Die Bedeutung und das Gewicht der Salafiya sind lange Zeit unterschätzt worden, von vielen anderen Beobachtern und auch von mir selbst. Wir nahmen an, es handle sich um eine von besonders engstirnigen Muslimen getragene Bewegung im heutigen Islam. Wir pflegten sie als eine Randerscheinung abzutun, die sich von der grossen Hauptströmung des Islams unterschied und die wohl wieder verschwinden würde. Ihre wachsende Ausbreitung pflegte man durch das Geld zu erklären, das ihr aus Saudi Arabien zufliesst.
Mehr und mehr Hauptströmung im Islam
Doch wer auf die heutigen Entwicklungen schaut, muss sich fragen: Trifft das wirklich zu? Ist es tatsächlich nur eine Nebenströmung? Wie kommt es denn, dass die salafistischen Gruppen in so gut wie allen islamischen Ländern von Nigeria bis nach Indonesien wachsen? Und wie ist es zu erklären, dass ein Islamverständnis, das auf salafistischen Grundlagen beruht, auch im Selbstverständnis sehr vieler Muslime um sich greift, die sich selbst einfach als Muslime sehen, nicht notwendigerweise spezifisch als Salafisten?
Sichtbarster Ausdruck: Hijab
Das Umsichgreifen der Schleier für Frauen ist wohl der sichtbarste Ausdruck dieser Entwicklung. Immer mehr Musliminnen tragen den Schleier, und sie alle sind der Ansicht, dies sei ein Zeichen ihres Islams oder gar ihre Verpflichtung im Islam. Zwei, drei Generationen zurück gab es natürlich auch Verschleierung, doch deutlich seltener, und die Sache wurde viel weniger ernst genommen. Sie wurde eher als Sitte denn als religiöse Pflicht eingestuft.
Es gibt viele andere innerislamische Entwicklungen, die erkennen lassen, dass der Gesetzesislam "die Scharia" heute von einer grossen Zahl – bereits einer Mehrzahl? – von Muslimen beiderlei Geschlechts als die Essenz der Religion angesehen wird.
Ghazali macht Ibn Taymiya Platz
Der grosse Theologe al-Ghazali (gestorben 1111) hat seine "Wiederbelebung der Religion" (der Titel seines Hauptwerkes) auf der Grundthese aufgebaut, dass der Islam mehr sei als Gesetzeserfüllung, ja dass es auch bei der Gesetzeserfüllung entscheidend auf den Geist ankomme, in dem diese geübt werde, nicht auf die blosse äussere Durchführung.
Ghazali war noch vor dreissig Jahren eine der wichtigsten Quellen für das Selbstverständnis von Muslimen, die ihre Religion ernst nahmen. Heute ist von ihm viel seltener die Rede. Ibn Taimiya (1263-1328) ist als der wichtigste Wegweiser an seine Stelle getreten. Ibn Taimiya besteht auf wortwörtlicher Hinnahme der Gebote und Anweisungen und ihrer buchstabengetreuen Anwendung. Für ihn liegt der Geist, Gottes Wille, seine Weisung, in den Vorschriften selbst; sie sind "heilig". Bei Ghazali hingegen ist es der Geist der Muslime, der ihrem Gottesgehorsam erst Sinn verleiht.
Der mystische Flügel des Islams
Ghazali hat zwischen der islamischen Mystik und dem Islam aller Muslime Brücken gebaut. Ibn Taimya gilt als der Stammvater jener, die den Mystikern zutiefst misstrauen, weil sie bei ihnen unorthodoxe "Neuerungen" wittern. Die Mystik war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein wichtiger Teil des gelebten Islams der muslimischen Völker und der Eliten. Sie existiert noch, mehr im islamischen Osten als im Westen, doch es handelt sich um ein "noch". Überhand nimmt Land um Land die salafistische Ausrichtung. Ihre Vorkämpfer sind bittere Feinde und Gegner der Mystiker. Sie sehen sie als "Polytheisten", die gegen das Grunddogma von der "Einheit" Gottes verstossen. Sie gehen sogar mit Gewalt gegen ihre Kultstätten und Heiligtümer vor. Bomben sind nicht ausgeschlossen.
Stärker noch als diese Gewalt spricht gegen die Mystik wohl der Umstand, dass die islamischen Mittelklassen heute den Gesetzesislam als ihren Islam, ja den einzigen Islam, den es gibt und geben dürfe, verstehen. Dies bewirkt, dass der mystische Islam zunehmend zum Volksislam wird, unmodern, eine Sache von Bauern und städtischen Unterschichten, soweit diese noch in den Vorstelllungen alter, vergangener Zeiten leben.
Hinwendung zum Salafiya Islam
Die Wiederbelebung des Islams in der arabischen und in der weiteren islamischen Welt, die vor fünfzig Jahren begann und heute unverkennbar geworden ist, steht im Zeichen der salafistischen Ausrichtung. Die Scharia und ihre "Erfüllung" wird als das Ziel angesehen, das jede islamische Gesellschaft anstreben müsse. Wenn dies gelänge – dem Einzelnen, aber auch seiner Gesellschaft – , wäre nach heute verbreiterer Auffassung die beste aller Lebensformen erreicht, die in dieser Welt erreicht werden kann, ganz abgesehen vom göttlichen Lohn, der dann auch in dieser Welt gewiss sei.
Keine Ablehnung der Moderne
Wie diese "beste" Gemeinschaft aussehen wird, dürfte bewusst oder unbewusst durch die Vorstellungen und Bilder beeinflusst sein, die im Zuge der Globalisierung auch die islamische Welt überfluten. Die Salafisten selbst sagen oft, sie hätten gar nichts gegen moderne Technik und Wissenschaft einzuwenden, im Gegenteil, sie wollten diese beherrschen und einführen. Im Fall der Computer haben sie sich in der Tat das Internet für ihre Zwecke zu eigen gemacht. Damit gehen auch viele der modernen Wohlstands- und Glücksvorstellungen einher. All dies sei "wertneutral" und beeinträchtige keineswegs den muslimischen Glauben.
Ob und inwieweit dies zutrifft, sei hier nicht diskutiert; jedenfalls findet sich diese Einstellung sehr weit entfernt von der jenseitsorientierten Ausrichtung des Religionsverständnisses eines Ghazali, der selbst Mystiker war.
Was geschah mit dem Fatalismus?
Ein Kennzeichen des traditionellen Islam, wie es immer wieder von allen europäischen Reisenden der Vergangenheit hervorgehoben und oft kritisiert oder karikiert wird, war der "islamische Fatalismus". Die Vorstellung von einem "Geschick", das für jeden unabwendbar feststeht – durchaus auch koranisch – beherrschte offenbar die Gemüter, bis in die gebräuchlichen Redewendungen hinein.
Davon findet man heute nur wenig. Auch die Muslime, gerade der salafistischen Richtung, wollen aktiv wirken, selbst ihr Schicksal bestimmen, nicht erleiden. Die Erfüllung des Gottesgesetzes sehen sie als das Mittel an, das ihnen erlauben würde, Macht, Ansehen, Wohlstand und Wohlbefinden zu erlangen, ihre Feinde und bisherigen Ausbeuter zu überwinden, als das "beste aller Völker" (Qur'an 3/111 ) zu leben, zu wirken und in Erscheinung zu treten.
Neues Verständnis, nicht Sekte des Islam
Der Eindruck drängt sich auf, es nicht einfach mit einer Nebenform des Islam zu tun zu haben, gewissermassen mit einer neuen Sekte, sondern vielmehr mit der Wandlung des Islamverständnisses einer grossen Menge, vermutlich der künftigen Mehrheit der Muslime. Diese Bewegung wendet sich von der Suche nach Gott und dem Streben nach ihm ab und richtet sich auf die Gesetzeserfüllung, die oftmals mit Erfolgshoffnungen in dieser Welt verbunden ist.
Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage, wodurch diese Wandlung bedingt ist. Zur Beantwortung lassen sich die Arbeiten des Arabisten Thomas Bauer heranziehen (1).
Bauer charakterisiert die klassische arabische Kultur bis zum 19. Jahrhundert als eine Kultur der Ambiguität. Er weist nach, dass in allen kulturellen Bereichen, religiösen so gut wie literarischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und sogar im sexuellen Leben eine Neigung besteht, das Wahre und Zutreffende nicht als ein einziges Richtiges und Einmaliges zu fassen, das dem Falschen gegenübersteht, sondern als etwas Vieldeutiges, dessen Ambiguitäten toleriert werden.
Meinungsvielfalt
Die Fachleute der verschiedenen Disziplinen schränken diese Vieldeutigkeit zwar ein, aber sie wird nicht auf Eindeutigkeit reduziert. Vielmehr lassen diese Fachleute im Prinzip die Ambiguitäten bestehen. Bauer spricht deshalb von Ambiguitätstoleranz. Doch er betont auch, dass dies mehr ist als blosse Toleranz.
Oft besteht eine positive Wertung: Hochschätzung der Vielfältigkeit der Meinungen und Aspekte und Freude daran. Er umschreibt einen Wahrheitsbegriff, der nicht definiert und präzisiert, sondern eher umfasst und eingrenzt bei Tolerierung einer Vielfalt der Aspekte und Einsichten. Das Spiel mit dieser Vielfalt und Mehrdeutigkeit kann, etwa im Literarischen, Kunstmittel werden. In der Theologie öffnet es ein weites Spektrum von Möglichkeiten, das auch Widersprüche umfassen kann.
Ein europäischer Wahrheitsbegriff
Thomas Bauer macht klar, dass diese von ihm entdeckte und hervorgehobene Grundkomponente der eigenständigen arabischen Kultur unter dem Druck des europäischen Wahrheitsbegriffes, der sich mit dem Kolonialismus buchstäblich aufdrängt und zunächst machtmässig durchsetzt, verschwindet. Der Geist, der eine Wahrheit definiert, errechnet, sie als allein richtig erkennt, also keine Ambiguität toleriert, setzt sich durch. Er erweist sich als übermächtig und erzwingt eine Umstellung von der Ambiguitätstoleranz und Freude an Vielfältigkeit zur scharfen Scheidung in Falsch und Richtig.
Folgen für das Islamverständniss
Wenn dies zutrifft – und Thomas Bauer kann es sehr glaubwürdig schildern – ist zu erwarten, dass mit der neuen Ausrichtung der Kultur sich auch das Religionsverständnis ändert. Bis zum Eindringen der europäischen Wahrheitsvorstellungen von Falsch und Richtig herrschte auch im Religionsverständnis eine Vielfalt der Auffassungen vor, die als solche bejaht wurde. Neben al-Ghazali gab es Ibn Taimiya, neben den Mystikern die Gottesjuristen der Scharia. Neben Vorstellungen von Schuld und Verantwortung solche von Vorbestimung, beide gründend auf koranischen Texten. Versuche, solche Widersprüche zu versöhnen, gab es. Doch man konnte auch mit ihnen leben. Eine Hochschätzung der Vielfalt der Aspekte durchdrang die gesamte Kultur.
Durchsetzung einer neuen Anschauung
Der Wandel zur Eindeutigkeit von Richtig und Falsch kam erst mit den Überlagerungen und Einflüssen aus dem Westen. Doch er hat sich weitgehend durchgesetzt. Staatsschulen und staatliche Universitäten wurden eingeführt. Ihre Lehre beruhte auf dem westlichen Denkprinzip von Falsch oder Richtig. Richtig war meistens errechenbar. Dies wurde der moderne Standard, auch im Nahen Osten und weiter hinaus in der gesamten globalisierten und technisch durchdrungenen Welt. Man kann sich die Hinwendung zu einem salafistischen Religionsverständnis als eine Parallelerscheinung zur "De-Ambuiguisierung" der gesamten arabischen und vermutlich auch der anderen nahöstlichen Kulturen erklären.
Statt der Vielfalt der "Wege" ("Turuq", der Mystiker) zu Gott, deren man sich in der Vergangenheit freute und rühmte, fordert man nun einen einzigen, den "richtigen", der alle anderen ausschliesst und sogar unter Umständen verbietet und verfolgt, weil sie als falsch angesehen werden. Seine Richtigkeit ist grundlegend, sie darf nicht in Frage gestellt werden, wenn "der Islam" nicht in Frage gestellt werden soll. An die Stelle von Toleranz tritt Wahrheitseifer, umso eifriger, je ungewisser die Gründe sind, auf denen der aus der fremden Kultur importierte und nun in die eigene Lebenswelt übernommene neuartige Wahrheitsbegriff beruht.
Koexistenz wird fragwürdig
Der gegenwärtig neu aufgeflammte Streit zwischen Sunna und Schi'a – nach Jahrhunderten des einigermassen funktionierenden Zusammenlebens – könnte auch hier seine tieferen Wurzeln haben. Nach dem neuen, ursprünglich europäischen Wahrheitsverständnis kann nur eine der beiden Konfessionen recht, die andere muss unrecht haben. Nur durch Ausmerzung der einen, oder mindestens ihre Unterwerfung, kann man sich selbst und der Umwelt beweisen, dass die eigene richtig sei.
Wenn man dieser Argumentation folgt, erkennt man leicht, dass ein Paradox zustande gekommen ist. Durch Übernahme des europäischen, nennen wir ihn cartesianischen Wahrheitsbegriffs (freilich hat Descartes die Religion von seinem Wahrheitsbegriff ausdrücklich ausgeschlossen) ist der Nahe Osten nicht etwa in eine Epoche der Aufklärung eingetreten, sondern in eine der Religionskriege. Früher hatte die Möglichkeit bestanden, Varietäten zu tolerieren, ja hochzuschätzen. Durch die Reduktion der Vielfalt der Wahrheiten auf die eine richtige, wurde auch die Ausgangslage für fanatischen Streit über die Wahrheit schlechthin geschaffen.
Das war auch einmal in Europa der Fall, als die Religionskriege tobten. Ist der Nahe Osten nun auch verdammt, um die richtige Religion zu kämpfen? Solange, bis auch dort materielle Fragen und und Interessen soweit überwiegen, dass sie die Religionsunterschiede, zusammen mit allen anderen religiösen Belangen, in den Hintergrund drängen?
Die Salafiya als Realität
Für die Gegenwart sollten wir uns jedenfalls auf die Möglichkeit, wenn nicht Wahrscheinlichkeit einstellen, dass der Nahe Osten und wohl auch die gesamte islamische Welt in der Zukunft "salafistischer" werden. Entsprechend werden die Muslime ihre Religion zunehmend in das Zeichen der Gesetzeserfüllung und des Nachlebens des in den Überlieferungen kodifizierten Vorbilds des Propheten stellen. Das ist der Weg der Schari'a, des islamischen Gottesrechtes. Damit geht die Vielfalt der religiösen Wege und der Gottesverständnisse verloren
Mit oder ohne Gewalt?
Dabei wird es immer solche Gruppen geben, die mehr predigen und werben und andere, die mehr kämpfen und zwingen, mit anderen Worten, die Gewaltlosen und die Gewaltwilligen. Die Proportionen jedoch, wie viele von der ersten und wie viele von der zweiten Sorte auftreten, dürften sehr stark von den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Zuständen abhängen. Je prekärer die Lage – nicht nur materiell, sondern auch kulturell, politisch und sozial – desto mehr Gewalt wird es geben, die sich auf Religion beruft und sich mit Religion rechtfertigen will.
Man kann einwenden, gegenwärtig seien es ja die Muslimbrüder, nicht die Salafisten, und ihnen verwandte Gruppierungen wie an-Nahda in Tunesien, welche Mehrheiten hinter sich scharten und Wahlen gewönnen. Diese Gruppierungen zeigen sich mindestens ansatzweise bereit, mit anders denkenden Muslimen und sogar Nicht-Muslimen in einer erhofften Demokratie zusammenzuarbeiten. Dies steht immerhin in der Lehre, die sie theoretisch verbreiten, wenngleich sich erwiesen hat, dass die praktische Zusammenarbeit mit den religiösen Aussenseitern viel schwieriger ist, als sie zur Zeit der Opposition und Machtlosigkeit erschienen war. Unter anderem auch, weil die sich selbst als säkular sehenden bisherigen Eliten ihrer Gesellschaften eine Zusammenarbeit unter "islamischer" Führung in der Praxis oft ablehnen, demokratische Majoritätsverhältnisse hin oder her.
Regierungsfähig in der heutigen Welt?
Für diese Gruppierungen besteht auf mittlere Sicht die Schwierigkeit eines sich demokratisch gebenden Islam darin, dass sie erfolgreich regieren müssen, um ihr Ziel einer "islamischen Demokratie" zu erreichen. Sie geraten zusehends in die Zange zwischen den sich als "säkular" bezeichnenden bisherigen Eliten, die nach wie vor im globalisierten Zusammenhang wirken und prosperieren, und den Salafiten, die aus der Opposition ihre Vorstellungen von einem Scharia-Staat verwirklichen wollen und dabei die Zustimmung wachsender Kreise von Muslimen finden.
Was geschehen wird, wenn einmal die Salafisten an die Macht kommen sollten, liegt noch in der Ferne. Man kann vermuten, dass sie allein auf der Basis der Scharia eine moderne Gesellschaft nicht werden regieren können. Sie dürften sich gezwungen sehen, ihre Vorstellungen zu modifizieren, um innerhalb der gegenwärtigen globalisierten Welt prosperieren zu können und ihren Gesellschaften, die dies immer dringender von ihnen erwarten, ein produktives Leben zu ermöglichen. Oder sie werden untergehen. Allerdings, wie rasch oder langsam, ist nicht voraussehbar. Es wird stark von machtpolitischen Entwicklungen im nationalen und internationalen Bereich abhängen.
(1) Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-2-458-71033-2