Dass Finnland seine Unabhängigkeit ein „Wunder“ nennt, tönt für Schweizer erstaunlich. Und dass die in diesem Jahr gefeierte Staatsgründung 100 Jahre zurückliegt, würden wir wohl mit einem „bloss“ ergänzen.
Aber das im Norden zwischen traditionellen Mächten eingeklemmte Volk nutzte 1917 eine kurze Chance für seine Unabhängigkeitserklärung. Das Deutsche Reich war damals durch die Niederlage im Weltkrieg geschwächt und Lenin hatte in der Oktoberrevolution gerade das Zarenreich gestürzt. Die Unabhängigkeit wurde 1917 zwar ausgerufen. Aber die Bewährungsprobe folgte im Zweiten Weltkrieg, wo man für den neuen Status kämpfen und nachträglich einen hohen Preis bezahlen musste. Ein Rückblick im Jahr 2017 ist daher angebracht.
Selbstbewusste Bürger, eigene Sprache
Finnland gehörte während 600 Jahren zur Herrschaft des schwedischen Königs, der das Land kolonisierte und als Lieferant von Kriegern für seine europäische Machtpolitik nutzte. Mehr als 100 Jahre unterstanden die Finnen den russischen Zaren, was für die loyale Region im Westen des Reiches eine ruhigere Periode war. Die mehr als tausend Kilometer lange Landgrenze mit der Sowjetunion bildete dagegen nach 1917 eine Gefahrenzone, weil der Kommunismus sich in der ganzen Welt ausbreiten wollte und in der starken kommunistischen Partei Finnlands einen gefährlichen Gehilfen hatte.
Das russische Grossfürstentum Finnland hätte 1917 aber nicht die Unabhängigkeit erklären können, wenn dieser Teil des Zarenreiches nicht zum weitgehend selbständigen Staat geworden wäre mit selbstbewussten Bürgern und eigener Sprache. Das machtpolitische Umfeld gewährte 1917 zudem etwas Spielraum und der finnische Bürgerkrieg zwischen den bürgerlichen Weissen und den kommunistischen Roten provozierte ausländische Einflussnahme.
Das Deutsche Reich eilte den Weissen im finnischen Bürgerkrieg 1917 noch mit Truppen zu Hilfe, bevor seine Macht durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg geschwächt wurde. 300 Kilometer östlich von Helsinki machte Lenin damals Sankt Petersburg in der Oktober-Revolution zum künftigen Leningrad. Er war so sehr mit der Machtübernahme beschäftigt, dass er den finnischen Roten statt Truppen nur Ratschläge und einen mit Waffen und Munition beladenen Eisenbahnzug schicken konnte. Aber die Schwäche dieser Nachbarn hielt nicht an und die Ausrufung der Unabhängigkeit wäre schon Monate später kaum noch möglich gewesen.
„Die Unabhängigkeit geschenkt“
Umso mehr überraschte den Besucher im Smolny-Palast des kommunistischen Leningrads ein goldglänzendes Relief, auf dem das finnische Volk dem kommunistischen Staatsgründer Lenin dafür dankt, dass er den Finnen „die Unabhängigkeit geschenkt“ hat. Die finnischen Steuerzahler hatten zwar für dieses Relief bezahlt, der Dank kam aber nicht vom Volk, sondern vom finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Er war während 25 Jahren Präsident und monopolisierte in dieser Zeit sowohl die Russlandpolitik als auch die finnische Geschichtsschreibung.
In Wirklichkeit wurde den Finnen nichts ausser Kampf und Opfern „geschenkt“. Während des Ersten Weltkriegs herrschte ein erbitterter Kampf zwischen den bürgerlichen „Weissen“ und den kommunistischen „Roten“. Dabei gewannen die Bürgerlichen die Oberhand. Ihr Sieg wurde 1917 abgesichert durch die Landung eines deutschen Expeditionskorps mit dem Auftrag, ein kommunistisches Finnland zu verhindern.
Lenin, der im Oktober 1917 aus der Schweiz kommend über Finnland nach Sankt Petersburg reiste, gab der bisherigen Hauptstadt nun den Namen Leningrad und lancierte die kommunistischen Oktober-Revolution. Zum Glück für die durch den Bürgerkrieg erschöpften Finnen fehlte es dem Gründer der Sowjetunion aber an Soldaten, sodass er den unterliegenden finnischen Kommunisten keine Kämpfer schicken konnte.
Die Idee mit der „geschenkten Unabhängigkeit“ stammt von Urho Kekkonen, der sich als Retter der finnischen Unabhängigkeit ausgab und mit der seiner Versöhnungspolitik die kommunistische Sowjetunion in einen Freund verwandelte. Dazu gehörten auch posthume Streicheleinheiten für Lenin und dessen Wohltaten in Finnland.
Die Versöhnung mit der Sowjetunion beruhte bei Kekkonen in den sechziger Jahren auf der Angst, dass es zu einem sowjetischen Übergriff kommen könnte und Finnland in eine kommunistische Republik verwandelt würde. Wenn nun aber die finnische Unabhängigkeit als Geschenk des Schöpfers der Sowjetunion deklariert wurde, so musste jede Beeinträchtigung derselben eine Sünde gegen Lenin darstellen. Ob dieser Trick wirkte oder ob Moskau die Finnen aus anderen Gründen verschonte, lässt sich schwerlich beurteilen.
Finnischer König aus Sankt Petersburg
Auch ohne schwedische Könige und russische Zaren blieben die Finnen traditionelle Monarchisten. Ihren Unabhängigkeitsstatus hätten sie am liebsten durch die Berufung eines Königs abgesichert. Die Suche nach einem adeligen Kandidaten im Deutschen Reich war auch erfolgreich. Nur machte die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg dann einen Strich durch das Unternehmen. Der Verzicht auf einen König wurde kompensiert durch die Beförderung eines adeligen Finnen aus Sankt Petersburg. Carl Gustaf Mannerheim stammte aus einer schwedisch sprechenden Familie, die den Titel „Freiherr“ vom schwedischen König erhalten hatte.
Der schwedisch sprechende Finne arrivierte am Hofe des Zaren zum Höfling und Feldherrn. Die Revolution brachte einen Unterbruch seiner Karriere. Bei der Rückkehr nach Finnland erhielt Mannerheim aber tröstlichen Ersatz. Der gut aussehende Adelige mit höfischem Gehabe war für Finnland die Person, der man die würdige Repräsentation anvertrauen konnte. Der Rückkehrer erhielt in Finnland das Kommando über die Armee und wurde ausgezeichnet mit dem Titel „General Feldmarschall“. Als Steigerung folgte später die Wahl zum Präsidenten.
Mannerheim wurde weltweit zum bekanntesten Finnen. Und die adelige Gestalt war im Zweiten Weltkrieg auch der wichtigste finnische Ansprechpartner für Hitler und Stalin, die sich als Diktatoren lieber mit einem Herrscher unterhielten als mit einem Aussenminister oder einer parlamentarischen Delegation. Auch die Schweiz huldigte dem Freiherrn Mannerheim und dessen Ferien bei Vevey wurden regelmässig zum Anlass für verehrende Reportagen in den Illustrierten.
Im Zweiten Weltkrieg lag das „unabhängige Finnland“ zwischen Deutschland und der Sowjetunion, welche die Ostsee beanspruchten und Stützpunkte brauchten. Stalin besetzte 1939 nach einem Deal mit Hitler die baltischen Staaten und erhob ultimative Gebietsforderungen an Finnland. Den Finnen genügte aber der Blick auf das Baltikum, wo die Stützpunkte zur Übernahme des Kommunismus und zu Satelliten führten. Stalins Beteuerung, Finnland bleibe unabhängig und er benötige bloss Stützpunkte für die Abwehr eines deutschen Angriffs auf Leningrad über finnisches Gebiet, überzeugte nicht.
Ein hoher Preis
Mit grossem Rückhalt in der Bevölkerung lehnte Helsinki die Gebietsforderungen ab und wählte den Kampf. Die Angriffe der Roten Armee wurden sowohl im Winterkrieg 1939/40 und dann im Fortsetzungskrieg 1941–44 mit grossem Einsatz und hohen Opfern gestoppt. Finnland erhielt dafür in der westlichen Welt grosse Anerkennung und einzelne finnische Historiker reden heute von einem „Verteidigungssieg“, obschon das Land Gebiete abtreten und eine hohe Kriegsschuld bezahlen musste.
Zwischen den beiden Niederlagen holten sich die Finnen 1941 parallel zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion (Aktion Barbarossa) die verlorenen Gebiete zurück. Die Armeeführung überschritt in einem Anfall von Übermut die Vorkriegsgrenze und „befreite“ im russischen Karelien eine Region mit noch einigen finnisch sprechenden Einwohnern. Finnlands Kampf gegen die überlegene Sowjetunion fand auch in der Schweiz grosses Interesse, weil man hier die Hoffnung hegte, dass auch der Kleinstaat Schweiz vergleichbaren Widerstand leisten könnte.
Allerdings dachten die Schweizer an eine Verteidigung von zwei bis drei Wochen bis „zum Eingreifen der Amerikaner“, wie man damals sagte. Der finnische Kampf im hohen Norden ging dagegen von der Einschätzung aus, dass man in der finnischen Einöde und dem hohen Norden wohl nie amerikanische Soldaten sehen werde. Wenig beachtet wurde bei uns der von Finnland bezahlte Preis. Das Land mit damals 4 Millionen Einwohnern bot insgesamt eine halbe Millionen Soldaten und Soldatinnen auf. 92‘000 verloren ihr Leben und 140‘000 wurden invalid.
General aus Schweizer Familie
Die Finnen sind stolz auf ihre Geschichte und werden im Westen bis heute bewundert. Sie werden beneidet von den kampflos sowjetisch gewordenen baltischen Staaten. Auch in Russland geniesst die finnische Kampfbereitschaft weiterhin Anerkennung. Helsinki erhielt dadurch im Kalten Krieg eine Art Sonderstellung bei der Sowjetunion, die dem kleinen und grossen Partner eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Der bayerische CSU-Vorsitzende Franz Joseph Strauss brauchte in der Polemik gegen die „neue Ostpolitik“ der deutschen Sozialdemokraten den Begriff „Finnlandisierung“.
Wenn der Westen Moskau mit einem Boykott bestraft, so setzen russische Politiker und Fachleute auf Freundschaftsbesuche in Finnland. So kam es Mitte Dezember 2016 in Oulu unter Leitung des russischen Ministerpräsidenten Dimitri Medvedev und dem finnischen Amtskollegen Juha Sipilä zu einer Begegnung mit grossem Gefolge. Der Besuch machte nirgends Schlagzeilen und wurde kaum registriert. Aber gerade die Verschwiegenheit gibt solchen Besuchen Bedeutung.
Ein Schweizer als „Retter von Finnland“
Die Berühmtheit von Mannerheim wird nicht geschmälert durch die Anmerkung, dass Finnland 1939 einen über siebzigjährigen Veteranen zum Oberkommandanten wählte. Der Gewählte hatte die Einsicht, die strategische und taktische Leitung der finnischen Armee weitgehend dem 20 Jahre jüngeren Mitarbeiter Karl Lennart Oesch zu überlassen. Die Familie des schweizstämmigen Generals war im 19. Jahrhunderts aus der Gegend von Thun nach Finnland ausgewandert.
Der Berufsoffizier Oesch hatte auf Kosten des finnischen Staates die französische Militärakademie besucht und danach in Finnland während Jahrzehnten Generalstab und Ausbildung geleitet. Als Berufsmilitär wurde er im Krieg schnell zur grauen Eminenz der Armee, die an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt war. Von General Feldmarschall Mannerheim wurde Oesch schon immer zu Hilfe gerufen, wenn der Chef nicht mehr weiter wusste. Er führte die Abwehrkämpfe so erfolgreich, dass der Offizierskollege Helge Seppälä 1998 ein Buch schrieb mit dem (auf deutsch zu übersetzenden) Titel „Karl Lennart Oesch. Retter von Finnland“.