Seit damals haben sich die Lage und die Lebensbedingungen in Frankreichs Problemvororten kaum geändert, ja die Angst im Land vor den gefährlichen Bannmeilen ist sogar eher grösser geworden - und das hat gute Gründe.
Fünf Jahre ist es her, dass Zyed und Bouna, 15 und 17 Jahre alt, sich in Clichy sous Bois auf dem Nachhauseweg von einem Fussballspiel vor der Polizei in ein Transformatorenhäuschen geflüchtet hatten und dort an einem Stromschlag gestorben sind. Danach brannten 20 Tage lang Vorstadtsiedlungen in ganz Frankreich.
Auch an diesem 27. Oktober haben Bewohner von Clichy sous Bois, wie jedes Jahr seit dem tragischen Ereigniss, einen Schweigemarsch organisiert und, wie jedes Jahr, forderten sie auf dem weissen Spruchband an der Spitze des Demonstrationszugs schlicht und einfach eines: Gerechtigkeit.
Eine Lüge
Denn fünf Jahre danach hat es immer noch kein Gerichtsverfahren gegeben. Kaum war der Tod der beiden Jugendlichen damals bekannt geworden, hatte der Premierminister erklärt, die Polizei hätte sie verfolgt, weil sie an einem Einbruch beteiligt gewesen wären. Dies war eine schlichte Lüge.
Und es war ebenso eine Lüge, als der Innenminister behauptete, die Polizei habe sich nichts vorzuwerfen beim Tod der beiden Schüler. Kurz später wurden Aufzeichnungen von Funksprüchen bekannt, die bewiesen, dass mehrere Polizisten sehr wohl wussten, dass die Jugendlichen in dem Transformatorenhäuschen waren und niemand etwas getan hat, um sie zu retten, nicht mal die Elektrizitätsgesellschaft wurde informiert.
Erst jetzt, fünf Jahre später, hat ein Untersuchungsrichter vor zwei Wochen dann doch Anklage gegen zwei Polizisten erhoben wegen unterlassener Hilfelistung. Der dem Justizministerium unterstellte Staatsanwalt aber legte unmittelbar Berufung ein. Die höchsten staatlichen Stellen agieren, als wollten sie die Wahrheit in dieser Affäre mit aller Gewalt unterdrücken .
Fünf Jahre - und fast nichts hat sich geändert
Was hat man nicht an grossen Worten geschwungen nach den Revolten vor fünf Jahren: die Vorstädte müssten absolute Priorität jeder Politik sein, ein Marshallplan sollte aufgelegt werden. Die von algerischen Eltern abstammende ehemalige Vorsitzende der Frauenhilfsorganisation "Ni Putes, ni Soumises", Fadela Amara, selbst in Pariser Vorstädten aufgewachsen, wurde 2007 von Präsident Sarkozy zur Staatssekretärin für Städtebau und die Vororte ernannt - ein schönes Symbol, mehr aber nicht.
Der Marshall Plan wurde ein Plänchen und Fadela Amara schluckte so viele Kröten, dass sie eigentlich hätte schon längst zurücktreten müssen - sie dient zu kaum etwas anderem, als zum Alibi.
"Ich schäme mich, Bürgermeister zu sein"
Clichy sous Bois hat auch fünf Jahre nach den Unruhen immer noch kein Arbeitsamt und immer noch keine zumutbare Verkehrsanbindung - für die 15 Kilometer in die Pariser Stadtmitte brauchen die Bewohner dieser Vorstadt nach wie vor 1 1/2 Stunden. Auch das gemeinsame Polizeikommissariat mit der Nachbarstadt Montfermeil ist erst jetzt, Anfang Oktober, endlich eingeweiht worden. Immerhin haben beide Gemeinden zusammen 60 000 Einwohner.
Der Bürgermeister von Clichy sous Bois ist ein Heiliger. Man muss sich verneigen vor diesem 61jährigen Kinderarzt und Vater von fünf Kindern. Sich verneigen, dass er angesichts der Hoffnungslosigkeit der Situation nicht alles hingeschmissen hat und im jahr 2008 noch einmal zur Wahl angetreten ist.
Dieses Frühjahr hat er in der Presse einen Hilferuf veröffentlicht, der mit den Worten begann: " Ich, Claude Dilain, Bürgermeister von Clichy sous Bois, schäme mich, der hilflose Repräsentant der französischen Republik zu sein." Der Staat hat ihn allein gelassen und er tut, was er kann - aber seine Stadt ist die ärmste ganz Frankreichs, das Steueraufkommen der Gemeinde lächerlich, die sozialen Bedürfnisse aber sind immens.
Die Wut der Menschen hier, sagte Bürgermeister Dilain anlässlich des traurigen fünfjährigen Jubiläums, habe seit 2005 andere Formen angenommen. Die schlimmste für ihn: Mehr als 70% seiner Mitbürger über 18 gehen einfach nicht mehr zur Wahl. So grenzenlos ist die Hoffnungslosigkeit.
Fünf Jahre ist es her, dass es in den Vorstädten gekracht hat - "ca va petter", es wird krachen, sangen die Schüler jetzt in den letzten Oktoberwochen auf den Massendemonstrationen gegen die Rentenreform.
Der Präsident und die starken Worte
Es hat gekracht, doch das französische Establishement will diese Welt der Vorstädte, wo gut ein Zehntel der Bevölkerung des Landes lebt, nicht wahrhaben, weniger denn je, hat man den Eindruck.
Es verleugnet dieses Frankreich schlicht und verpasst keine Gelegenheit, den dort lebenden Franzosen zu spüren zu geben, dass sie eben doch keine richtigen Franzosen sind. Das offizielle Frankreich weigert sich, seine eigene Bevölkerung als Ganzes, so wie sie eben ist, wirklich zu akzeptieren - und sie ist eben längst schon keine weisse, gallische Bevölkerung mehr, sondern sehr gemischt, farbig, dunkel - gerade in den Vorstädten.
Nicolas Sarkozy hat dieser Bevölkerung, erst als Innenminister, dann als Präsident, in den letzten acht Jahren wiederholt den Krieg erklärt - "mit dem Hochdruckreiniger die Vorstädte säubern, das Gesindel wegschaffen", waren seine Worte. Selbst wenn er jüngst in Grenoble der Kriminalität in den Vorstädten den Krieg erklärte, so tat er dies in einem Kontext und auf eine Art und Weise, dass sich die gesamte Bevölkerung der Vorstädte angesprochen fühlte. Und als er bei dieser Gelegenheit auch noch verkündete, die französische Integrationspolitik der letzten fünf Jahrzehnte habe vollständig versagt, klang es, als sei daran vor allem die betroffene Bevölkerung Schuld.
Repression ist alles
Die Muskelspiele des Präsidenten, seine harschen Worte, sein anklagender, ausgestreckter Zeigefinger steigern die Spannungen nur noch zusätzlich. Häufig hat man den Eindruck, Nicolas Sarkozy spielt mit dem Feuer und rüstet in den Tat für den Krieg, den er so gerne erklärt.
Die Polizei, ihre Ausrüstung und ihre Strategien in den Vorstadtghettos haben seit den Unruhen vor fünf Jahren militärischen Charakter bekommen, die Logik der Einsätze und das Verhalten der Polizei dort sind so, als gelte es, auf feindlichem Gebiet zu kämpfen und es zu befrieden.
Drohnen und Hubschrauber können zum Einsatz kommen, die Ausrüstung und das Material der Einsatzkräfte sind auf dem neuesten technologischen Stand. Und bei städtebaulichen Projekten in den Vorstädten, bei Bauvorschriften für Häuser und beim Bau neuer Strassen, redet jetzt die Polizei mit. Sie sorgt zum Beispiel dafür, dass keine Flachdächer mehr gebaut werden dürfen, von denen man Gegenstände auf die Ordnungskräfte werfen könnte.
Wie einst Baron Haussmann, der im 19. Jahrhundert die grossen Achsen und Boulevards durch das historische Paris schlagen liess, in erster Linie, damit bei Aufständen in der Stadt das Militär besser vorankommt.
Polizisten aus aller Herren Länder sind seit den Unruhen 2005 in Frankreichs Vorstädte geströmt, um sich zu informieren, aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien oder Grossbritannien. Bei Europol in Lyon hat man sich der Frage angenommen. Und so mancher aus dem Ausland hat die französischen Kollegen gefragt: Wie redet ihr mit den Leuten dort in den Vororten eigentlich? Habt Ihr in letzter Zeit überhaupt versucht, mit den Bewohnern zu sprechen?
Unverständnis und Stauen war die Antwort auf französischer Seite. Niemand, der zur Polizei gehört, redet in Frankreichs Vorstädten mehr mit den Bewohnern! Und die Jugendlichen dort sehen die Polizei nur noch als zusätzliche gegnerische Bande, die auf ihrem Territorium nichts verloren hat und mit der man sich schlagen muss.
Vom eigenen Land nichts zu erwarten
Für Präsident Sarkozy, der sich nur noch klammheimlich und von hunderten Polizisten bewacht in die Vorstädte seines Landes wagt, ist es eine schallende Ohrfeige, dass ausgerechnet die amerikanische Botschaft in Paris in den letzten fünf Jahren das anerkannt beste Kontaktnetz zu jungen, dynamischen Kräften, zu potentiellen künftigen Entscheidungsträgern in den Bannmeilen französischer Städte aufgebaut hat.
Botschafter Charles Rivkin, ein Freund Obamas, geht in Hemdsärmel zu Kolloquien und Diskussionen an Orte, wo sich kein französischer Politiker mehr hin traut. Hunderte junger Bewohner der Vorstädte hat die US-Botschaft in Paris zu hochkarätigen Studienreisen in die USA eingeladen und wertvolle Kontakte zu ihnen geknüpft.
Eine andere, positive Initiative der letzten Jahre kommt aus der Schweiz. Die von Journalisten der Lausanner Wochenzeitung "L'Hebdo" ins Leben gerufene Initiative des "Bondy-Blogs" ist nach fünf Jahren lebendiger denn je. Die jungen Journalisten aus den Vororten, die dieses Web-Magazin heute betreiben, sind für die nationalen Medien zu einer Referenz geworden. Mehrere Journalisten des Bondy Blogs arbeiten inzwischen regelmässig auch für Radio- und Fernsehstationen.
Die schwedische Autorin Lisa Langseth hat nach den Vorstadtunruhen ein Thetaerstück über Frankreichs Bannmeilen geschrieben, das in Stockholm 2006 mit grossem Erfolg aufgeführt wurde - vier Jahre später kommt es jetzt auch nach Frankreich, in ein kleines Pariser Theater, gerade mal für zwei Tage.
Bürgervereine und Hilofsorganisationen aus Clichy sous Bois wandten sich jetzt, zum Jubiläumstag der Vorstadtunruhen, mit einem offenen Brief nicht etwa an Präsident Sarkozy, sondern an den Präsidenten der EU-Kommission. Darin heisst es, in Anspielung an die heftigen Kontroversen zwischen Frankreich und der EU-Kommission bezüglich der französischen Roma-Politik: " Es ist unsere Pflicht heute laut zu sagen, dass unsere eigene Regierung uns vergisst. Deswegen wenden wir uns an Europa, welches kürzlich dank des Parlaments und der Kommission zu seiner Verantwortung gestanden ist und sich als Garant eines gewissen Gerechtigkeitssinns und des Respekts der Menschen und Völker erwiesen hat. "
Kleine Rache
Wie tief der Graben zwischen den Zentren französischer Städte und den Bannmeilen nach wir vor ist, mag schliesslich auch das Verhältnis zwischen den Medien und den Bewohner der Vorstädte zeigen.
Während der Unruhen schon hatten zum Beispiel CNN und RTL dort gearbeitet, als würden sie aus Bagdad berichten. Sie begaben sich nur mit teuer bezahlten Stringern und Beschützern auf das Terrain. Mit Fernsehkameras kann man auch heute noch vielerorts in den Vorstädten nicht anders als mit Hilfe von Mittelsmänner arbeiten. "Fixeurs" nennen sie sich auf neufranzösisch, sie stellen Kontakte her, besorgen Interviewpartner, begleiten Kamerateams - eine kleine Berufsgattung.
Einer dieser „Fixeurs“ hat jüngst die komplizierten Beziehungen zwischen den französischen Medien und den Vorstädten ad absurdum geführt. Ein erfahrener Journalist einer grossen, seriösen Wochenzeitung musste für die Titelgeschichte einen Artikel über Polygamie schreiben und nahm Kontakt mit dem Mittelsmann auf.
Der Journalist selbst begab sich nie in den Vorort, sei es aus Zeitmangel, sei es aus Furcht. Er liess sich eine Gesprächspartnerin per Telephon vermitteln, welche aus ihrer Erfahrung der Polygamie berichten sollte. Was der Journalist zu hören bekam, war exakt das, was er brauchte und sich wünschte. Das Problem war nur: am anderen Ende der Telefonleitung sass keine geplagte, unterdrückte, aus Afrika stammende Frau, sondern der "Fixeur" persönlich, mit verstellter weiblicher Stimme und vergass nicht, das Telefongespräch auch aufzuzeichnen.
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