Seit 1994 war Frank Schirrmacher als Nachfolger von Joachim Fest im Kreis der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In seinen Zuständigkeitsbereich fiel das Feuilleton. Von dieser Funktion aus gab er der Zeitung Impulse, die man diesem bürgerlich-konservativen Blatt nicht zugetraut hätte.
Das Wächteramt
Schirrmacher griff Themen auf, die latent in der Luft lagen, und durchdachte sie ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Manche hielten ihn für links, was soviel bedeuten sollte, dass er eigentlich nicht so recht zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung passe. Man kann sich auch gut vorstellen, wie in Redaktionskonferenzen die Fetzen flogen, wenn sich zum Beispiel manche Kollegen in der Wirtschaftsredaktion auf den Schlips getreten fühlten.
Die Geisteshaltung von Schirrmacher aber war nicht links. Was er tat, war etwas, was kluge Beobachter des deutschen politischen Geisteslebens am Konservatismus jahrzehntelang vermisst hatten und einforderten: unvoreingenommen, also ohne vorgefasste ideologische Meinung die Trends der Gegenwart daraufhin zu befragen, wohin sie uns führen. Man könnte dies ein Amt, ein Wächteramt nennen. Schirrmacher nahm es wie kein Zweiter wahr.
Was uns bevorsteht
Den Lesern der FAZ war er nicht nur durch seine eigenen Beiträge präsent. Er stiess auch Debatten an, die oft über Wochen in der FAZ ausgetragen wurden. In welcher Weise verändert die moderne Neurobiologie unser Menschenbild und unser Selbstverständnis?, war eines der Themen. Oder es ging um die Folgen der Technik im Mikrobereich, die sogenannten Nanoboter. Und Schirrmacher beschäftigte sich eindringlich mit den Wirkungen der Informationstechnologie. Wir stünden am Beginn einer technisch-gesellschaftlichen Revolution, deren Folgen wir auch nicht annäherungsweise erahnen könnten, sagte er vor kurzem.
Für diese Debatten konnte er stets die renommiertesten internationalen Experten gewinnen. Dabei kannte er keine Schauklappen. Schirrmacher war es, der David Graeber, der der Occupy-Bewegung die Argumente liefert, in der FAZ breiten Raum einräumte, um seine Thesen zu den Schulden in den vergangenen 5000 Jahren zu erläutern. Als Schirrmacher in einem Interview vorgehalten wurde, er habe die Verstaatlichung der Banken gefordert, antwortete er trocken: „Das war nicht ich, das waren Banker.“
Die Bestseller
Aber auch im Kerngebiet des Feuilletons, der Literatur, liess er sich nicht von Tabus schrecken. Als 2006 in Frankreich Jonathan Littell seinen Roman, Les Bienveillantes, veröffentlicht hatte, der die Geschehnisse an der Ostfront während des Zweiten Weltkriegs in einer neuen Brechung provokant beleuchtete und damit einen unerwarteten Bucherfolg hatte, richtete Schirrmacher zum Erscheinen der deutschen Ausgabe in der FAZ zum ersten Mal einen „Reading Room“ ein.
Schirrmachers Wirken ging über die Frankfurter Allgemeine Zeitung weit hinaus. Den grossen gesellschaftlichen Themen, die er früher als seine Kollegen erfasste, widmete er Bücher, die regelmässig zu Bestsellern wurden: das Problem der Alterung der Gesellschaft, „Das Methusalem-Komplott“ 2004, die Diktatur der so freundlich daherkommenden Informationstechnologien, „Payback“ 2009, und die gesellschaftliche Herrschaft des rationalen Egoisten, „Ego“ 2013. In diesen Büchern erwies sich Schirrmacher nicht nur als ein Analytiker, der seinesgleichen sucht, sondern auch als ein Erzähler, der den Leser unmittelbar anspricht.
Immer wieder ist Schirrmacher ausgezeichnet worden, 2004 als „Journalist des Jahres“, 2007 Jacob-Grimm-Preis, 2009 Ludwig-Börne Preis. Und er war auch ein gefragter Laudator. Oft wurde er als prägende Gestalt des geistigen Lebens in Deutschland bezeichnet. Wenn man bedenkt, wie sehr er uns fehlen wird, klingt das wie eine Untertreibung.