Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass das bequeme Internet und die massenhaft genutzten Mobiltelefone unendlich viele Datenspuren ihrer Nutzer hinterlassen. Und mit ein wenig böser Manipulation dienen die Mobiltelefone auch der direkten akustischen Überwachung, also dem Lauschen.
Der Schock
Dass dieser böse Wille keine Fiktion überspannter Zeitkritiker ist, sondern sich jenseits des Atlantiks in einem sich demokratisch nennenden Staat angesiedelt hat, trifft die Europäer wie ein Schock. Radiert doch Amerika, dieses grosse Vorbild der Freiheit, die Trennlinien zwischen Gut und Böse, Freund und Feind aus, als hätte es sie nie gegeben.
Wie aber tritt man dem mächtigsten Verbündeten deswegen so auf die Füsse, dass er von seinem schändlichen Tun ablässt? Das ist die Frage, über die in Brüssel und den europäischen Hauptstädten fieberhaft diskutiert wird. Was bleibt den Europäern noch, wenn ihre heftigen Proteste ins Leere laufen und bestenfalls lahme Erklärungen bewirken? Bleiben dann nur Resignation oder Zynismus?
„Mein digitaler Verrat“
Der designierte neue Vorsitzende der deutschen FDP hat am Montag, 28. 10. 2013, im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen programmatischen Artikel veröffentlicht: „Freiheit geht vor Freihandel“. Wir Europäer müssten den Amerikanern klarmachen, dass die fundamentalen Bürgerrechte auch die Grundlage der freien Wirtschaft seien, „also müssen Handels- und Bürgerrechtsfragen politisch verbunden werden.“
Nur einen Tag später brachte das Feuilleton der FAZ einen Beitrag des populären und renommierten Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar: „Mein digitaler Verrat“. Darin beschreibt Yogeshwar, wie er zur Vorbereitung einer Talkshow, in der er als Gast auftreten sollte, einige Stunden lang ein präpariertes Handy, das ihn und seine Familie ausspähte, mit sich führte. Wie verändert ein solches Gerät das soziale Klima? Yogeshwar erfüllte dieser „Selbstversuch“ mit blankem Entsetzen.
Angriff der Technik
„Diese Wunderwerke moderner Technik sind zu Verrätern geworden, die wir ständig bei uns tragen, am eigenen Körper“, resümiert Yogeshar. Können wir uns noch frei fühlen und noch frei handeln, wenn wir wissen, dass unser Tun, Sinnen und Trachten irgendwo lesbare Spuren hinterlässt: „Ist es nicht schon zu spät?“ Während Christian Lindner den Kern der Freiheit durch Spionage angegriffen sieht, geht Yogeshwar noch einen Schritt weiter: Die Technik selbst greift uns an – und wir tragen sie am eigenen Körper!
Wie können wir entrinnen? Im Falle der Spionage gibt es eine hypothetische Antwort: Der amerikanische Präsident Barack Obama gesteht Fehler ein, entschuldigt sich und sorgt dafür, dass in Zukunft geheimdienstliche Aktivitäten an den Normen der westlichen Demokratien ausgerichtet werden. Auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich klingt, ist ein solcher Ausweg zumindest denkbar.
Unmenschliche Genauigkeit
Schwieriger wird es schon, wenn der amerikanische Präsident nicht unumschränkt über die Geheimdienste herrscht. Die Präsidenten kommen und gehen, die Geheimdienste aber bleiben. Und sie verfügen seit Jahrzehnten über finanzielle Mittel, die in den Etats des Kongresses unter allen möglichen Rubriken laufen, um das gigantische Ausmass zu verschleiern. Können wir wirklich glauben, dass solche Dienste allein nach der Pfeife des Präsidenten tanzen?
Wer ist also der Ansprechpartner? Noch vertrackter wird diese Frage, wenn wir uns mit Ranga Yogeshwar der Tatsache nähern, dass die moderne Kommunikationstechnik alle ausspäht, die sie nutzen: vom Internet über Ortungsdienste bis zur Mobilfunktechnik. Wer könnte dem Einhalt gebieten? Niemand.
Yogeshwar macht eine interessante Beobachtung: Als er nämlich die Protokolle der Überwachung, die er ja freiwillig über sich ergehen liess, anschaute, merkte er, dass die Art, wie seine Wege, Begegnungen und Gespräche darin festgehalten waren, ihn verdächtig erscheinen liessen. Aus einem Freund, den er trifft, wird im Protokoll eine „Begleitperson“, und aus einem harmlosen Flohmarktbesuch könnte ein Verdacht entstehen: „Die Genauigkeit ist unmenschlich, denn im Protokoll lese ich Gesprächspassagen, die ich selbst inzwischen vergessen habe.“
Der nächste Schritt der Modernisierung
Aber wer sind die Protokollanten? Europa regt sich über die NSA Amerikas auf, und wahrscheinlich sind noch andere Dienste involviert. Wer die Auftraggeber sind, werden die ganz sicher nicht verraten. Die Beobachtungen von Yogeshwar steigern das Unheimliche: Wir wissen nicht einmal mehr, ob es so etwas wie Dienste und Auftraggeber gibt. Da ist nur eine Technik, die jede Grenze niederreisst.
Wenn man aber fragt, was nach der Empörung und allen Protesten kommen wird, öffnet sich der Blick für die simple Tatsache, dass wir es wieder einmal mit einem Schritt auf dem Weg der technischen Entwicklung, der Modernisierung, zu tun haben. Die Technik wird vorangehen, ob es gut ist oder nicht.
Eine alte Unterscheidung gilt heute nicht mehr: Die Technik an sich sei neutral, es komme nur darauf an, wie man sie nutze. – Mit extrem viel und wohl auch weltfremden guten Willen liesse sich diese Unterscheidung noch in Bezug auf geheimdienstliche Abhörpraktiken treffen. Entsprechend würde die Besinnung auf Bürgerrechte den Missbrauch beenden. Realistischer ist es, sich an den Satz Marshall McLuhans zu erinnern: „The Medium is the Message.“
Der Preis
Jede neue Technik, Marshall McLuhan bezeichnet sie als Medium, hat ihre Botschaft, also ihre Wirkung, die sich aus ihr selbst heraus ergibt – unabhängig von den Absichten der Erfinder und Nutzer. So lässt sich sagen: Die Amerikaner hören ab, weil es die Technik dazu gibt, und wir werden auf Schritt und Tritt von wem auch immer ausgespäht, weil die Technik, die wir nutzen, genau das erlaubt.
Wenn der Lärm der Empörung abklingt, sollte die Frage erlaubt sein: Hatten wir wirklich etwas anderes erwartet? Gilt nicht auch hier der Satz: „There´s no such thing as a free lunch“? Im Grunde ist es nur folgerichtig, dass wir auch einen Preis für die gigantische Ausweitung unserer Möglichkeiten und Optionen entrichten müssen. Vieles ist zwar gratis verfügbar, aber es ist eben nicht gratis.
Universeller Verdacht
So hat die Warnung, dass wir aus der Logik der Überwachung heraus alle als Verdächtige erscheinen, ihren guten Sinn. Denn unsere Rechtsordnung beruht auf dem Grundsatz, dass jeder so lange als unschuldig zu gelten hat, bis ihm eine Schuld nachgewiesen ist. Aber die gigantische Ausweitung unserer Möglichkeiten im Cyberspace schlägt auch „Breschen“, wie der Kriminologe Martin Killias das Entstehen neuer Möglichkeiten für kriminelle Aktivitäten nennt. Diese Tatsache rechtfertigt nicht den universellen Verdacht, macht ihn aber plausibel.
Der Preis für die enorme Ausweitung der für jeden zugänglichen Möglichkeiten ist seine Ausspähung: sei es für das Marketing, sei es für die wie auch immer beschaffene „Sicherheit“. Das ist kein ganz neuer Prozess. Schon immer gingen die Entwicklung der Technik, aber auch der staatlichen Institutionen samt ihrer Effizienzsteigerung mit der Einschränkung individueller Freiheit einher. Allgemeine Schulpflicht, Impfzwänge, Krankenversicherung, Führerschein: die Auflagen sind zahllos.
Fratze der Modernisierung
Und es hat seine guten Gründe, dass es immer wieder starke Gegenbewegungen zum Prozess der Industrialisierung und der Unterwerfung unter wirtschaftliche und staatliche Zwänge gab: von der Romantik bis zu Aufrufen wie von Stéphane Hessel, „Indignez-vous!“ Der idealistisch-versponnene Anarchist Gustav Landauer schlug 1919 vor: „Wandern wir aus dem Kapitalismus aus!“ Das blieb natürlich ebenso eine Utopie wie die Ideen der Lebensreformer am Monte Verità.
Aber etwas ist am alteuropäischen ethischen Pathos dran. Die Auslieferung innerer unantastbarer Bezirke an technische Verwertbarkeit ist die Fratze der Modernisierung. Das ist der Preis des Fortschritts, den alle, die diesen Fortschritt nutzen, zu zahlen haben. Alle Kritiker der technisch-wissenschaftlichen Kultur beklagen die Uniformierung. Um so kostbarer wird das Gut der Freiheit. Aber auch in Bezug auf die Freiheit hat sich für die Mehrheit eine Gratismentalität eingenistet: Weil wir in freien Gesellschaften leben, bekommen wir unsere Freiheit kostenlos dazugeschenkt. Das ist eine Illusion.
Freiheit gab es nur sehr selten gratis. Sie musste vielmehr erkämpft und verteidigt werden. Diese Einsicht ging in dem Masse verloren, wie die Bürger als blosse Konsumenten eingeschläfert wurden. Worin besteht heute Bürgerfreiheit und was muss zu ihrer Verteidigung geschehen? Antworten darauf werden nicht die Verteidigungsministerien geben. Hier ist jeder Einzelne gefragt, und die Antworten dürften nicht weniger komplex sein als die Technik, die die Freiheit derzeit in Frage stellt. Nicht jeder wird das verstehen. Und nicht jeder wird auf die Bequemlichkeit der Techniken verzichten wollen, die ihn einlullen. Die anderen werden mit Phantasie an ihrer Freiheit 2.0 arbeiten.