Dass die Europäische Union in bedenklichem Masse an politischem Rückhalt bei den Bürgern verliert, ist ein Prozess, der sich nicht allein mit den handelnden Personen erklären lässt. Denn die handelnden Personen sind immer auch Teil von Prozessen, die von ihnen unabhängig ablaufen.
Das doppelte Gesicht Europas
Massenarbeitslosigkeit, Euro Krise oder Migrationsproblematik sind Symptome für Fehlentwicklungen, deren Anfänge weit zurück liegen können. Wenn es der Soziologie oder politischen Wissenschaft gelingt, Licht in dieses Dunkel zu bringen, kann das nur willkommen sein.
Rechtzeitig zur Wahl ist in der Edition Suhrkamp ein kleiner Band des Soziologen Hauke Brunkhorst erschienen. Er beschäftigt sich mit den Licht- und Schattenseiten, die er so eng miteinander verbunden sieht, dass er von einem „doppelten Gesicht Europas“ spricht. Als Vorlage dafür dient ihm Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, in denen Licht und Dunkel untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Gestalten des Mr. Hyde
Wie lässt sich dieser Zusammenhang nun für Europa denken und darstellen? Schon ganz am Anfang sieht Brunkhorst beide Seiten am Werke. Aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege sei die Idee entstanden, nicht nur ein einiges Europa zu schaffen, sondern auch die Grundlagen für die freie Entfaltung der Menschen zu legen. Antifaschismus und sozialistische Ideale bis hin zur Idee einer weltumspannenden Friedensinstitution wie die Vereinten Nationen waren die Blaupausen für die ersten Ideen, aus denen Europa entstand.
Dieser idealistischen Seite aber trat eine andere sehr schnell entgegen: Es waren dies die Vertreter der Restauration, des Kapitalismus, des Ordo-Liberalismus und des autoritären Staates. Auf diese Weise wurden die Verträge und die daraus folgende Gesetzgebung umgeschrieben oder umgebogen. Dr. Jekyll wurde zum Gefangenen von Mr. Hyde.
Evolution und Revolution
Dieser Prozess begann nicht erst in der Nachkriegszeit. Vielmehr wiederholte er Tendenzen, die Hauke Brunkhorst schon in der philosophischen Aufklärung und in der französischen Revolution und ihrem Gefolge ebenso beobachtet wie in der Geschichte Amerikas. Immer gibt es Vertreter der Freiheit, die ganz im Sinne von Immanuel Kant Gesetze formulieren, die der Autonomie des Einzelnen und den Ansprüchen der Gemeinschaft dienen. Sogleich stellen sich ihnen machtorientierte Interessenvertreter entgegen, die die Ideale so umbiegen, dass am Ende die Herrschaft der wenigen Reichen in trockenen Tüchern ist.
Der Witz an Brunkhorsts Überlegungen besteht nun darin, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist. Auch die schönsten Gesetze unterliegen einem Prozess der Evolution, wie Brunkhorst das nennt, und verlieren so den Schmelz ihrer idealistischen Ausrichtung: „Doch die Evolution bleibt die Herrin der Revolution.“ In der Regel erhebt sich gegen die Erstarrung Widerstand. Unter Umständen entsteht daraus eine Revolution aus idealistischen Motiven. Aber auch hier gilt: „Jede Revolution ist ein Kapitalverbrechen.“
Ethos statt Wissenschaft
Wenn Brunkhorst also die Entwicklung der europäischen Union nach dem Schema von Dr. Jekyll und Mr. Hyde nachzeichnet, dann handelt es sich dabei nicht einfach um ein simples Schema von Gut und Böse. Vielmehr geht es um Tendenzen, die nicht nur miteinander verquickt sind, sondern sich auch gegenseitig bedingen. Dass Brunkhorst sich selbst als Vertreter von Doktor Jekyll sieht, ergibt sich aus seiner ganzen Argumentation. Denn es wäre ihm schon lieber, wenn Mr. Hyde nicht ständig in Gestalt schnöder militärischer, wirtschaftlicher oder schlichter Machtinteressen auftreten und seine Finger höchst wirksam im Spiel hätte.
Das ist verständlich, aber Ethos ersetzt nicht den wissenschaftlichen Blick. Die eigentlich interessante Frage wäre ja, warum sich Tendenzen, die gegenüber idealistischen Ansprüchen doch weit weniger attraktiv wirken, sich immer wieder unübersehbar durchsetzen. Es gibt Soziologen, die sich dieser Frage unvoreingenommen angenommen und darauf ihr gesamtes Theoriedesign abgestellt haben. Der bekannteste ist Niklas Luhmann. Brunkhorst geht in seinem Buch selten auf ihn ein, aber wenn er es tut, dann ist in seinen Augen Niklas Luhmann nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Apologet des Mister Hyde. – Das ist ein populäres Missverständnis bis heute.
Wiederkehr des Kolonialismus
Was aber bietet Hauke Brunkhorst seinen Lesern als Erkenntnisgewinn? Ganz sicher sind es viele Details aus der Rechtsentwicklung vom Beginn der Europäischen Union bis heute. Und ab und zu gibt es ein Resümee im Zusammenhang mit gegenwärtigen Entwicklungen. So heisst es in Bezug auf die Migrationsproblematik an den Aussengrenzen Europas: „Auch der europäische Bürgerstatus hebt lediglich die gewaltsame Ausgrenzung an den Grenzen der Gliedstaaten auf, aber nur, um an den Grenzen der Union umso furchtbarer wiederzukehren. Es ist die Wiederkehr des verdrängten Kolonialismus.“
Dem hält Brunkhorst “bahnbrechende Entscheidungen des Strassburger Menschenrechtsgerichts“ entgegen: „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die – bislang ungebrochen fortbestehende – Gewaltsamkeit des Grenzregimes weitgehend illegalisiert, alle Konstruktionen rechtsfreier Räume zwischen Staaten für nichtig erklärt und, besonders in der Entscheidung >Hirsi v. Italy<, wichtige erste Schritte zur Zivilisierung des Gewaltskerns politischer Herrschaft unternommen.“
Hier kämpfen also noch einmal Doktor Jekyll und Mr. Hyde gegeneinander. Der beobachtende Soziologe quittiert das mit grossem Beifall, aber er stellt nicht die Frage, wie weit Urteile dieser Art auch in den unteren Schichten der europäischen Bevölkerung auf Akzeptanz stossen. Es gibt gute Gründe dafür, den Populismus vehement zu bekämpfen. Aber wenn man darin erfolgreich sein will, sollte man nicht die Augen vor den unangenehmen Tatsachen begrenzter sozialer Akzeptanz verschliessen. Der Erklärungsansatz von Hauke Brunkhorst hilft da nicht weiter und in Bezug auf die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union ist er nicht mehr als eine Fussnote.
Hauke Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas, Edition Suhrkamp 2014