Neben seinem "bürgerlichen" Beruf als Wissenschaftler und Professor war Bernt Spiegel, 86, ein erfolgreicher Rennfahrer - gegen seine Veranlagung. Dieser Erfolg war der Preis für seine hartnäckige Selbstüberwindung. Und er wurde zum gefragten Instruktor für Sportfaher auf dem Nürburgring. Als Buchautor hat er die Beschäftigung mit dem Motorradfahren auf ein neues intellektuelles Niveau gehoben: „Die obere Hälfte des Motorrads“. Seine Erklärungen zur Fahrphysik, zur Psychologie des Fahrens und sein praktisches Können haben dieses Buch zum unverzichtbaren Standardwerk gemacht. Dazu erschien Spiegels Übungsbuch: „Motorradtraining alle Tage“. Wir berichteten darüber in dem Beitrag Unterwegs im Mesokosmos.
Stephan Wehowsky: Ist das Motorradfahren für Sie auch ein intellektuelles Vergnügen?
Bernt Spiegel: Ja, auch. Ich denke dabei viel über die Gefahren und über die Grenzen nach, aber ich hüte mich davor, das während des Fahrens zu tun. Über das, was im Einzelnen zu tun ist und wie es zu tun ist, sollte man vor oder nach dem Fahren nachdenken. Wenn Sie während des Handlungsvollzugs über den Handlungsvollzug nachdenken, machen Sie Fehler!
Das Denken blockiert?
Ja, und zwar blockiert es das spontane Handeln. Es blockiert, weil dann die Ratio die Steuerung der Handlungsabläufe übernimmt. Das kann sie längst nicht so gut, jedenfalls nicht so flüssig und ineinanderspielend, wie bestimmte "ichferne" Instanzen der Tiefenperson eines geübten Fahrers. Da geht der eine Handlungsteil fliessend in den anderen über. Da ist nichts abgehackt.
In der rationalen Analyse wird zum Beispiel eine Kurve in verschiedene Teile fraktioniert: die Kurve am richtigen Punkt anfahren, bremsen, Schräglage aufnehmen, im Aufrichten wieder Gas geben. Beim Fahren selbst aber ergibt sich eine Ganzheit. Die Selbstbeobachtung in dieser Situation hat der Teufel gesehen. Deswegen habe ich gerade den guten Fahrern gesagt: „Bevor es losgeht, denkt noch einmal über alles nach, was zu tun ist; und erst hinterher, was vielleicht noch fehlerhaft war.“
Aber es erfordert Überwindung, die Ratio im Hintergrund zu halten.
Gewiss. Man muss in jedem Training lernen, trotz des vermehrten Wissens zur Spontaneität zurückfinden.
Die erwähnten „ichfernen“ Instanzen lenken uns, ohne dass wir es merken, in die Richtung, in die wir blicken. Der österreichische Weltklasse-Abfahrtsläufer Hermann Maier hat einmal gesagt: „Wo ich hinschaue, da bin ich auch schon selber.“
Das erfordert ein Urvertrauen in die eigene Fähigkeit, das Richtige zu tun.
Das macht den guten Fahrer und erst recht die Rennfahrer aus. Die dürfen auf keinen Fall darüber nachdenken, wie sie es machen wollen. Rational beschäftigen sie sich mit der Strategie, aber nicht mit dem Handlungsvollzug.
Was macht einen guten Instruktor aus? Die Fähigkeit zur Erklärung oder das Vormachen, das die Schüler nachahmen können?
Die verbalisierte Instruktion ist viel zu kompliziert. Soll ich Ihnen einmal die verbale Instruktionen geben, wie man eine Krawatte bindet? Wir würden beide verzweifeln! Im direkten Nachahmungslernen kommt man schneller voran. Deswegen sollen die Fahrer im Training - anders als sonst! - sehr dicht auffahren. Ein Instruktor muss gar nicht zwingend so genau über die Theorie Bescheid wissen. Ich glaube, dass im Leben das Nachahmungslernen eine viel grössere Rolle spielt, als uns bewusst ist.
Wie sind Sie selber zum Rennsport gekommen?
Für mich ist der Rennsport eine intellektuelle Herausforderung, weil er an der Grenze dessen liegt, was ein Mensch leisten kann. Es gibt niemanden, der eine Stunde lang Motorrad ohne Fehler fährt. Und man merkt immer sehr schnell, wie gut man gerade drauf ist. Das ändert sich von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag.
Wann haben Sie mit dem Rennsport angefangen?
1950 bin ich zusammen mit Schorsch Meier auf Motorrädern von BMW gefahren. Ich bin dann sehr schnell auf Wagen umgestiegen, weil mich das auch sehr interessiert hat. Ich war mit Richard von Frankenberg befreundet. Der ist ursprünglich auch Motorrad gefahren und hat dann auf Porsche gewechselt. In den fünfziger Jahren sind wir mit Erfolg internationale Rallys gefahren. Er war eher risikofreudig, und es hat ihm gut getan, dass sein Beifahrer eher defensiv war. 1953 oder 1954 war ich Gesamtsieger der internationalen Porsche-Rally. Aber da war auch viel Glück dabei.
Ich bin zur Rennerei mehr deshalb bekommen, weil ich gemerkt habe, dass ich dazu im Grunde genommen ganz ungeeignet bin. Ich bin dafür viel zu nachdenklich, zu besonnen und zu risikobewusst. Das wollte ich überwinden. Aber es hat mir auch Spass gemacht. Leute, die das wirklich sehr gut können, beeindruckten mich stark. Deswegen habe ich auch nach meinem Pilotenschein noch den Kunstflugschein gemacht. Das war für mich eine furchtbare Geschichte, denn ich war schon neurovegetativ ganz ungeeignet dafür.
Mir ist immer noch schlecht geworden, als sich die anderen schon längst daran gewöhnt hatten. Nach einem Looping musste ich immer erst eine halbe Minute geradeaus fliegen, um mich wieder zu beruhigen. Das geht geht für ein Kunstflugprogramm nicht. Ich war eigentlich zu mimosenhaft. Der Witz war – aber das stellte sich erst später heraus – dass mein Pilotenschein die Nummer 007 hatte.
Wie sinnvoll ist es überhaupt, Rennen zu fahren?
Es ist bei vielen eine Art der Selbstbewährung. Aber das Ganze verselbstständigt sich auch immer wieder und wird dadurch fragwürdig.
Es geht immer um eine Bewährung mit dem Ziel, die eigenen Grenzen ein Stück weit hinauszuschieben. Dabei gibt es verschiedene Typen. Die einen versuchen, die Grenzen geradezu zu überspringen oder wegzuwischen, die anderen bewegen sich innerhalb ihrer Möglichkeiten und versuchen sehr behutsam, ihre Grenzen hinauszuschieben. Ich gehöre zum zweiten Typus. Im Grunde genommen bin ich ein zaghafter Mensch.
Lassen sich die Fahrer typologisch einordnen?
Diejenigen, die zu den Trainings kommen, sind eher Reizsucher als Reizvermeider. Das sehen Sie schon daran, dass unter den Motorradfahrern mehr Raucher sind. Die Zigarette hat Entlassungsfunktion. Und die Reizsucher brauchen immer auch Entlastung. In den Trainingspausen mache ich mit den Fahrern gerne systematische Entspannungsübungen, die sie auch sehr geniessen. Denn gerade der Reizsucher sucht Entlastung nach dem Erlebnis der Spannung.
Übrigens stossen die Reizsucher oft auf grössere Sympathie als die Reizvermeider. Das ist allerdings ungerecht, denn die Gesellschaft braucht beide. Das hängt wiederum mit der Mesokosmos-Überlegung zusammen. Die Reizsucher erweitern die Grenzen, die Reizvermeider halten das Erreichte zusammen. Das ist auch im Unternehmen wichtig. Jedes Unternehmen steht in der Spannung zwischen Innovation und Bewahrung. Es kommt auf die Balance an.