Im katholischen Polen scheint die Vorweihnachtszeit alles andere als eine beruhigende Wirkung auf die Politszene zu haben. Wie schon vor einem Jahr sind politische Konflikte eskaliert. Noch im Oktober hatte es für kurze Zeit ein wenig anders ausgesehen. Das rechtsnationale Regierungslager der PiS (Recht und Gerechtigkeit) schien sich etwas konzilianter zu geben. Nach unerwartet grossen Protesten wurde beispielsweise eine von erzkatholischen Kreisen geforderte Verschärfung des Abtreibungsgesetzes auf die lange Bank geschoben (vgl. Journal21.ch, 7. Oktober 2016) .
Aufgeladene Stimmung
Zwischenzeitlich hat sich die Lage verändert. Verschiedene Massnahmen und Gesetzesprojekte des Regierungslagers haben die Stimmung wieder angeheizt. Die unpopuläre Exhumierung aller Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk wird ohne Abstriche weitergeführt (vgl. Journal21.ch, 14. November 2016).
Umstrittene Gesetze wurden im Parlament weiterhin durchgepaukt. Änderungsanträge der Opposition hatten praktisch nie eine Chance. So verabschiedete das Regierungslager etwa eine weitgehende Bildungsreform, die auch auf den Widerstand der Lehrerschaft gestossen war. Ein umstrittenes Demonstrationsgesetz wurde erst nach langen Querelen entschärft. Die Oppositionsseite verschärfte ihrerseits die Kritik. Verbal wurde aufgerüstet und die Auseinandersetzung vermehrt mit Schlagwörtern geführt.
Eklat im Parlament
In dieser aufgeladenen Situation kam es am Freitagnachmittag zum Eklat. Das Parlament diskutierte über das Budget. Ein Abgeordneter der grössten Oppositionspartei, der PO („Bürgerverständigung“), ging mit einem kleinen Plakätchen zum Rednerpult. Darauf stand „wolne media“ (freie Medien), eine Anspielung auf eine geplante einschränkende Neuregulierung der bisher sehr liberal geregelten Medienpräsenz im Parlamentsgebäude. Dieses Projekt war auf den Widerstand der meisten Journalisten und der Opposition gestossen. Der alles andere als souverän agierende Parlamentsvorsitzende verwies den Abgeordneten des Saales, als er die Tafel nicht entfernen wollte.
Oppositionsabgeordnete bildeten danach um das Rednerpult eine Blockade und verlangten die Wiederzulassung des Abgeordneten. Das löste wiederum bei den PiS-Abgeordneten Entrüstung aus. Die Sitzung wurde schliesslich vom Vorsitzenden unterbrochen. Hinter den Kulissen wurde hektisch verhandelt. Unbestätigten Informationen zufolge soll Jaroslaw Kaczynski, der Big Boss der PiS, vom Parlamentsvorsitzenden, eine unnachgiebige Haltung verlangt haben.
Neue Eskalationsstufe
Nachdem keine Seite nachgeben wollte, kam es zu einer bisher einmaligen Eskalation. Die Opposition mobilisierte über das Netz eine grosse Demonstration vor dem Parlamentsgebäude. Es versammelten sich schliesslich Tausende. Der Sejm-Vorsitzende liess in einem Überraschungscoup die Budgetdebatte in einen andern Saal verlegen und peitschte mit sehr fragwürdigen Mitteln das Budget nach Mitternacht doch noch durch. So wurde beispielsweise über die Änderungsanträge der Opposition nur en bloc abgestimmt. Oppositionsabgeordnete waren nur wenige vertreten, teilweise wurde ihnen auch der Zugang verwehrt.
Die Demonstranten ihrerseits hatten inzwischen die Ausgänge aus dem Sejm blockiert. Die Polizei, die sich bis dahin zurückgehalten hatte, räumte schliesslich eine Ausgangsstrasse. Allerdings sollen die eingesetzten Mittel angemessen gewesen sein. Beispielsweise wurde kein Tränengas eingesetzt. Damit blieb die Polizei ihrer bisherigen Doktrin eines möglichst zurückhaltenden Mitteleinsatzes treu.
Angespannte Situation
Am Samstag kam es dann in ganz Polen zu Demonstrationen, die allerdings geringe Teilnehmerzahlen aufwiesen. Selbst in Warschau waren vor dem Präsidentenpalast nur noch mehrere Hundert aufmarschiert. Umso intensiver war der verbale Schlagabtausch der Politiker. PiS-Politiker sprachen von einem Versuch der Opposition, die Macht zu übernehmen.
Die Opposition ihrerseits warf dem Regierungslager vor, die Abstimmung mit illegalen Mitteln durchgeboxt zu haben. Sie verlangte auch eine Sitzung des Sejm am nächsten Dienstag, um das Budget ordnungsgemäss zu verabschieden. Oppositionelle Politiker verblieben im Plenarsaal und kündigten an, dort auszuharren. Zudem verlangten sie eine Rücknahme der vorgeschlagenen Neuregulierung der Medienpräsenz im Sejm.
Allerdings gab es auch Bemühungen, die Spannungen abzubauen. So versuchte der Vorsitzende des Senats in einem Gespräch mit Journalisten akzeptable Lösungsmöglichkeiten auszuloten. Der Senatsvorsitzende hatte schon bei der Entschärfung des Demonstrationsgesetzes eine wichtige Rolle gespielt. Der Präsident Andrzej Duda, der aus der PiS stammt und bisher fast immer die Positionen der PiS unterstützte, rief zur Besonnenheit auf und bot seine Vermittlerdienste an.
Am Sonntag empfing Duda die Chefs der vier im Parlament vertretenen Oppositionsparteien. Am Montag sollen der Parteichef der PiS, Jaroslaw Kaczynski, und die Vorsitzenden des Sejms und des Senats folgen. Am Sonntag gab es erneut Demonstrationen der Opposition und auch eine Kundgebung der PiS-Anhänger vor dem Präsidentenpalast.
Negative Auswirkungen
Mit den Ereignissen vom Wochenende hat Polen eine weitere Eskalationsstufe der politischen Polarisierung erreicht. Die PiS dürfte bei der Budgetfrage kaum nachgeben, wohl aber bei der Neuregulierung der Medienpräsenz im Parlament Zugeständnisse machen. Die Oppositionsparteien werden ihrerseits die Budgetverabschiedung nicht anerkennen. Die Legitimation des Parlaments wird sicherlich beschädigt, und das ohnehin schon geringe Vertrauen der breiten Bevölkerung in das Parlament und die Politiker wird weiter zurückgehen.
Grosse Demonstrationen wird es vor Weihnachten kaum mehr geben. Aber die Auseinandersetzungen werden wohl im neuen Jahr an Schärfe zunehmen. Die Polizei, die bisher sowohl bei der Bevölkerung wie bei den allermeisten Demonstranten auf eine grosse Akzeptanz bauen konnte, wird sich vor noch schwierigere Probleme gestellt sehen. Das internationale Vertrauen in die Stabilität Polens dürfte weiteren Schaden erleiden.
Das sind keine viel versprechenden Voraussetzungen für die bereits angeschlagene Reputation Polens. Gute Startbedingungen für das neue Jahr sehen anders aus.