An Leitartikel-Themen sollte es der „New York Times“ derzeit nun wirklich nicht mangeln. Schliesslich sorgt allein schon der Parteikongress der Republikaner fast stündlich für neue Lügen, originelle Skandale und ungläubiges Staunen.
Unverblümte Kritik
Um so bemerkenswerter, dass sich die Chefredaktion bei der embarras de richesse an Themen am 19. Juli für eine unverblümte Kritik am obersten Republikaner der Nation entschieden hat. Und Paul Ryan ist in der Tat ein gutes Beispiel für die Elastizität der Überzeugungen, die in der Partei grassiert.
Noch im Mai dieses Jahres konnte man vom Speaker of the House hören, dass er schlicht nicht bereit sei, die Kandidatur des Möchtegernkandidaten seiner Partei abzusegnen. Gegen Ende des Monats hiess es jedoch, dass er im Begriff sei, dessen Kandidatur zu unterstützen – was dann aber hastig dementiert wurde. Eine Woche später allerdings hatte er sich durchgerungen: Inzwischen hatte der Kandidat in Washington antraben müssen, und kurz darauf konnte sich Ryan plötzlich doch eine Befürwortung der Kandidatur vorstellen. Danach wechselte er von lauwarm über warm auf heiss: „Ich bin voller Vertrauen, dass er uns helfen würde, die Ideen unserer Partei in Gesetze umzuwandeln, die das Leben der Leute positiv verändern werden“, hiess es anfangs. Ideen? Haben wir da etwas verpasst? Zwar gab er zu, dass sie nicht immer das Heu auf derselben Bühne hätten, befand aber, dass sie doch mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen hätten.
Hillary Clinton verhindern!
Es war die Zeit, als der Knapp-Akzeptierte die skandalträchtigen Bemerkungen über einen Richter mit mexikanischem Hintergrund gemacht hatte: Der Richter könne nicht unbefangen urteilen in einem Prozess, in dem der Angeklagte sich zuvor rassistisch über Mexikaner geäussert habe. Dann hat ihm die Parteileitung wohl bedeutet, dass er einmal mehr zu weit gegangen sei: Seine Worte seien misconstrued, also falsch gedeutet worden, meinte der Gerügte. Und so konnte sich Paul Ryan mit der Feststellung begnügen, dass Rassismus auf keinen Fall akzeptiert werden kann, ohne jedoch den als Rassisten Bezeichneten direkt mit dessen Äusserungen zu konfrontieren.
Vor kurzem nun ist klar geworden, was der Speaker of the House meinte, als er plötzlich entdeckte, dass ihn mehr mit dem unerwünschten Kandidaten verbindet als trennt: Von Journalisten in die Enge getrieben, ob man den potentiellen Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei aufgrund von dessen diversen Äusserungen als Rassisten bezeichnen muss, druckste Ryan herum und versuchte, die Bemerkungen schönzureden, bis er schliesslich, sinngemäss, herausplatzte, dass man darüber hinwegsehen muss, denn es gehe ja um etwas anderes: Alles sei darauf ausgerichtet, Hillary Clinton zu verhindern!
Keine Lobeshymne
DAS also ist des Pudels Kern: Irgendein Kandidat, sogar den angeblichen New Yorker Milliardär, der nicht einmal gezwungen werden konnte, seine Steuererklärungen der letzten Jahre offenzulegen – irgendeinen, bloss nicht diese Frau! Dieses Mantra ist so wirkungsvoll, dass Ryan sich nicht zu schade war, das Resultat der Kandidatenwahl am Parteikongress selbst bekanntzugeben und seine Befürwortung der Kandidatur mit einer Rede zu bekräftigen. Diese Rede war allerdings zwiespältig und alles andere als eine Lobeshymne; vielmehr unterstrich sie die Kluft, die anfangs zwischen den beiden Männern bestand und die nur oberflächlich zugeschüttet worden ist. Das wiederum hat ihm einerseits einen äusserst kritischen Leitartikel in der New York Times eingebracht, in der man sarkastisch die „Elastizität der Überzeugungen“ kommentiert, andererseits die Verachtung des Kandidaten, der derart elastische Menschen als „losers“ einstuft.
Um so unverständlicher, dass Ryan sich für diese Farce hergegeben hat. Er hätte die Rolle, die ihm für den Parteitag zugedacht war, einfach ablehnen können, ohne seine Funktion als Speaker zu gefährden. Zur Erinnerung: Diese Funktion wollte nach John Boehners Abgang niemand übernehmen, und man musste Ryan, der mehrfach geäussert hatte, dass auch er sie auf keinen Fall wollte, geradezu zur Annahme überreden. Und er hätte sich den Respekt der Menschen gesichert, die sich nicht von einem zynischen, egomanischen Scharlatan haben blenden lassen. Nicht die schlechteste Voraussetzung für einen ehemaligen Vizepräsidentschaftskandidaten (2012 an der Seite von Mitt Romney), wenn er im Hinblick auf 2020 für Grösseres kandidieren möchte…
Apropos blenden: Dazu hat der rhetorisch brillante Abraham Lincoln (1809-1865), der 16. Präsident der Vereinigten Staaten und für Unzählige der beste Präsident, einen grossartigen Aphorismus geliefert, der am besten in seiner Originalsprache wirkt:
„You can fool some of the people all of the time.
You can even fool all of the people some of the time.
But you cannot fool all of the people all the time.“
Spätestens am 8. November 2016 wird sich zeigen, wer sich von wem hat zum Narren halten lassen und wer sich seines Verstandes bedient hat.