„Ich hatte innert neun Monaten 46 Länder besucht und war 171 628 Meilen geflogen“, schreibt die 57-jährige Condoleezza Rice in ihren Memoiren über den Herbst 2005: „Ich wollte nur noch Ferien machen und wie jedes Jahr nach Greenbrier (ein Luxuskurort in West Virginia) fahren, doch es wurden keine richtigen Ferien daraus, angesichts des Rückzuges der Israelis aus Gaza, der mich Tag und Nacht ans Telefon kettete.“
Die Folgen des Hurrikans Katrina
So beginnt in „No Higher Honor“ das Kapitel, in welchem die frühere Chefin des Nationalen Sicherheitsrates und einstige amerikanische Aussenministerin ausnahmsweise einräumt, Fehler begangen zu haben: Dass sie, während Hurrikan Katrina auf New Orleans zuraste, in New York ins Theater und shoppen ging.
„Am nächsten Morgen (nach dem Besuch eines Musicals am Broadway) ging ich in der Nähe des Hotels bei ‚Ferragamo’ Schuhe kaufen, kehrte ins Palace zurück (…) und schaltete erneut den Fernseher ein“ erinnert sich Condoleezza Rice in einem Stil, der mitunter an Tagebucheinträge erinnert: „Überall waren schreckliche Bilder aus New Orleans zu sehen. Und die Gesichter der meisten Leute in Not waren schwarz. Ich realisierte sofort, dass ich Washington nie hätte verlassen dürfen.“
Also rief sie umgehend Präsident George W. Bush an: „Mr. President, ich komme zurück. Ich weiss nicht, wie ich helfen kann, aber wir haben ohne Zweifel ein Rassenproblem.“
Sie reiste, als Vertreterin des Weissen Hauses, nach Mobile (Alabama), wo der Hurrikan Hunderte von Existenzen beschädigt oder zerstört hatte. „Es blieb damals nie genug Zeit, um über eine Krise wie Katrina gründlich nachzudenken“, reflektiert Rice am Ende des Kapitels: „Rückblickend gesehen, bildeten die Folgen des Hurrikans den Beginn einer Negativspirale, die Bushs Präsidentschaft beinahe verschlingen sollte. Zweifellos reagierte die Regierung in Washington DC langsamer, als der Präsident das wollte, und es gab viele Fehler, sowohl der Wahrnehmung wie der Umsetzung. Ich ärgere mich nach wie über mich, weil ich meine eigene Rolle und Verantwortung in der Krise erst verspätet verstanden habe.“
Cheneys und Rumsfelds Rolle beim Irak-Krieg
Ein Leser, wenn er den 734 Seiten dicken Wälzer „No Higher Honor – A Memoir of My Years in Washington“ auch nur auszugsweise liest, hätte sich ähnliche Einsicht auch andernorts im Buch gewünscht. Zum Beispiel dort, wo Condoleezza Rice beschreibt, weshalb sich die amerikanische Regierung zwei Jahre nach den Anschlägen des 11. September entschied, im Irak einzumarschieren.
Zwar erzählt Rice, George W. Bush habe sich bereits im Dezember 2001 nach militärischen Lösungen zu erkundigen begonnen und seine Berater im September 2002 wissen lassen, Saddam Hussein müsse entweder auf seine Massenvernichtungswaffen verzichten oder mit einem Krieg rechnen. Wie aber die Diskussionen im Weissen Haus im Einzelnen abliefen und wer im Kabinett oder unter den Mitarbeitern des Präsidenten welche Rolle spielte, ist nur in Ansätzen zu erfahren.
Zwar tönt Condoleezza Rice, die damals noch Chefin des Nationalen Sicherheitsrates war, zwischen den Zeilen an, dass es damals in der amerikanischen Regierung Missverständnisse und Meinungsdifferenzen gegeben habe: „Ich habe mich oft gefragt, wie ich diesen Teufelskreis von Misstrauen und Dysfunktionalität hätte durchbrechen können.“ Vor allem Vizepräsident Dick Cheney und Pentagon-Chef Donald Rumsfeld liessen nie Zweifel an der Opportunität ihres Ziels aufkommen, Saddam Hussein und dessen Regime mit Gewalt zu stürzen. Die beiden bezichtigten Kritiker ihres Vorhabens schlicht der Naivität oder, noch schlimmer, des Defätismus.
Stabilität im Irak? - Kein Interesse
Sie habe seinerzeit, erinnert sich die Autorin, zusammen mit Aussenminister Colin Powell wiederholt versucht, vom Pentagon zu erfahren, wie das Militär nach einer Invasion die Stabilität im Irak sichern wolle, sei aber in dieser Sache nie wirklich ernst genommen worden, auch vom Präsidenten nicht. George W. Bush, schreibt sie, habe im Februar 2003 (einen Monat vor Kriegsausbruch) ein Briefing im Weissen Haus mit den Worten eröffnet: „Das ist etwas, worüber Condi gerne sprechen möchte.“
Sie habe seinerzeit sofort gemerkt, dass die Generale ihr Anliegen nicht ernst nahmen: „Das ist die Schwäche der Position des Nationalen Sicherheitsberaters: Autorität stammt vom Präsidenten. Wenn er sich nicht für dieses Thema (Stabilität im Irak) interessierte, weshalb sollten sie sich dann darum kümmern?“ Ihr Stellevertreter im Sicherheitsrat habe nach jener „verhängnisvollen Sitzung“ bemerkt, er an ihrer Stelle wäre nach der abfälligen Bemerkung des Präsidenten zurückgetreten. Doch Condoleezza Rice, loyale Dienerin ihres Herrn, dachte nicht an Rücktritt, und wurde 2005 nach Powells Ausscheiden aus der Regierung Amerikas 66. Aussenministerin.
Nur einmal, kurz nach Amtantritt im State Department, habe sie kurz ans Aufgeben gedacht, berichtet Rice in ihren Memoiren. Während einer Zeremonie vor dem Weissen Haus habe sie bemerkt, wie sich am Himmel ein Flugzeug näherte. Zwar habe sich die Maschine auf der normalen Anflugroute zum nahen National Airport befunden, für einige Augenblicke aber habe sie befürchtet, sie fliege direkt auf das Weisse Haus zu: „Morgen gehe ich zum Präsidenten, um ihm mitzuteilen, dass ich Ende Jahr gehen will. Ich halte das nicht mehr aus.“
Loyalität zum Chef
Doch auch diesmal hielt „Condi“ ihrem Präsidenten die Treue, wie wohl nicht anders zu erwarten war von einer Frau, die – als Einzelkind eines protestantischen Pastors im Süden der USA aufgewachsen – in der Schule und im Studium stets brillierte, als Musterschülerin galt und eigenem Bekunden zufolge immer „zweimal so gut“ wie ihre Mitschüler sein wollte. Daneben spielte sie Klavier, betrieb Eiskunstlauf und turnte – alles mit hohem Anspruch.
Am liebsten aber, hat Condoleezza Rice einst erzählt, hätte sie in einem Basketball-Team gespielt, wo jede nur so gut sei wie die nächste Person: „Diese Athleten lernen, nach schlechten Leistungen zurück zu kommen und am Tag danach wieder aufzustehen, hart zu arbeiten und erneut zu spielen. Fast wie im richtigen Leben.“
Zumindest im Weissen Haus war Condoleezza Rice ein „team player“, die nichts auf ihren „team leader“, den Präsidenten, kommen liess. Es ist viel über das Verhältnis zwischen den beiden gemutmasst worden, wie eng, wie folgenreich und wie opportun es unter Umständen war. Auf jeden Fall war Rice eine gute Freundin der Familie Bush und verbrachte relativ viel Zeit mit ihr, auch in Camp David, dem Feriensitz des Präsidenten.
Bush als Vielleser?
Sie selbst sagt, George W. Bush sei oft zu Unrecht karikiert worden. Sie wundere sich noch heute, dass nie bekannt geworden sei, wie neugierig er in Wirklichkeit war und wie gut er Fragen stellen konnte: „Zum Teil hat das meines Erachtens damit zu tun, dass er jemand ist, der sein Licht unter den Scheffel stellt, was zur Folge hat, dass ihn die Leute unterschätzen. Während ich zum Beispiel ein Buch gelesen habe, las er deren fünf.“
In ihren Memoiren verteidigt Condoleezza Rice den früheren Präsidenten auch vehement gegen den Vorwurf, die inkompetente und verspätete Reaktion des Weissen Hauses im Falle von Hurrikan Katrina habe unter Umständen etwas mit Rassismus zu tun gehabt: „Bevor ich Mobile verliess, sagte ich der Presse: ‚Niemand, vor allem nicht der Präsident, hätte Leute im Stich gelassen, weil sie schwarz waren’. Bis heute bin ich entsetzt, dass es notwendig war, das zu betonen.“
Anderen Zeitgenossen gegenüber ist Condoleezza Rice in „No Higher Honor“ weniger nachsichtig. Angesichts der jüngsten Entwicklung in Libyen stösst vor allem auf Interesse, wie sie in ihren Memoiren Muammar Qaddhafi zeichnet, den sie 2007 in Tripoli besuchte, nachdem der Diktator auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen verzichtet und seine Beziehungen zu Washington normalisiert hatte.
Mit Ghadhafi in der Küche
Der Libyer, so Rice, habe aus zwei Gründen fast verzweifelt auf ihren Besuch gedrängt: Zum einen war die erste Visite eines amerikanischen Aussenministers seit 1953 ein Meilenstein auf dem Weg des Landes zu internationaler Achtung. Zum andern habe sie den libyschen Präsidenten anscheinend auf eher unheimliche Weise fasziniert und er habe andere Gäste jeweils gefragt, weshalb seine „afrikanische Prinzessin“ ihn nicht besuche. Auf jeden Fall habe sie eine Einladung Qaddhafis ausgeschlagen, ihn in seinem Zelt zu treffen.
Bei der Zusammenkunft in seiner Residenz dann habe der Libyer erst ganz normal agiert. Plötzlich aber habe er zu reden aufgehört und mit dem Kopf zu wippen begonnen. „Sagen Sie Präsident Bush, er solle aufhören, über eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina zu reden“, habe er Libyer gebellt: „Es sollte nur einen Staat geben! Israeltina!“ Danach habe der „Bruder Führer“ sie eingeladen, allein mit ihm in seiner Privatküche zu speisen, eine Einladung, die sie trotz der Proteste ihrer Sicherheitsleute angenommen habe.
Am Ende des Abendessens, so erzählt Rice weiter, habe ihr Qaddhafi gesagt, er habe ein Video für sie machen lassen. Zu den Klängen des Songs eines libyschen Komponisten („Schwarze Blume im Weissen Haus“) zeigte das Video Bilder von Rice mit ausgesuchten Weltpolitikern, unter anderem mit Präsident Bush, Vladimir Putin oder Hu Jintao: „Es war zwar äusserst seltsam, aber zumindest nicht unanständig.“
Eine Lanze für die "Freedom Agenda"
Sie sei seinerzeit nach dem Treffen in Tripoli, erinnert sich Condolezza Rice in „No Higher Honor“, nach ihrem persönlichen Eindruck von Qaddhafi befragt worden. Sie habe gesagt, dass sie realisiert habe, wie der Libyer in seiner eigenen Kopfwelt lebe, in einer Art alternativen Realität: „Als ich im Frühling und Sommer 2011 die Entwicklung (in Libyen) beobachtete, fragte ich mich, ob er überhaupt völlig merkte, was um ihn herum geschah. Und ich war sehr, sehr froh, dass wir ihm seine gefährlichsten Massenvernichtungswaffen weggenommen hatten. Ich zweifle nicht, dass er sie dort in seinem Bunker, als er seinen letzten Widerstand leistete, auch eingesetzt hätte.“
Rice ist auch überzeugt, dass es sich, allen Rückschlägen im Irak und in Afghanistan zum Trotz, für die Regierung von George W. Bush gelohnt hat, in der Region die „Freedom Agenda“ zu verfolgen. Ein Beleg dafür, argumentiert sie, seien die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten, wo Völker aufgestanden sind, wie in Tunesien, Ägypten und Libyen, um sich ungeliebter Diktatoren zu entledigen: „Revolutionen sind kein Spaziergang. Wenn politische Reformen zu spät kommen, wenn der Volkszorn gross ist, dann wird es weder ohne Zwischenfälle ablaufen noch, ehrlich gesagt, so aussehen, wie wir das gerne hätten.“
Das Weisse Haus, so Cndoleezza Rice, habe sich nicht nur der Freedom Agenda verschrieben, weil es recht, sondern auch, weil es notwendig war: „Es gibt sowohl moralische wie praktische Gründe, weshalb kein Mensch unter einem Tyrannen leben sollte. Jene, die unser Vorgehen als idealistisch oder unrealistisch verrissen haben, lagen falsch. Längerfristig sind autoritäre Regime instabil und unrealistisch.“
Olmerts angebliches Angebot
Noch heute aber bedauert Rice, dass es dem Weissen Haus 2008 nicht gelang, die Palästinenser von einem Vorschlag des (damals innenpolitisch bereits diskreditierten) israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert zu überzeugen, der ihrer Meinung äusserst mutig und weit ging, der Start einer realistischen Zwei-Staaten-Lösung: „Doch die Palästinenser beharrten auf ihrem Standpunkt, und der Vorschlag starb. Heute, wir schreiben das Jahr 2011, scheint der Prozess rückwärts verlaufen zu sein.“
Ein Erfolg war dafür Rice zufolge der Sturz von Saddam Hussein, auch wenn sie sich, in einem Interview mit „Newsweek“, nicht konkret über die Kosten der Kriege äussern mag, welche die USA in der Region geführt und die Tausende von Menschenleben und mehr als eine Billion Dollar gekostet haben: „Ich glaube nicht, dass man das in Zahlen messen kann im Falle eines Nahen Ostens, der sich nun ohne Saddam Hussein und mit einer Freiheitsbewegung ganz anders entwickeln wird.“
Tolstois "Krieg und Frieden" auf Russisch
Condoleezza Rice lebt heute wieder in Stanford, in einem kleinen Haus an einer ruhigen Strasse in der Nähe des Campus der Universität, wo sie lehrt. Es sei ihr, berichtet „Newsweek“, recht wohl unter ihren Studenten und ihren bevorzugten Besitztümern: einem kleinen Flügel, den die Eltern ihr schenkten, nachdem sie mit fünfzehn einen Musikwettbewerb gewonnen hatte, einer massiven Erstausgabe von Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ auf Russisch und einer King-James-Bibel, die einst ihrer Grossmutter gehört hatte. Trotzdem, völlig entspannt sei sie nicht. Musse scheint ihr nur bedingt zu liegen.
Wie viele Figuren des öffentlichen Lebens und wie etliche Politiker und höhere Beamte, schreibt ein Rezensent eines ihrer früheren Bücher, sei Condoleeza Rice nicht jemand, der besonders viel nachdenkt: „Ihre Energie richtet sich nach aussen, nicht gegen innen.“ In jenem Buch, das unter dem Titel „Extraordinary, Ordinary People: A Memoir of Family“ erschienen ist und ihre Kindheit schildert, schrieb Rice, es sei für sie nichts Aussergewöhnliches, die Folgen eines Versagens zu verdrängen, bis ein Ereignis vorbei sei. Das möge, schliesst der Buchkritiker der „Los Angeles Times“, im Falle eines Klaviervortrags funktionieren: „Aussenpolitik aber ist ganz was Anderes.“