Empörung kostet nicht viel, schrieb ein Leitartikler im Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ im Zusammenhang mit dem Skandal um die kriminellen Machenschaften von Murdochs Boulevard-Postille „News of the World“. Der Kommentar legt damit den Finger auf eine Schwachstelle der öffentlichen Empörung über die oft skrupellosen Praktiken des Bouelevard-Journalismus bei der Fabrizierung seiner Klatsch- und Enthüllungsgeschichten.
Jetzt sind alle entsetzt
Denn natürlich ist das Publikum nicht völlig ahnungslos, wie diese Stories mit den fetten Schlagzeilen häufig zustande kommen. Schliesslich ist der Skandal um illegale Abhör-Methoden von Murdochs „News of the World“ seit längerem bekannt. Das Anzapfen von Telefon-Beantwortern bei Mitgliedern der Royals hatte schon vor Jahren Schlagzeilen gemacht und einzelne Akteure sind dafür auch gerichtlich verurteilt worden. Erst die Enthüllungen, dass die Combox eines ermordeten Mädchens abgehört und damit eine schmierige Story zusammengekocht worden ist und dass Polizisten für Auskünfte bestochen wurden, hat das Fass zum Überlaufen gebracht und das britische Parlament in Trab versetzt.
Nun geben sich alle entsetzt über so viel schmutzigen Boulevard-Sumpf. Aber die Frage muss erlaubt sein: Hat das Publikum, das bis zur letzten Ausgabe millionenfach das Weekend-Blatt „News of the World“ kaufte und weiterhin in Massen täglich das ebenso unseriöse Sex-and-Crime-Tabloid „The Sun“ konsumiert, aus dieser Empörung konkrete Konsequenzen gezogen? Wird nun in Grossbritannien spürbar weniger seichte Boulevard-Kost konsumiert?
Die Jäger werden zu Gejagten
Dabei geht es nicht allein um die erwähnten Murdoch-Blätter. Niemand zweifelt ja wohl im ernst daran, dass auch in andern Boulevard-Medien mitunter ähnlich üble Machenschaften im Schwange sind, wie sie nun im Falle von „News of the World“ an den Pranger gestellt werden. Und das gilt gewiss nicht allein für das britische Königreich.
Dazu zunächst zwei Klarstellungen. Erstens muss betont werden, dass Murdoch und seine eifrigen Adlaten, die in den Abhör- und Korruptionsskandal um das „News of the World“ verwickelt sind, am Ende doch nicht ungeschoren davon kommen. Der mächtige Medien-Mogul sah sich genötigt, sein am übelsten beleumdetes Revolverblatt einzustellen. Er und seine engsten Spiesgesellen (auch eine Spiessgesellin ist dabei) mussten sich im britischen Unterhaus einem peinlichen Verhör unterziehen. Sein grosser Deal, die Mehrheit des britischen Bezahl-Fernsehers BSkyB zu übernehmen, ist geplatzt. Die Aktien seines Konzerns sind abgesackt.
Die „Jäger sind zu Gejagten geworden“, wie Maureen Dowd, die scharfzüngige Kolumnistin der „New York Times“, feststellte. Ausserdem mussten die beiden obersten Chefs der Londoner Polizeibehörde zurücktreten. Die Mühlen demokratischer Kontrollinstanzen (konkurrierende Medien, die Justiz und schliesslich das Parlament) mahlen beim Murdoch-Skandal zwar langsam, aber sie mahlen nun immerhin.
Klatsch- und Sensationsmedien sind legitim
Zweitens soll hier nicht ein moralinsaures Pamphlet zur Ächtung oder gar zur Abschaffung der Boulevard-Medien verbreitet werden. Das wäre nicht nur weltfremd, sondern auch undemokratisch. Geschäfte mit der Verbreitung von Klatsch und Sensationen zu machen, sollen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Für Unterhaltung mit grell aufgeschminkten Grusel- und Schlüsselloch-Geschichten, Sex und Crime und andern mehr oder weniger prickelnden Stories besteht nun einmal seit eh und je eine breite Nachfrage. Das wussten schon die Märchenerzähler im Altertum und im Mittelalter, als die Mehrheit der Menschheit nicht lesen konnte und noch niemand vom Fernsehen träumte. Und die Nachfrage nach solchem Stoff wird in erster Linie von der menschlichen Neugierde angetrieben – einem Motor, dem wir in manchen Lebensbereichen wie etwa in der Wissenschaft grossartige Fortschritte verdanken.
Die Macht der Leserzahlen und Einschaltquoten
Doch Neugier auf Menschlich-Allzumenschliches und rücksichtsloser Voyeurismus ist nicht das Gleiche. Und wo die voyeuristischen Interessen im Publikum vom Boulevard erst noch mit kriminellen Methoden bedient werden, hätten die Konsumenten, die diese Praktiken nicht billigen, es in der Hand, selber ein wirkungsvolles Stopp-Zeichen zu setzen: Sie könnten diejenigen Medien, die die Grenzen des Tolerierbaren überschreiten, boykottieren. Falls bei einer solchen Empörungs-Aktion genügend Konsumenten mitmachen, würde dies den Verantwortlichen in den Medienhäusern schnell und tief unter die Haut gehen – das gilt für die Leserzahlen beim gedruckten ebenso wie für die Einschaltquoten beim elektronischen Boulevard.
Wer aber soll solche Boykott-Aufrufen organisieren? Sie könnten zum Sanktionsarsenal von nichtstaatlichen Presseräten oder von andern privaten Institutionen und Stiftungen gehören. Aufrufe mit genauerer Begründung zum Boykott krass fehlbarer Medien liessen sich bei Skandalen, wie sie jetzt Grossbritannien in Wallung bringen, jedenfalls verhältnismässig einfach verbreiten.
Man kann etwas tun
Schwieriger könnte es werden, die notwendige kritische Masse von Medienkonsumenten dazu zu bewegen, bei einem gezielten Konsumenten-Streik mitzumachen. Zwar kämpfen viele unter den grossen traditionellen Boulevard-Blättern (vom „Blick“ über „Bild“ bis zu den britischen Tabloids) wie andere Print-Medien auch unter Auflageschwund. Doch das hat kaum mit einer krtischeren Einstellung der Leser, als vielmehr mit der Konkurrenz im Internet zu tun.
Dennoch hat die Idee einer Boykott-Bewegung als Reaktion auf extreme und kriminelle Missbräuche im Sensationsgeschäft der Boulevard-Medien etwas Bestechendes. Sie hat nichts mit staatlicher Zensur zu tun. Aber sie könnte dem Publikum schärfer ins Bewusstsein bringen, dass zwischen den Machenschaften, wie sie jetzt im Falle von „News of the World“ an den Pranger gestellt werden, und den Konsumenten eine gewisse Komplizität besteht – und dass man dagegen etwas tun kann. Die Empörug würde immer noch nicht viel kosten, aber sie bekäme Gewicht.