Frankreichs Schüler wissen, dass ihr Präsident vor ihnen Angst hat. Seit Wochen drang immer wieder durch, Nicolas Sarkozy habe grosse Sorge, die schwer berechenbare Jugend könne sich der breiten Protestfront gegen die Rentenreform anschliessen – man hörte dies so häufig, dass es schon fast wie eine Einladung an die Schüler klang, es doch zu versuchen.
Kaum hatten die ersten Gymnasiasten tatsächlich ihre Schulgebäude verlassen und sich letzten Dienstag unter die Streikenden und Demonstranten gemischt, trat der Bildungsminister, der gleichzeitig Regierungssprecher ist, in altväterlicher Manier vor die Kameras und ermahnte die Schüler, ihr Platz sei in der Schule und nicht auf der Strasse, betonte, demonstrieren sei gefährlich und appellierte an die Verantwortung der Eltern. Einige seiner Kabinettskollegen warfen den Jugendlichen darüber hinaus noch vor, sie liessen sich manipulieren.
Mehr hatte es nicht gebraucht, schlechter hätte man den Ton nicht treffen können, um sich an 15 - 17 Jährige zu wenden – fürsorglich und paternalistisch gab man sich, so als lebe man noch im Frankreich des Generals De Gaulle. Die Konsequenz: am nächsten Tag waren schon doppelt so viele Gymnasien auf der Strasse und keine 24 Stunden später kam es zu ersten, gewaltsamen Zusammenstössen zwischen Jugendlichen und der Polizei.
Ein so genannter "Flashball", ein Hartgummigeschoss, das mittlerweile zur Grundausstattung der französischen Bereitschaftspolizei gehört, obwohl es Knochen zertrümmern kann, hat einem Schüler wahrscheinlich ein Auge gekostet, ein anderer hat im Getümmel mit Polizisten schwere Schädelverletzungen davongetragen.
Der Pariser Polizeipräfekt musste den Einsatz der Flashballs vorübergehend untersagen, und der Innenminister rief doch tatsächlich die Polizei auf, die Anwendung von Gewalt zu begrenzen, angemessen zu handeln, als sei dies nicht selbstverständlich. Oder muss man diese Äusseruung so verstehen, dass der Intimus des Staatspräsidenten den Ordnungskräften tags zuvor freie Bahn gegeben hatte, kräftig zu knüppeln ?
Jugend contra Polizei
Polizei und Jugendliche haben sich noch nie besonders leiden können, in keinem Land. Doch im Frankreich der Ära Sarkozy ist das Verhältniss zwischen der jungen Generation und den Ordnungskräften seit 2002, seit der heutige Präsident das Innenministerium übernommen hatte, so zerrüttet, wie noch nie.
Alles ist auf Konfrontation angelegt, eine neue Generation junger, durchtrainierter, Furcht erregender Polizisten, ausgerüstet für den Bürgerkrieg, mit arrogantem und kompromisslosem Verhalten, ist zum absoluten Feindbild der französischen Jugend geworden - nicht nur in den Vororten.
Dazu kommt ein Phänomen, das von Jahr zu Jahr problematischer wird. Es gibt in mittleren und grossen französischen Städten heute fast keine Schülerdemonstration mehr, in die sich nicht unmittelbar ein paar Dutzend extrem gewaltbereite Rowdys aus den Vorstadtghettos einschleichen, manche selbst noch Schüler, die meisten junge Arbeitslose, während der Demos nebenbei ein Geschäft plündern, ein paar Mülleimer anzünden, eine Bushaltestelle zertrümmern, ein paar Handys der Demonstranten mitgehen lassen und Polizisten mit Dosen, Steinen und anderen Gegenständen bewerfen, um dann, so schnell, wie sie gekommen waren, auch wieder zu verschwinden - Situationen, in denen es für die Ordnungskräfte zugegebenermassen extrem schwierig ist, angemessen zu handeln und die vor allem Ängste aufkommen lassen, das Ganze könnte auch noch den Charakter von Vorstadtkrawallen bekommen – immerhin befinden sich rund 10% der französischen Gymnasien in den problematischen Bannmeilen.
Sarkozy - der Präsident der Alten
Die junge Generation der Franzosen hat Präsident Sarkozy nicht gewählt. Die, die demonstrieren, schon gar nicht - sie sind zu jung, aber auch - und das ist erschreckend - die heute 30Jährigen sind vor drei Jahren zu einem sehr hohen Prozentsatz einfach nicht zur Wahl gegangen. Und die, die hingingen, haben bei der entscheidenden Stichwahl zu über 60% für die sozialistische Kandiatin, Ségolène Royal votiert. Der Präsident weiss das, und er weiss auch, dass er die Wahl nur gewinnen konnte, weil die über 65Jährigen zu gut 70 % ihre Stimmen ihm gegeben hatten.
Mit anderen Worten: um im Frühjahr 2012 wiedergewählt zu werden, wird Nicolas Sarkozy alles tun, um in erster Linie diese Wählerschicht zufrieden zu stellen. Ob dies für die Zukunft des Landes, für das Allgemeinwohl und das Zusammenleben der Franzosen in ihrer Gesellschaft gut oder schlecht ist, ist völlig egal, was zählt, ist der Machterhalt.
Schwer zu sagen, wie viele Jugendliche sich dieser Tatsache wirklich bewusst sind, doch unterschwellig wissen sie, dass sie von dieser Regierung und diesem Präsidenten nicht viel zu erwarten haben. Seit 3 Jahren sind an den Schulen Zehntausende Lehrerstellen abgebaut und zahlreiche begleitende Programme für schwächere Schüler schlicht gestrichen worden.
Vom grossangekündigten Marshall-Plan für die Vororte, von dem ganz besonders die unterprivilgierten Jugendlichen in den Vorstadtghettos profitieren sollten, ist schon lange nicht mehr die Rede.
Diesen Herbst hat man in einem Land, in dem der Begriff und der Fachbereich Pädagogik so gut wie unbekannt sind und die pädagogische Ausbildung von Lehrern auch bislang schon eine Katastrophe war, das Wenige, das existierte, auch noch abgeschafft.
Im September wurden tatsächlich 14 000 Junglehrer, die direkt von der Universität kamen, erstmals ohne jede Referendarsausbildung auf die Schüler losgelassen - und zudem noch, wie auch bisher schon üblich, an schwierigen Orten und in schwierigen Klassen eingesetzt - für die meisten ein Selbstmordkommando.
Das Ministerium stellt den frischgebackenen Lehrern grosszügig DVDs zur Verfügung, mit deren Hilfe sie lernen sollen, ihren Lehrstoff zu vermitteln und Konflikte zu lösen - und das war es dann.
Die Sorge um die eigenen Söhne
Nein, Präsident Sarkozy hält ganz offensichtlich nicht viel von dem immer wieder bemühten Spruch, wonach die Jugend die Zukunft jeder Gesellschaft sei.
Es sei denn, es geht um die Zukunft seiner eigenen Kinder. Man erinnert sich: seinen 21jährigen Sohn Jean, der so gut wie nichts vorzuweisen hat - ausser dass er eben der Sohn des Präsidenten ist - und mehr schlecht als recht sein Jura-Studium absolviert, ihn wollte der Vater, als lebe das Land tatsächlich in einer Monarchie, zum Präsidenten der EPAD erheben, einer Institution, die für die Verwaltung und den Ausbau des Pariser Manhattans, des Geschäftsviertels LA DEFENSE im Westen der Stadt zuständig ist und über die jährlich Milliarden von Euros fliessen. Selbst Sarkozys politische Freunde brauchten Wochen, um ihm klar zu machen, dass dies wirklich nicht geht.
Und nach der Scheidung von seiner zweiten Frau Cecilia, die das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Louis behielt und mit dem Sohn erst nach Abu Dhabi und dann nach New York gezogen war, machte Präsident Sarkozy den für viele überraschenden, grosszügigen Vorschlag, im Ausland lebende Franzosen sollten von nun an für die teuren französischen Schulen kein Schulgeld mehr bezahlen müssen. Natürlich hat der Präsident dabei in keiner Weise an die Alimente und an seinen eigen Geldbeutel gedacht!
Der Jugendliche - das ungeliebte Wesen
Kaum eine andere Jugend in Europa ist so sehr von Zukunftsängsten geplagt, wie die französische und dies ist eigentlich kein Wunder.
Seit zwei Jahrzehnten schon beklagt man in schöner Regelmässigkeit, dass die Arbeitslosigkeit unter den 18- bis 30Jährigen rund 25 % beträgt, doch grundsätzlich verbessert hat sich nichts, im Gegenteil.
Seit Beginn der Finanzkrise hat sich die Situation sogar noch deutlich verschlechtert. Hunderttausende Berufsanfänger, vor allem dunkelhäutigere Franzosen, haben in den letzten Jahren ihr Glück im Ausland, oft in Grossbritannien versucht.
Frankreich hat uns nichts mehr zu bieten, so der Tenor - ein Land, in dem nur Diplome der Eliteschulen etwas zählen, Lehre und praktische Berufsbildung keinerlei sozialen Stellenwert haben, in dem nur noch Söhne und Töchter aus besseren Elternhäusern eine Chance zu haben scheinen, die sozialen Aufstiegschancen minimal geworden sind. Dass die deprimierte, verängstigte französische Jugend sich jetzt angeblich ausgerechnet um die Rentenreform Sorgen macht, mag zum Schmunzeln verleiten.
Im Grunde ist es für Frankreichs Jugendliche schlicht eine Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen. Zu wissen, dass der Präsident Angst vor ihnen hat, wirkt angesichts der Stimmung im Land einfach beflügelnd.
„ La France s’ennuie“ - Frankreich langweilt sich – lautete die berühmte Schlagzeile der Tageszeitung „Le Monde“ wenige Tage, bevor Mai 68 ausbrach.
Heute, da Präsident Sarkozy seit drei Jahren polarisiert und einzelne Bevölkerungsgruppen reihenweise gegeneinander ausspielt, der Individualismus fröhliche Urstände feiert und die Frage des solidarischen Zusammenlebens in der Gesellschaft so ziemlich die letzte Frage ist, um die sich die politischen Machthaber zu kümmern scheinen, langweilt sich Frankreich keineswegs - es brodelt, kocht und rumort.
Gute Jugendliche
Letzten Freitag, als die gefährliche, angsteinflössende Jugend schon den 3. Tag ihr Unwesen trieb, demonstrierte und die Gymnasien blockierte, empfing Präsident Sarkozy im Elyseepalast eine Reihe von kinderreiche französischen Müttern und verlieh ihnen die „ Familienverdienstmedaille“, Müttern, die mit Sicherheit keine gefährlichen Jugendlichen in die Welt gesetzt haben. Deren Buben tragen kurze, knielange dunkelblaue Hosen, ihre Töchter Schottenröcke, das blonde Haar überwiegt und ist manchmal noch zu Zöpfen geflochten – man lebt hinter altehrwürdigen Mauern der Familienanwesen in Neuilly, Versailles, Rambouillet oder Chateau - Lafitte.
Schade fûr Präsident Sarkozy, dass diese hoffnungsvollen Sprösslinge derart verdienstvoller Mütter nicht wirklich Frankreichs Jugend repräsentieren.