Frontex ist aus „frontières extérieures“ zusammengesetzt worden. Auf Französisch lautet die komplette Bezeichnung: „Agence européenne pour la gestion de la coopération opérationnelle aux frontières extérieures“. Diese Organisation wurde durch eine Verordnung des Rates der Europäischen Union im Oktober 2004 gegründet. Zunächst bestand ihre Aufgabe darin, Massnahmen zur Abwehr von Grenzübertritten zu koordinieren. Es gab also keine eigenständigen Frontex-Grenzschützer.
Eine wachsende Organisation
Das hat sich geändert. Zwar stützt sich Frontex immer noch auf die diversen Grenzschützer an den Aussengrenzen Europas, aber inzwischen verfügt Frontex über eine beachtliche eigene Ausrüstung: 92 Schiffe, 18 Helikopter und 14 Flugzeuge. Dazu kommen Drohnen, Wärmekameras und Nachtsichtgeräte. Dafür braucht man selbstverständlich auch eigenes Personal. Inzwischen beschäftigt Frontex 220 Mitarbeiter. Zudem wurde der Etat aufgestockt: von ursprünglich 6,2 Millionen auf 88 Millionen Euro.
Wem gegenüber ist Frontex verantwortlich? Frontex ist eine Agentur der EU – übrigens die einzige mit Sitz in Warschau. Kontrolliert wird sie durch den Rat der Europäischen Union. Aber weil die Arbeit von Frontex jeweils vor Ort in diversen Ländern in enger Zusammenarbeit mit deren Behörden stattfindet, dürften etwaige Einsprüche aus Brüssel nicht sonderlich eindrucksvoll sein.
Mehr Öl, weniger Flüchtlinge
Der Kern der Arbeit von Frontex besteht darin, die Migration nach Europa so früh wie möglich zu stoppen. Es gilt also zu verhindern, dass Flüchtlinge überhaupt die Aussengrenzen Europas erreichen. Dazu dient modernste Technik. Satelliten und Drohnen beobachten schon die typischen Routen der Migranten in ihren eigenen Ländern und erst recht auf dem Meer.
Schon Silvio Berlusconi hatte mit dem Diktator Muammar al-Gaddafi einen „Freundschaftsvertrag“ geschlossen: „Mehr Gas, mehr Benzin – und weniger illegale Einwanderung“. Das wurde von Italien gut bezahlt. Solche Deals gibt es heute auch zwischen anderen europäischen und afrikanischen Ländern.
Abwehren und Retten
Frontex ist inzwischen zu einer der wichtigsten Plattformen für den Verkauf von modernster Überwachungselektronik an Grenzschutzbehörden geworden. Geradezu mit Stolz weist der Finne Ilkka Laitinen, seit 2005 Chef der Agentur, darauf hin, dass es ja seine Organisation sei, die die nötigen Anforderungen definiere, die Geräte in der Praxis erprobe und für die erforderlichen Kontakte zwischen Anbietern und Nachfragern sorge. (1)
Wie kann man sich die Mitarbeiter von Frontex vorstellen? Es wäre völlig abwegig, sie sich als eine Schar von Sadisten zu denken, denen es geradezu Spass macht, Migranten mit ihrer ganzen Not in den Orkus zu jagen. Es mögen solche Typen darunter sein, aber viel interessanter sind jene, die alles dafür tun, um das Los der Flüchtenden zu erleichtern. Frontex betont nicht ohne Grund, dass das Retten sehr wichtig sei. Darin liegt eine ganz spezielle Pointe:
Wenn eine Organisation über eine derartig ausgetüftelte Überwachungstechnologie wie Frontex verfügt, bleibt ihr natürlich nicht verborgen, wo gerade wieder ein wackeliger Kahn in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Und dank der inzwischen beachtlichen eigenen Flotte kann Frontex entsprechende Hilfe leisten.
Eurosur
Es gibt allerdings Informationen, sogar im deutschen Fernsehen, in denen das Gegenteil behauptet wird. Und es gibt Berichte davon, dass Flüchtlinge aus Libyen zu ihrem Entsetzen von Frontex wieder genau nach Libyen zurück verfrachtet wurden.
Die Überwachung der Grenzen wird immer weiter verfeinert. Im Zeichen der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa hat das EU-Parlament am 10. Oktober 2013 in Strassburg der Einführung des elektronischen Grenzüberwachungssystems Eurosur (European External Border Surveillance System) mit 479 zu 101 Stimmen bei 20 Enthaltungen zugestimmt. Die Kosten für Eurosur beziffert die EU-Kommission auf 340 Millionen Euro.
Die Logik des Schreckens
Organisationen und Aktivisten, die sich für Asylanten einsetzen, neigen dazu, in Frontex einen ganz üblen Haufen zu sehen. Dass es da womöglich fremdenfeindliche Leute gibt, ist aber nicht das eigentliche Problem. Viel gewichtiger ist die Tatsache, dass hinter der europäischen Flüchtlingspolitik eine brutale Logik des Schreckens zum Vorschein kommt.
Diese Logik des Schreckens hat viele Gesichter und Ausprägungen. Man kann nach Lampedusa schauen, zum Fluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei, zu Lagern in Griechenland und Italien, in die Banlieues in Frankreich oder ehemals mittelständischen Stadtviertel in Athen: Abschiebung findet nicht nur an den Grenzen statt, sondern auch bei den in den Aufnahmeländern Angekommenen.
Jenseits des Vorstellungsvermögens
Die Zustände in griechischen und italienischen Lagern sind mehrfach von europäischen Behörden als menschenunwürdig beschrieben worden. Und dieses Wort ist noch zu blass. Wie sollen 146 Männer auf 110 Quadratmetern mit einer Toilette leben? Zu besichtigen an einem Posten der Grenzpolizei in der Evros-Region. Dreck, Gestank, Schikane bis zur Folter, überhaupt die praktizierte Menschenverachtung überschreiten mitteleuropäisches Vorstellungsvermögen.
Und die sozialen Verwerfungen? In Griechenland wird insbesondere eine ohnehin schon durch die Wirtschaftskrise traumatisierte Bevölkerung durch den Zustrom von Migranten, die sich irgendwie über die Runden retten wollen, noch weiter drangsaliert. Wer es geschafft hat, entweder einigermassen komfortabel auf dem Landweg oder unter Lebensgefahr durch den Evros nach Griechenland zu kommen, gerät in eine neue Hölle. Der Journalist Kai Strittmatter schreibt von einer „giftigen Mischung aus Flüchtlingselend und Staatsbankrott“ (Tages-Anzeiger, 13. Januar 2012)
Der Mantel des Schweigens
Zur Logik des Schreckens gehört auch die Tatsache, dass die vergleichsweise reichen Länder im inneren Teil Europas einfach nur froh sind, nicht unmittelbar betroffen zu sein. Welcher Politiker wird mit seinem Einsatz für Migranten riskieren, nationalistische oder rechtsradikale Parteien zu stärken? Da ist der Mantel des Schweigens kleidsamer.
Daher gehört zur Logik des Schreckens auch die Geräuschlosigkeit, mit der Organisationen wie Frontex ihre Arbeit erledigen. Hightech arbeitet nahezu unhörbar, und je weiter im Vorfeld Flüchtlinge aufgespürt werden, desto weniger sichtbar sind sie. Die Ertrunkenen und Gestrandeten sind daher in doppelter Hinsicht Unfälle: Besser ist es, sie gar nicht erst in die wackeligen Boote steigen zu lassen. Das ist die zynische Seite der Logik des Schreckens.
Der Sumpf
Zynismus aber kann sich keiner leisten, der öffentlich gut ankommen will. Daher reden Politiker und die sie begleitenden Medien von den „Schleusern“, denen das Handwerk unbedingt und sofort gelegt werden müsse. Das Ganze erinnert an den „Krieg gegen die Drogen“.
Aber es ist nicht damit getan, sich moralisch über diese durchschaubaren Spiele zu entrüsten. Vielmehr gilt es, zwei sehr bittere Fragen zu stellen: Wie elastisch ist Europa und kann es mit gebrochenen Werten leben? Beide Fragen gehen an die Substanz:
Solange die Zuwanderung marginal war, reichte die Elastizität problemlos aus. Was geschieht aber, wenn durch Zuwanderung auch der materielle Kern Europas, also die Wohlfahrtsstaaten, angenagt werden?
Und was die Frage der Werte betrifft: Wie gut kann Europa damit leben, dass es die Menschenrechte hunderttausendfach mit Füssen tritt, wenn sie von Menschen eingefordert werden, die bei uns nicht auf dem Programm stehen? Können wir weiter die universale Geltung der Menschenrechte behaupten, wenn uns hilflose Flüchtlinge letztlich egal sind?
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(1) Kaspar Surber, An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex, Echtzeit Verlag, Basel 2012