Das Motorrad ist weitaus mehr als ein Transportmittel. Man könnte auch sagen, es ist viel weniger. Denn sein Nutzen als Transportmittel ist äusserst beschränkt, während es ein wunderbares Vehikel für Fantasien und Träume ist.
Wachsende Vielfalt
Die Swiss-Moto in Zürich vom 20. bis 23. Februar 2014 bietet alles davon: vom Funbike über Rennmaschinen, Tourer für die ganz grosse Reise bis hin zu so genannten Custombikes, von denen einzelne so ins Extrem getrieben werden, dass sie kaum noch fahrtauglich sind.
Der Eindruck, der in den vergangenen 20 Jahren entstanden ist, dass sich die Maschinen immer ähnlicher werden, bestätigt sich heute nicht mehr. Vielmehr spürt man, wie die Entwickler und Designer noch das letzte Kundensegment mit gestalterischer Vielfalt zu erreichen versuchen.
Emotionen?
In jedem mittelmässigen Werbetext kann man lesen, dass dieses oder jenes Produkt „Emotionen“ wecke. Das gilt natürlich auch für Motorräder, und man kann fragen, wie denn so eine Emotion geweckt werden soll. Mit einer gewissen Naivität liesse sich dabei die Antwort geben, dass es doch die Technik sei, die das Herz höher schlagen lasse. Das ist nicht ganz falsch, aber ganz richtig ist es auch nicht.
Die Technik macht zwar immer noch Fortschritte: Motoren werden verbessert, und zu loben ist insbesondere der Sicherheitsgewinn durch ABS, Traktionskontrolle und bessere Beleuchtung. Aber diese Fortschritte allein würden nicht ausreichen, um Marken zu positionieren und um Kunden immer wieder neu zum Kauf zu animieren. Dazu muss schon mehr geschehen. Die Techniker brauchen die Designer. Und umgekehrt.
Aggression und Opulenz
Dabei gibt es sehr unterschiedliche Tendenzen im Design. Die Technik kann in aggressiver Weise herausgestellt werden. Das gilt insbesondere für Maschinen, die im Zusammenhang mit dem Rennsport vermarktet werden. Im Einzelnen mag man darüber streiten, welches Formmerkmal oder welche Farbe Aggression ausdrückt. Und vielleicht empfindet auch nicht jeder eine bestimmte Anordnung der Scheinwerfer wie eine nicht eben freundlich blickende Fratze. Aber Namen wie Streetfighter klingen nicht gerade wie ein Programm, das vom Verkehrssicherheitsrat propagiert wird.
Der weitaus grössere Teil der Modelle aber drückt anderes aus. In den vergangenen Jahren sind die Tourer stark in Mode gekommen. Das sind Maschinen, die sich durch eine gewisse Opulenz auszeichnen. Sie wirken wie die in die Jahre gekommene Goldwing von Honda schon fast wie Autos, nur dass man sie auf zwei Rädern balancieren muss. Der Reiz liegt wohl in diesem Kontrast: höchster Komfort, aber immer noch der Kick des Motorrads. Und die Technik verschwindet hinter der Verkleidung.
Geht man über die Messe, fällt auf, dass sich die massigen Maschinen enorm vermehrt haben. Manche Marken wie Moto Guzzi besinnen sich auf Schlachtschiffe wie die „California“, die zeitweilig aus dem Programm genommen worden waren.
Marktführer auf dem Sektor der grossen Touringmaschinen ist nach wie vor Harley-Davidson. Hier hält man an den einmal gefundenen Formen weitgehend fest, passt sie behutsam dem aktuellen Zeitgeist an und rüstet vor allem technisch nach. Harley-Davidson ist in der Schweiz Marktführer, in Amerika sowieso. Der grosse Gegenspieler ist natürlich BMW. Und BMW bietet ebenfalls eine Reihe von Touringmaschinen an, die rein technisch einiges mehr bieten als Harley-Davidson. Aber das Design ist auch unter den Fans höchst umstritten.
Die Vollverkleidung der Maschinen folgt zwar einer technischen Logik und auch internationealen Trends. Aber sie ist wie ein Stück moderner Architektur, die zweckmässig sein mag, aber durchaus Wünsche offen lösst. Man kann den Eindruck haben, dass die zahlreichen Retro-Modelle diese Lücke füllen sollen.
Jetzt präsentiert auch BMW mit der R nineT ABS etwas in dieser Richtung. Aber das ist noch gar nichts im Verhältnis zu dem, was japanische Hersteller wie Honda, Kawasaki, Suzuki und Yamaha anzubieten haben. Man hat den Eindruck, dass die Japaner souveräner mit traditionellen Formen umgehen können, die sie dezent mit modernster Technik versehen. Im Gegensatz zu Retro-Kameras japanischen Ursprungs, die sich derzeit starker und immer weiter wachsender Beliebtheit erfreuen, wirken die japanischen Retro-Modelle von Motorrädern aber nicht wie schlechte Kopien der weitaus überzeugenderen Vorbilder.
Zum Thema Retro gehört auch die erfreuliche Tendenz, dass alte Marken wie Victory, Indian, Royal Enfield, Norton oder neuerdings in Deutschland Horex wiederbelebt worden sind. Zum Teil bauen sie ihre früheren Modelle in neuer Technik nach. Zum Teil entsteht ganz Neues. Am interessantesten in dieser Hinsicht ist die Firma Horex, die zwei völlig neu entwickelte 6-Zylinder-Modelle vorstellt, wobei das Design nicht einfach retro ist. In ihrer klassischen Anmutung, die in eleganter Schlichtheit der technischen Logik folgt, erinnern diese Modelle an die analoge Kleinbildkamera Leica M6. Für Kenner der Klassiker schlechthin.
Die Nachfrage nach Motorrädern ist zwar in den vergangenen Jahren stark gewachsen, dennoch haben die Anbieter ein Problem. Denn das grösste Kundensegment altert. Wie aber gewinnt man neue Kundensegmente hinzu? Man kann dabei Fun und Sport betonen, aber das reicht nicht. BMW versucht seit Jahren, unter dem Schlagwort „Urban Mobility“ das Segment der Motorroller stark aufzuwerten. Auf diese Weise will man junge Leute gewinnen, für die ein Motorrad zu viel Aufwand bedeutet. Und man denkt an ältere Fahrer, die ein etwas leichter zu bedienendes Gefährt haben möchten.
Dazu kommen Elektroroller, die die Marktführerschaft beim Thema Mobilität unterstreichen sollen. Aber BMW denkt eben auch an ganz andere Kunden: Was ist mit denen, die sich mit den perfekt verkleideten Maschinen nicht so recht anfreunden können? Auf die zielt das bereits erwähnte Modell R nineT ABS, das eben unverkleidet ist, und dazu animieren soll, nach eigenem Gutdünken daran herum zu schrauben und Änderungen vorzunehmen.
Harley-Davidson wiederum umwirbt seit Jahren so intensiv wie kein anderer Anbieter die weibliche Kundschaft. Dazu dienen zahlreiche auf Frauen abgestimmt Events, und für das neue Modelljahr wurden unter dem Stichwort „Street“ besonders leichte und wendige Maschinen entwickelt.
Zusätzlich verfügt Harley-Davidson nach dem Vorbild der USA auch in der Schweiz über ein dichtes Netz von Verleihstationen. Man möchte also die Schwelle möglichst absenken, damit auch Gelegenheitsfahrer sich einmal an eine Tour mit einem der richtig dicken Brummer wagen - Buchung anspruchsvoller Hotels nach Wunsch inklusive.
Um das Mass voll zu machen, bietet Harley-Davidson ab diesem Modelljahr so genannte „Trikes“ an. Das sind Motorräder mit zwei Rädern hinten, für die der Autoführerschein reicht. Damit wird auf Kunden gezielt, für die die Schwelle zu einem richtigen Motorrad zu hoch ist. Aber sie wollen eine Harley fahren.
Auch das sind Emotionen, auf die das Sinnen und Trachten der Marketing-Spezialisten, der Designer und Konstrukteure zielt. Als Messebesucher, Betrachter des Werbematerials und als potentieller Kunde ist niemand neutral. Ständig stellt sich ja die Frage, ob ein Modell anspricht oder abstösst, ob es zu einem passen würde oder nicht. Weckt es Begehrlichkeit? Auf welcher Maschine würde man welche Touren unternehmen? Und schon meldet sich die Fantasie und verrichtet vielleicht ihr Werk in dem Sinne, wie es sich die Marketingstrategen erhoffen.