„Frankreich ist eine mittlere Nation mit einer mittelmässigen Nationalmannschaft, die aus mittelmässigen Spielern besteht.“ So kommentierte „L'Equipe“, die legendäre französische Sportzeitung das letzte Gruppenspiel der Nationalmannschaft. Es war das schlechteste, das ein Team bei dieser Fussball-EM zu bieten gewagt hatte.
Was war das, dieser Auftritt der elf Blauen, diesmal ganz in Weiss, an jenem warmen Dienstagabend in Kiew? Ein Theaterstück zum Thema Selbstgenügsamkeit, Überheblichkeit und Arroganz? Vielleicht. Und das verlorene Viertelfinale gegen Spanien? Das langweiligste aller Spiele bisher, bei dem die Franzosen praktisch nie den Eindruck gemacht haben, als wollten sie wirklich gewinnen. Es war so, als hätten viele von ihnen Wichtigeres zu tun, als sich bei den heissen Temperaturen im fernen Osten Europas noch weiter abzumühen. Das Schlimmste dabei: Nach dem Spielende und dem Ausscheiden im Viertelfinale waren viele der Ball tretenden Herrschaften mit sich durchaus zufrieden, überzeugt, sie hätten Passables abgeliefert und Positives gezeigt. Frankreichs Kommentatorenschar rieb sich nur noch verwundert die Augen.
Das Gespenst von Knysna Ein Teil der französischen Mannschaft hat sich in diesen beiden letzten Spielen verhalten, als müsse alle Welt dankbar dafür sein, dass sie den Mannschaftsbus, anders als vor zwei Jahren im südafrikanischen Knysna, diesmal überhaupt verlassen hat, um die vergoldeten Beine über den ukrainischen Rasen zu bewegen.
Das Spiel gegen Schweden, das sie fast ohne jede Gegenwehr einfach aus der Hand gegeben hatten und eine Geste des Mittelfeldtalents Samir Nasri im Eröffnungsmatch gegen England haben ausgereicht, um die Dämonen des französischen Fiaskos bei der WM 2010 wieder heraufzubeschwören. Damals, als ein Nicolas Anelka als Sturmspitze am gegnerischen Strafraum meistens nur spazierenging, verständnislos ins weite Rund glotzte, den Trainer beschimpfte und die Truppe am Ende den Aufstand probte und den Trainingsstreik verkündete. Schon liegt wieder der schwere Verdacht in der Luft, dass eine ähnlich gestrickte Anhäufung von schlecht erzogenen Individualisten, diesmal im Besonderen die Böse-Buben-Generation des Jahrgangs 1987, die Herren Samir Nasri, Haten Ben Arfa und Karim Benzema, mit dem Schicksal der französischen Nationalmannschaft kaum etwas am Hut haben. In ihren Vereinen allerdings sind sie hervorragende Individualisten, begnadete Techniker, perfekte Ballhalter, gelegentlich geniale Torschützen. In erster Linie aber sind sie mit dem Streicheln ihres eigenen Egos und dem Management ihrer Karrieren in den internationalen Spitzenclubs beschäftigt. Diese Teilnahme an der EM schien für sie ein lästiges Muss und mehr nicht. Sie verhielten sich nach dem Motto: Je früher dieser EM-Trip vorbei ist, desto länger kann man sich an irgendeinen Pool in irgendeinem Fünf-Sterne-Hotel sonnen, bevor das Training in den spanischen, italienischen und englischen Spitzenclubs wieder beginnt, wo einer wie der 25-jährige Samir Nasri bei Manchester City monatlich fast eine Million Euro verdient.
Nachdem der in einer Marseiller Vorstadt grossgewordene Nasri im 1. Gruppenspiel gegen England das französische Tor zum Unentschieden beigesteuert hatte, lief er nicht etwa jubelnd zu seinen Mitspielern, sondern an den Spielfeldrand, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, durch die immer wieder der Satz drang: „Ferme ta gueule – Halt Deine Schnauze“, gerichtet an die Pressetribüne, wo Vincent Deluc von „L'Equipe“, der mindestens schon fünf Europameisterschaften auf dem Buckel hat, sich angesprochen fühlen durfte. Der altgediente Sportjournalist hatte es gewagt, Nasris bisherige Leistungen in der französischen Nationalmannschaft vor der Europameisterschaft infrage zu stellen, was im Kopf des begnadeten Balltreters offensichtlich einer Majestätsbeleidigung gleichkam. Deswegen beendete Monsieur Nasri seinen EM Auftritt dann wohl auch noch, wie er ihn begonnen hatte. Nach seiner katastrophalen Darbietung beim 0:2 gegen Schweden und seines nur 25-minütigen Auftritts zum Schluss des Viertelfinales, hatte ein Journalist gewagt, ihn nach einer Einschätzung des Spiels zu fragen. Daraufhin war er von dem millionenschweren Flegel als Hurensohn und Motherfucker beschimpft und aufgefordert worden, das Problem doch draussen vor dem Stadion zu regeln.
Das Problem für Frankreichs Nationalmannschaft: Nasri ist kein Einzelfall, mindestens ein halbes Dutzend seiner Mitspieler in der Equipe Tricolore sind zu ähnlichem Verhalten fähig. Wir ersparen uns die vollständige Liste der Entgleisungen.
Ein Spiel gewinnen Laurent Blanc jedenfalls, Frankreichs Teamchef, der sich in der heissen Ukraine dem unsinnigen Krawattenzwang unterworfen hatte und mit dem Stück Stoff um den Hals am Spielfeldrand noch miesepetriger dreinblickte, als er das ohnehin schon tut, wusste offensichtlich vor zwei Jahren von Anfang an und auch noch kurz vor dieser EM ziemlich genau, mit was für einem Haufen er es zu tun hat.
Leider hatten das bei der EM schon fast alle wieder vergessen, nur weil man im 2. Gruppenspiel den Gastgeber Ukraine mit 2:0 bezwungen hatte, und – zugegebenermassen - die Statistik von 23 Spielen in Folge ohne Niederlage auf den ersten Blick nicht so schlecht war. Aber eben wirklich nur auf den ersten Blick. Drei Dinge hatte der Weltmeisterlibero von 1998, den sie damals „Le Président“ nannten, in den letzten zwanzig Monaten über Zustand und Perspektiven seiner Nationalmannschaft von sich gegeben.
Zunächst hat er, beim Amtsantritt nach dem WM-Fiasko der Vorgängertruppe in Südafrika, den Satz in die Notizbücher diktiert: Um wieder ein wirklich grosses Tricolore-Team aufzubauen, braucht es ungefähr ein Jahrzehnt – unser Ziel ist bestenfalls die EM 2016 in Frankreich.
Zweitens sagte er, noch vor wenigen Wochen: Wir fahren zu dieser EM nach Polen und in die Ukraine, um ein Spiel zu gewinnen! Damals hat das jeder als übertriebenes Understatement abgetan. Doch Laurent Blanc hat Recht behalten.
Drittens hatte er dann noch hinzugefügt: Eine Qualifikation für das Viertelfinale schiene ihm realistisch. Auch da hat er Recht behalten – mit Hängen und Würgen haben seine Schützlinge es geschafft.
Aber das Wie, dieses völlige Sich-Aufgeben, das Fehlen jedes Lichtblicks, das sinnlose Anrennen seiner Truppe, das geistlos-plumpe Gewerkele der schwergewichtigen Zentralabwehr, diese Mischung aus Lustlosigkeit und Hilflosigkeit - es war niederschmetternd. Sie haben das Spiel gegen Schweden wie ein verschwitztes Trikot aus der Hand gegeben, einfach so und sind das Viertelfinale gegen Spanien angegangen, als gäbe es da ohnehin nichts zu holen.
Es ist kein Plädoyer für den Spruch der Altvorderen, der da lautete: Elf Freunde müsst ihr sein. Geschenkt – niemand erwartet Derartiges in Zeiten des überkandidelten Individualismus.
Aber, wie das bei Mannschaftssport eben so ist, irgendwo braucht es ein Minimum - und ein Maximum ist für den Erfolg wahrscheinlich dienlicher - an Gemeinsamkeit und kollektivem Willen. Für die Hälfte dieser französischen Nationalmannschaft scheinen solche Begriffe jedoch nur unverständliche Fremdwörter zu sein.
Le Vivre-Ensemble In den langen Monaten der französischen Wahlkämpfe vor dieser EM ist im französischen Wortschatz ein neues Substantiv aufgetaucht. Es hat Eingang in die Sprache der Politiker und der Medien gefunden: „Le Vivre-Ensemble“ - das Zusammenleben. Ein schlichtes, selbstverständliches Hauptwort, das im Französischen aber erst noch geschaffen werden musste, weil das, was es bezeichnet, in den letzten Jahren zu einem Problem geworden ist, über das es zu reden gilt, dem die Gesellschaft dringend beikommen sollte.
Denn es ist ein Fakt: Das Zusammenleben der einen und der anderen Franzosen versteht sich heute nicht mehr von selbst. Schleichend, aber beständig haben über gut zwei Jahrzehnte hinweg die kleinen und grösseren Spannungen im Alltag zwischen den Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Abstammung und den sogenannten „Galliern“ ein Ausmass angenommen, das das normale Zusammenleben vielerorts zu einem Problem werden liess.
Die Arroganz und Flegelhaftigkeit von 15- bis 30-Jährigen, die respektiert zu werden fordern und die selbst die Respektlosigkeit gegenüber ihrer nächsten Umgebung zu einem ihrer charakteristische Züge auserkoren haben, ist zu einem hochexplosives Cocktail in der französischen Gesellschaft geworden.
Das Land hat es zu tun mit einer Generation von jungen Franzosen nord- und schwarzafrikanischer Abstammung, die – vor dem Hintergrund einer Kolonialvergangenheit - das friedliche, oft unterwürfige Verhalten ihrer Eltern und Grosseltern, die Frankreich nach dem 2. Weltkrieg und nach dem Algerienkrieg massgeblich mitaufgebaut haben, definitiv nicht mehr ertragen und jetzt im Alltag das krasse Gegenteil vorexerzieren. Es ist eine Generation, die die jahrelangen, alltäglichen Diskriminierungen nicht mehr so einfach zu schlucken bereit ist. Die Art und Weise ihres individuellen Protestes führt sie in der französischen Gesellschaft jedoch überwiegend in eine spannungsgeladene Sackgasse.
Und dieser Bruch im Verhalten der Generationen findet eben auch in der französischen Fussballnationalmannschaft ihren Niederschlag. Niemals hätte man vor 10 oder 15 Jahren Derartiges über die Generation des Zinedine Zidane, Lilian Thuram oder Patrick Veira schreiben können. Das politisch korrekte Getöse über das beispielhafte Integrationsmodell des französischen Fussballs, als die bunt gemischte Nationalmannschaft 1998 Weltmeister geworden war und „Black, Blanc, Beur“ zur geheiligten Parole erkoren wurde, hatte man damals schon nur mit Mühe nachvollziehen können. Schliesslich war die Realität in den Vorstadtghettos und die alltägliche Diskriminierung der dunkelhäutigen Franzosen im Land deswegen um kein Stück besser geworden. Doch die Generation des heute 40-jährigen Zinedine Zidane liess zu ihrer Zeit jedenfalls nicht einen Augenblick lang den Verdacht aufkommen , sie würde sich nicht mit Haut und Haaren engagieren und – um es platt zu sagen – im Trikot der Nationalmannschaft für Frankreich spielen. Für die nachfolgende Generation trifft das schlicht nicht mehr zu. Dies ist nicht nur für den französischen Fussball ernüchternd.
Nationalmannschaft ohne Fans Ein Phänomen am Rande dieser EM spricht in diesem Zusammenhang Bände. Spätestens nach dem Schwedenspiel war man sich in Frankreich plötzlich bewusst geworden, dass das Tricolore-Team in der Ukraine praktisch ohne Schlachtenbummler unterwegs war! Geradezu pathetisch zu sehen, wie französische Reporter in Kiew, Donetzk und anderswo auf die Suche nach französischen Fans gingen und wie begossene Pudel wieder zurückkamen. 15‘000 Anhänger waren aus dem bevölkerungsarmen Schweden zum letzten Gruppenspiel ins Stadion nach Kiew gekommen, gerade mal tausend aus dem 65 Millionen Einwohner-Land Frankreich. Selbst die portugiesischen Fans, deren Anfahrtsweg noch um einiges weiter war, deckten im Eröffnungsspiel der Gruppe mit ihrem Rot das Blau-Weiss-Rote aus Frankreich problemlos zu. Fans der französischen Fussballnationalmannschaft waren bei dieser EM in den Stadien schlicht das Gespött aller gegnerischen Fans. Auch da ist nichts mehr schön zu reden: In dieser französischen Gesellschaft, durch die so viele Risse gehen, ist zwischen der Fussballnationalmannschaft und ihren Anhängern bereits seit Jahren ein Graben aufgebrochen, der nur schwer zuzuschütten sein wird.
All dies ist nebenbei auch noch Wasser auf die Mühlen von Marine Le Pen, ihrer rechtsextremen Partei und ihrer 6,4 Millionen Wähler bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Auch deswegen waren das 0:2 der französischen Fussballnationalmannschaft gegen Schweden und das indiskutable Verhalten einzelner Akteure danach sowie die Art und Weise des Ausscheidens im Viertellfinale gegen Spanien so bedeutend. Auch deswegen kann man es sich nicht leisten, über den Fussball einfach die Nase zu rümpfen. Dafür ist - ob das gefällt oder nicht - seine Rolle in unserer Gesellschaft viel zu wichtig. Denn in ihm und in seinem Umfeld spiegelt sich so vieles wieder, was in diesem Land schief läuft.