrag gegeben). Vielmehr soll die Änderung das Gemeinwesen auf der Grundlage religiöser Prinzipien definieren. Umgekehrt wird in Artikel 4 des palästinensischen Grundrechtskatalogs der Islam als offizielle Religion benannt: Die «Prinzipien der islamischen Doktrin sind massgebende Quelle der Gesetzgebung».
Welche Zukunft die Implementierung solcher Attribute den «gemischten» Städten wie Akko, Haifa, Tel Aviv-Yaffa, Ramle und Beersheva bereitet, liegt auf der Hand. Als Oppositionsführer kam Benjamin Netanyahu 1993 zur Einschätzung: Wenn wir den Statistiken überhaupt eine demographische Bedeutung beimessen wollen, dann geht die Gefahr nicht von den Arabern der «Gebiete» aus, sondern von der arabischen Bevölkerung Israels. Bei den Palästinensern heisst es dagegen: Warum für den Staat kämpfen, wenn er uns eines nicht allzu fernen Tages wie eine reife Frucht in den Schoss fällt?
Wachsendes Gewicht des orthodoxen Judentums
Die jüdische Bevölkerung Israels kann die «demographische Balance» mit Hilfe des Babybooms unter den Orthodoxen und durch die Einwanderung aufrechterhalten. Den Palästinensern fehlt der nationale Startvorteil. Nicht zufällig hat Netanjahu, nunmehr als Regierungschef, das Ziel des «wirtschaftlichen Friedens» ausgegeben – nicht aus Sorge um den Wohlstand der Palästinenser, sondern um ihnen den nationalen Schneid abzukaufen. Und nicht zufällig hatte Abdul Aziz Rantisi, Nachfolger von Achmed Yassin im Gazastreifen, einst die Parole formuliert: «Je schlimmer es wird, desto besser für Hamas.»
Kurzum: Im israelischen Regierungsdiskurs ist dem «demographischen Faktor» die agitatorische Funktion zugewiesen, die eigene Öffentlichkeit auf die dauerhafte Präsenz in «Judäa und Samaria» einzuschwören, nachdem schon heute jeder zehnte Israeli jenseits der einstigen Grünen Linie lebt und die Geburtenrate der Siedler bei fünf Prozent (statt bei zwei Prozent wie im «Inland») liegt. Auch die Palästinenser setzen auf die Mathematik des Bevölkerungswachstums, das sie dereinst von den Besatzern zwischen Mittelmeer und Jordan befreien soll.
Staatsangehörigkeit von religiös-ethnischen Kriterien trennen
Das Spiel mit dem «demographischen Faktor» lässt sich nur durch einen demokratischen und säkularen Staat beenden, ob in einem oder in zwei nationalen Gemeinwesen. Die religiösen, kulturellen und national-ethnischen Bindungen und Loyalitäten wären von der Staatsangehörigkeit zu trennen. Ansonsten ist das Regiment der Unterdrückung vorgezeichnet, so dass sich die umfassendere Frage nach der Staatslegitimität stellt.
Auf dem XIV. Zionistenkongress 1925 in Wien führte Robert Weltsch, Chefredakteur der zionistischen «Jüdischen Rundschau» in Berlin, aus: «Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern. Welcher von den beiden Teilen 51 Prozent und welcher 49 Prozent bildet, ist prinzipiell irrelevant. Denn auf keinen Fall ist eine Entwicklung des Landes möglich, wenn eines der beiden Völker die Rechte der Majorität im Sinne einer Herrschaftsstellung geltend macht. Die Zukunft Palästinas, seine friedliche Entwicklung und Wohlfahrt kann nur dadurch gesichert werden, dass es ein politisches System erhält, in welchem beide Völker gleichberechtigt nebeneinander leben, verbunden durch die natürlichen Bande des Verkehrs, der Wirtschaft und der kulturellen Beziehungen.»