Regierung und führende Politiker der herrschenden rechtsnationalen PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) schiessen sich immer mehr auf die Flüchtlingsfrage ein. Sie weigern sich beharrlich, die von der Vorgängerregierung zugesagte Aufnahme von 7‘200 Flüchtlingen aus den überlasteten EU-Ländern Italien und Griechenland umzusetzen.
Verbale Attacke der Premierministerin
Einen dramatischen Akzent setzte vor knapp zwei Wochen die Premierministerin Beata Szydlo. Bei einer Parlamentssitzung, bei der es eigentlich um die Forderung der Opposition nach dem Rücktritt des umstrittenen Verteidigungsministers ging, schoss sie aus allen Rohren. Man werde nicht bei den Verrücktheiten der Brüsseler Eliten mitmachen. Europa solle sich von den Knien erheben. In Anlehnung an die Manchester-Terrorattacke sagte sie: „Die Regierung wird nicht zulassen, dass polnische Kinder nicht mehr sicher zu den Klubs, den Spielplätzen und zur Schule gehen können.“
Man werde sich auch nicht von Brüssel erpressen lassen, meinte sie zu den angedrohten Sanktionen.
Die Rede der Premierministerin, die ich während meines kürzlichen Polenaufenthaltes am Fernsehen verfolgen konnte, setzte einen neuen Höhepunkt der Anti-Immigrationskampagne des PiS-Lagers. Der Parteivorsitzende und eigentliche Chef, Jaroslaw Kaczynski, gratulierte ihr am Schluss demonstrativ zur Rede. Oppositionsabgeordnete riefen hingegen „Hanba“ (Schande) oder „Wstyd“ (Scham).
„Das ist wieder typisch. Die PiS instrumentalisiert die Flüchtlingsfrage schamlos seit langem für ihre eigenen politischen Zwecke. Und da sie jetzt mehr unter Druck steht, wird umso heftiger auf die Pauke gehauen.“ Arkadiusz Cybuch ist Kaderangestellter bei einer Bank in Krakau, politisch interessiert und der PiS gegenüber kritisch eingestellt. Seine Frau Aleksandra, eine bekannte Kinderbuchillustratorin, ergänzt, sie könne der Szydlo nicht mehr zuhören und heute habe sie besonders aggressiv gewirkt.
Die Rede der Premierministerin fand ein grosses Echo. Aufgrund der starken politischen Polarisierung fielen die Reaktionen der Politiker und der Medien sehr unterschiedlich aus. Die rechtsdominierten Medien, insbesondere die staatlichen Fernsehsender, lobten Szydlo. Die neutralen und vor allem die PiS-kritischen Medien, die in Polen immer noch vorherrschen, beurteilten die Rede negativ. Die Gazeta Wyborcza, das Flagschiff der Opposition, sprach sogar von verbalem Terror und ein Abgeordneter der grössten Oppositionspartei der PO (Bürgerverständigung) meinte, Szydlo sei bei ihrem Auftritt so etwas wie die polnische Le Pen gewesen.
Restriktive Flüchtlingspolitik
Die nationalkonservative PiS betreibt seit der Machtübernahme im Herbst 2015 eine restriktive Flüchtlingspolitik. Schon im Wahlkampf hatte sie sich intensiv gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen und damit wichtige Punkte holen können. Kaczynski hatte beispielsweise vor ansteckenden Krankheiten und Parasiten gewarnt, denen die PolInnen ausgeliefert wären.
Die Statistik spricht eine deutliche Sprache. 2016 wurden von über 11‘000 Asylgesuchen nur knapp 390 angenommen. Darunter befanden sich gerade mal 43 syrische Staatsangehörige. Allerdings waren auch in den Jahren davor nur wenige Asylgesuche anerkannt worden. Die meisten der Gesuchsteller waren in andere Länder weitergereist. Rund vier Fünftel der noch hängigen Gesuche wurden abgelehnt, da es sich um Wirtschaftsflüchtlinge gehandelt habe. 2015, im letzten Regierungsjahr der PO, waren allerdings mit 262 Personen etwas mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen werden als 2016.
Die PiS verschärfte seit ihrem Regierungsantritt kontinuierlich ihren Anti-Immigrationskurs. Zuerst war noch nicht von einer völligen Ablehnung der zugesagten Aufnahmen die Rede, sondern nur eine sehr eingehende Überprüfung angekündigt worden. Zunehmend wurden dann neben praktischen Belangen Sicherheitsbedenken in den Vordergrund gerückt. Der EU wurde schliesslich generell eine verfehlte Flüchtlingspolitik vorgeworfen, an der man sich nicht beteiligen wolle.
Flüchtlinge nicht willkommen
„Ich bin nicht gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen. Aber diese müssen auf jeden Fall so überprüft werden können, dass sicher keine Terroristen darunter sind. Und dann müssen sie bei uns auch integriert werden können.“ Zosia Kachlik hat eben die Matura abgeschlossen und bezeichnet sich selbst als polnische Patriotin mit rechtsgerichteten politischen Einstellungen. Ihre Mutter Beata, Rechtskonsulentin bei der Stadt Krakau, positioniert sich hingegen linksliberal. Das macht politische Diskussionen wie in vielen andern polnischen Familien nicht gerade einfach. Sie findet, das Abkommen müsse umgesetzt werden, Verträge gelten nun mal. Man könne auch die EU nicht einfach so vor den Kopf stossen.
Mit dieser Ansicht gehört Beata allerdings nach der neusten Umfrage von Ende Mai zu einer Minderheit.
Nur 25 Prozent sprachen sich dafür aus, Flüchtlinge aus muslimischen Ländern aufzunehmen. 70 Prozent waren dagegen: 45 Prozent sogar entschieden, 25 Prozent eher dagegen. Knapp zwei Drittel waren auch dieser Meinung, falls Polen dadurch Geld von der EU verlieren würde. Unter den PiS-Anhängern betrug der Anteil sogar 86 Prozent. Nur die Anhänger der beiden grössten Oppositionspartien, der konservativ-liberalen PO und der liberalen Nowoczesna, waren mehrheitlich für eine Aufnahme.
Vor zwei Jahren fiel die generelle Einstellung gegenüber Flüchtlingen noch ganz anders aus. Im Mai 2015 gaben 72 Prozent an, die Aufnahme von Flüchtlingen aus Ländern mit bewaffneten Konflikten zu unterstützen. Danach sank die Unterstützung von Monat zu Monat und erreichte bereits im Januar 2016 nur noch 39 Prozent. Vor allem junge und weniger gebildete Befragte waren negativ eingestellt.
Verbreitete Ängste
Wie in vielen Ländern Europas führte die starke Zunahme der Flüchtlingsströme auch in Polen zu vermehrten Ängsten vor möglichen negativen Folgen – allerdings in besonderem Masse.
Bereits vor den Wahlen zeigte eine Untersuchung, dass junge Erwachsene zu zwei Dritteln befürchteten, dass Flüchtlinge zu einem Anstieg der Kriminalität beitragen würden. Und eine Studie vom Herbst 2015 zeigte auf, dass die Einstellung gegenüber Muslimen, den Hauptbetroffenen der Flüchtlingskrise, überwiegend negativ war. So betrachteten beispielsweise mehr als die Hälfte der Befragten Muslime als Gefahr für die kulturelle Identität und die Sicherheit Polens. In dieses Bild passt auch die Tatsache, dass die konkrete Bereitschaft, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika aufzunehmen, schon vor zwei Jahren mit gut einem Drittel aller Befragten nicht viel ausgeprägter war, als sie es aktuell ist.
Dabei leben in Polen nur etwa 10‘000–15‘000 Muslime, die meisten stammen aus den zentralasiatischen Republiken Russlands und fallen kaum auf. Zur Erklärung der dominierenden negativen Einstellung sind vor allem zwei Faktoren anzuführen.
Erstens sind sicher aktuelle Tendenzen in den Medien mitverantwortlich. Vor allem in den rechtsdominierten Medien wurde ein negatives Bild von Flüchtlingen, besonders von muslimischen Flüchtlingen und vom Islam generell vermittelt. Aber auch in den anderen Medien entstand Experten zufolge ein einseitiges Bild, allein schon durch die grosse Zahl von oberflächlichen Berichten über islamischen Fundamentalismus und Terrorattacken. Die Folge war die Entstehung einer neuen Art von „Islamophobie“ – ein Phänomen, das wir nicht nur aus Polen kennen.
Zweitens sind tieferliegende, historisch bedingte Mentalitätsmerkmale anzuführen. Wie Untersuchungen aufzeigten, haben die Polen im internationalen Vergleich ein sehr geringes soziales Vertrauen. Sie sind entsprechend Fremden gegenüber reserviert, besonders wenn sie kulturell verschieden sind. Man vertraut der eigenen Familie und dem engeren Bekanntenkreis. Gesellschaftlich identifiziert man sich vor allem mit der polnischen Nation, die man als sehr eigenständig wahrnimmt und auf die man überwiegend stolz ist. Dies ist auf dem Hintergrund der von fremder Unterdrückung und Kriegen geprägten Geschichte der letzten 150 Jahre eigentlich keine Überraschung.
So ist auch verständlich, dass Sicherheit einen wichtigen Wert darstellt. Umfragen haben nun gezeigt, dass die Polen gerade in diesem Bereich enorme Verbesserungen wahrgenommen haben. Waren 2001 nur 18 Prozent der Meinung, sie würden in einem sicheren Land leben, waren es 2011 bereits 75 Prozent und in diesem Jahr sogar 89 Prozent. Da möchte man auch mögliche neue Risiken vermeiden.
Das regierende PiS-Lager nutzt diese Situation aus. Es spielt sich als entschlossener Verteidiger auf, der das polnische Volk gegen die so oft beschworenen grossen Gefahren einer Migration beschützen müsse. Das scheint zu wirken. In einer Umfrage vom letzten April wurden mit Abstand Flüchtlingsströme nach Polen und Terroranschläge als die Bereiche bezeichnet, vor denen man am meisten Angst hat, weit vor der Angst vor einem neuen Krieg und einer Verarmung im Alter.
Wenig Unterstützung für eine aktive Migrationspolitik
Allerdings wäre es wohl übertrieben, von einer eigentlichen Xenophobie auszugehen. In den Gesprächen habe ich den Eindruck gewonnen, dass viele Leute einfach stark verunsichert sind. Ein Taxifahrer in Krakau meinte beispielsweise, man sollte wohl schon Flüchtlinge aufnehmen, die seien ja oft sehr schlimm dran, aber sicher nicht viele, das könne man sich nicht leisten. Oft hörte ich auch, es wäre wohl besser, vor Ort direkt zu helfen. Dieses Argument wird von der Regierung ebenfalls immer wieder vorgebracht. Dass dies für sie vor allem eine Ausrede ist, zeigt sich unter anderem darin, dass dafür nur sehr kleine Summen locker gemacht worden sind.
Die meisten Politiker ausserhalb des PiS-Lagers reagieren in der jetzigen angespannten Situation opportunistisch. Vor allem die grösste Oppositionspartei PO fährt alles andere als einen klaren Kurs. Ihr Vorsitzender, Grzegorz Schetyna, musste zum Beispiel nach einer Aussage, man sei nicht dafür, einfach Flüchtlinge aufzunehmen, wieder zurückbuchstabieren. Natürlich wolle man die zugesagten Flüchtlinge schon aufnehmen. Und der PO-Fraktionsvorsitzende gab in einer Fernsehdebatte sozusagen Ratschläge, wie man aufgrund spezifischer Vertragsbestimmungen vor allem „harmlose“ Flüchtlinge wie Mütter mit Kindern nach Polen holen könne.
Klar für eine solidarische Flüchtlingspolitik spricht sich nur die linke Kleinpartei Razem aus. Die liberale Partei Nowoczesna hat in ihr kürzlich verabschiedetes Programm eine relativ offene Migrationspolitik aufgenommen.
Auch die katholische Kirche ist offiziell für eine Aufnahme von Flüchtlingen, obwohl sie mit ihrem traditionalistischen, national ausgerichteten Kurs viel zur negativen Einstellung gegenüber Andersgläubigen beigetragen hat. Einzelne Bischöfe nahmen sogar klar Stellung. Tadeusz Pieronek formulierte in einem kürzlichen Interview lapidar, echte Christen seien für die Aufnahme von Flüchtlingen.
Kazimierz Kucharski wäre dann wohl so ein echter Christ. Er wohnt seit einiger Zeit in einem kleinen Dorf in Südostpolen, einer Hochburg der PiS. Er ist über 90 und körperlich wie geistig in einem beneidenswerten Zustand. „Uns Polen ist in vielen Situationen geholfen worden. Es ist nicht mehr als recht und billig, wenn wir jetzt mit der Flüchtlingsaufnahme auch andern helfen. Und was sind schon 7‘200 Personen, wir sind ja 38 Millionen hier in Polen.“