Der Gegendiskurs ist jener der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Er blieb viele Jahrzehnte hindurch unbekannt in Europa. Nur ein paar Menschen aus dem Westen vernahmen ihn, die Gelegenheit hatten, mit Palästinensern zu sprechen und mehr oder weniger direkt an ihrem Flüchtlingsleben teil zu nehmen.
Die Balfour-Erklärung von 1917
Die Palästinenser weisen darauf hin, dass ihr Kampf um ihr eigenes Land gegen "die Juden" - manche haben gelernt vorsichtiger, "die Zionisten" zu sagen - schon lange vor der Gründung des Staates Israel begonnen hatte. Für sie ist der Beginn ihrer Israel-Erfahrung die Balfour-Erklärung von 1917, in welcher der britische Aussenminister während dem Ersten Weltkrieg und kurz bevor sich eine britische Armee von Kairo aus zur Eroberung Palästinas aufmachte, den Juden eine "Heimstätte" in Palästina versprach. "Als ob er irgend ein Recht gehabt hätte, über unser Land zu verfügen", wie die Palästinenser betonen.
Die Palästinenser berichten von mehreren Verzweiflungsaufständen gegen die Kolonialmacht und gegen die von ihr angesiedelten Zionisten. Sie wurden allesamt von der britischen Kolonialmacht niedergeschlagen. Die Opfer aus jener Zeit sind noch heute gegenwärtig. Um die grosse Erhebung der Jahre 1935 und 1936 blutig abwürgen zu können, mussten die Engländer Truppen aus Grossbritannien nachschieben.
Gebrochene Zusagen
Zum palästinensischen Diskurs gehört auch das gebrochene Versprechen der Kolonialmacht. Diese sagte kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu, die Einreise von weiteren Zionisten zu beschränken und am Ende ganz einzustellen. Sie versuchte auch, nach dem Krieg ihr Wort zu halten. Doch der Druck aus Amerika und aus Europa, die jüdischen Flüchtlinge und Überlebenden der Nazilager nach Palästina einreisen zu lassen, wurde zu gross. Er wurde verstärkt durch Terrorakte der Zionisten gegen die Briten und die Palästinenser.
Grossbritannien entledigte sich zuletzt seiner Verantwortung, indem es das Palästinaproblem der neu gegründeten UNO übergab. Dieses Problem war natürlich in der Zwischenkriegszeit von den Engländern durch ihre pro-zionistische Politik selbst geschaffen worden. Daraufhin kam es, primär auf Betreiben der Amerikaner, zum Teilungsbeschluss der Uno, entgegen allen Versprechungen früherer Zeiten, nach denen die Bevölkerung Palästinas von der Mandatsmacht Grossbritannien zur Unabhängigkeit und Selbstbestimmung geführt werden sollte. Die Palästinenser sehen dies als einen Verrat der Engländer gegenüber ihrer Nation.
Vertreibung, Enteignung, Staatenlosigkeit
Dem Verrat folgte der "Diebstahl" ihres Landes, wie sie sich normalerweise ausdrücken, durch die Zionisten mit der abschliessenden Katastrophe der Vertreibung des grössten Teils ihres Volkes aus Palästina. "Wenn die Juden für die Untaten kompensiert werden sollen, die in Europa ihnen gegenüber begangen wurden", so die Palästinenser einhellig, "dann wäre es an Europa gewesen, sie in Europa zu kompensieren. Wir haben mit den europäischen Judenverfolgungen gar nichts zu tun. Warum soll die Sühne uns angelastet werden?".
Die Vertreibung aus Palästina ist die Grundgegebenheit im Leben aller Exilpalästinenser, aller Generationen. Das Streben danach, sie rückgängig zu machen, hat nie aufgehört. Zuerst versuchten die Vertriebenen, ihre " Rückkehr" mit Hilfe der arabischen Staaten zu erreichen. Diese traten in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Vertreibung als Garanten auf, welche die Rückkehr erkämpfen würden. Doch ihre Verheissungen wurden unglaubwürdig durch die grosse Niederlage Abdel Nassers im Jahr 1967. Und einige Palästinenser hatten bereits in den Jahren zuvor daran zu zweifeln begonnen, dass die arabischen Staaten sich tatsächlich, nicht nur in Propagandaslogans, ihrer Sache annehmen könnten.
Dies hatte zur Gründung von Selbsthilfeorganisationen geführt, die, ermuntert durch den vietnamesischen Widerstand jener Jahre, ihre Sache selbst in die Hand nehmen wollten. Die Zeit Yasser Arafats und der Seinen begann 1965. Die arabische Staatenwelt trat nur zu gerne die Verantwortung für das weitere Geschick der Palästinenser an diese selbst ab. Die arabischen Politiker unterstützen die Palästinakämpfer verbal, soweit es ihnen in ihre Politik passte, weil deren Anliegen bei ihren Völkern von grossem Gewicht waren.
Hoffnung auf Rückkehr aus eigener Kraft
Kurz nach der schweren Niederlage von 1967 gab es gewaltige Hoffnungswellen, dass es den heldenhaften "Fedayin", Selbstaufopferern, gelingen könnte, die Israeli letzten Endes dazu zu zwingen, Palästina zu räumen. Ein Kampf bei Karame in der Jordansenke, in dem zum ersten Mal palästinensische Kämpfer der israelischen Armee einigermassen erfolgreich Widerstand leisteten, weckte Hoffnung bei der verzweifelten Flüchtlingsbevölkerung. Damals wollten mehr Freiwillige zur PLO stossen, der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“, als diese in ihre noch jungen Strukturen aufnehmen konnte.
Ein Nebeneffekt dieser Kämpfe war, dass die Palästinenser sich selbst als eine eigene Nation im Exil erkannten und zu formieren suchten. Zuvor war Palästina, wie Syrien, der Irak, Transjordanien und Libanon eine Region der arabischen Welt gewesen, die ihrerseits jahrhundertelang, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Teil des Osmanischen Reiches gewesen war. Auch das Ausland begann, die Palästinenser nicht mehr einfach als Araber einzustufen, sondern spezifisch als Palästinenser zu sehen, obwohl sie nun überwiegend im Exil lebten und viele in Flüchtlingslagern elend dahin vegetierten.
Widerstand auch mit Terrormethoden
Der Widerstand gegen Israel hat nie völlig aufgehört. Er kannte Zeiten heftiger Aktivität und solche von beinahe völliger Grabesruhe. In Israel sorgten die Israeli selbst dafür, dass die dort verbliebenen Palästinenser, ursprünglich nur gegen 120 000, heute durch natürlichen Zuwachs beinahe zehnmal mehr, sich nicht assimilieren konnten, weil sie von ihnen als Fremdkörper behandelt, weitgehend enteignet, und in vielen Fällen systematisch erniedrigt und nach Kräften schikaniert und misshandelt wurden.
Doch die Versuche der PLO, einen Guerillakrieg gegen Israel auszulösen, wurden immer wieder von den Israeli erstickt. Wenn sie der palästinensischen Infiltratoren nicht direkt habhaft wurden, schlugen die Israeli auf die Länder zurück, aus denen die Infiltratoren kamen. Sie zwangen durch Schläge ihrer überlegenen Streitkräfte die Regierungen von Jordanien, Syrien und Libanon, selbst dafür zu sorgen, dass die Palästinaflüchtlinge sich in ihren Ländern ruhig verhielten.
Der Bau der Sperrmauer
Weil ein echter Guerillakrieg nicht wirklich zustande kam, schritten die Palästinenser oftmals, statt zu versuchen Kämpfer einzuschleusen, zu Bombenanschlägen. Flugzeugentführungen wurden zur Spezialität einer Sondergruppe, die sich Volksbefreiungsfront Palästinas nannte (PFLP). Doch auch für diese Methoden fanden die Israeli über die Jahre hin wirksame Gegenmassnahmen.
Eine davon war der Bau der Sperrmauer, die nicht auf der Trennungslinie zwischen dem Staat Israel und den von ihm 1967 besetzten Gebieten verläuft, sondern östlich dieser Linie mit tiefen Einschnitten in das besetzte Westjordangebiet, das nach dem Völkerrecht Israel nicht gehört. Die zahlreichen Strassensperren mit Soldaten der Besatzungsarmee, die seit dem Jahr 2000 alles Wirtschaftsleben in den besetzten Gebieten des Westjordanlands abwürgen, wurden von Israel damit gerechtfertigt, dass sie für die Sicherheit ihres Landes notwendig seien.
Leben unter Besetzung
Der Bau von israelischen Siedlungen in den Besetzten Gebieten begann schon kurz nach der Eroberung Westjordaniens. Sie wurden später durch Strassen und Autobahnen, die nur israelische Siedler benützen dürfen, mit dem eigentlichen Israel verbunden. Dazu kommen ständige Eingriffe der israelischen Streitkräfte in die palästinensischen Siedlungsgebiete, um Verdächtige gefangen zu nehmen. Das Ganze wird ergänzt durch ein dichtes Netz von Spionen, die bezahlt oder gezwungen werden, allen Aktivitäten ihrer Landsleute nachzuspüren.
Eine übergesetzliche Notstandsbefugnis, die die Engländer in der Kolonialzeit eingeführt hatten, behielten die Israeli gegenüber den Palästinensern bei. Sie erlaubt ihnen, Palästinenser ohne Gerichtsverhandlung durch "administrativen" Entscheid der militärischen Besetzungsmacht festzunehmen und sie sechs Monate lang - zudem beliebig verlängerbar – ohne jede Begründung gefangen zu halten. Auch die Zerstörung von Häusern, deren Bewohnern sie vorwerfen, mit ihren Feinden, den "Terroristen", in Verbindung zu stehen, vollzogen auf einfachen Befehl der Besetzungmacht hin, stammt aus dem Arsenal der früheren Kolonialmacht.
Sabotierte Zweistaatenlösung
Die Palästinenser schauen mit Bitterkeit auf die angebliche Zweistaatenlösung zurück, die ihnen 1993 versprochen wurde. Damals hatten sich Arafat und seine Fatah Bewegung in Anbetracht ihrer finanziellen Nöte und ohne die geringsten Erfolgsaussichten im Kampf gegen Israel dazu überreden lassen, Israel als legitimen Staat anzuerkennen. Sie glaubten, dafür eine Zusage der Amerikaner und der Israeli erlangt zu haben, dass sie in den besetzten Jordangebieten ihren eigenen palästinensischen Rumpfstaat errichten dürften.
Diese Zweistaatenlösung hätte in den fünf auf 1993 folgenden Jahren verwirklicht werden sollen. Doch es kam nicht dazu. Die Israeli hatten den Vertrag so formuliert, dass sein Wortlaut ihnen die Möglichkeit bot, den Palästinensern "weniger" als einen vollen Staat zuzuerkennen. Nach sieben Jahren der Verhandlungen und der periodischen Zwischenfälle stellte sich heraus, dass sie besten Falls gewillt waren, den Palästinensern sehr viel weniger als einen eigenen Staat zu gewähren: nur gerade eine fragwürdige Teilautonomie in einigen der dicht bewohnten Bevölkerungszentren der Westjordangebiete.
Unehrliche Makler
Die Amerikaner, die als Vermittler zwischen den beiden Vertragsparteien aufgetreten waren und die die einzigen Vermittler waren, die Israel dulden wollte, erklärten jedesmal, wenn die Verhandlungen stockten, weil die Israeli die versprochene Zweistaatenlösung nicht in vollem Masse durchführen wollten, die Palästinenser müssten sich mit den Israeli verständigen, und liessen sie damit ihrem machtmässig weit überlegenem Verhandlungspartner gegenüber im Stich.
Die Palästinenser fühlten sich einmal mehr hintergangen und betrogen. In ihren Augen hatten die Israeli mit amerikanischer Rückendeckung eine neue Methode gefunden, um sich der kümmerlichen Reste von 23 Prozent des plästinensischen Territoriums zu bemächtigen, die den Palästinensern mit den Westjordangebieten verblieben waren.
Jerusalem usurpiert
Westjerusalem wurde zum besonderen Streitpunkt. Die historische Altstadt, die bis 1967 zu Jordanien gehört hatte, wurde von Israel einseitig annektiert. Dazu schlugen die Israeli auch eine weite umliegende Zone auf Kosten der palästinensischen Ansprüche, die sie als grossstädtisches Einzugsgebiet für Jerusalem bezeichneten. Die Enteignung von Ostjerusalem ist für die Palästinenser besonders schmerzlich, weil alle Verkehrswege, die den nördlichen mit dem südlichen Teil der Besetzten Gebiete verbinden, über Jerusalem führen.
Gaza blockiert
Ein Betrug fand in palästinensischen Augen auch in Gaza statt. Die Israeli beschlossen im Jahre 2005 unter Sharon mit grossem Tamtam, aus Gaza abzuziehen. Doch sie gewährten der von Palästinaflüchtlingen schwer überfüllten Enklave keine wirkliche Unabhängigkeit. Sie kontrollierten ihre Grenzen und schlossen sie zu Land und zu Wasser ein. Sogar den Flugplatz von Gaza, den die Europäer finanziert hatten, zerstörten sie, um den Bewohnern des Gazastreifens jeden Weg nach aussen, den sie nicht kontrollieren konnten, abzuschneiden. Ägypten unter Mubarak schloss ebenfalls seine Grenze zu Gaza, und das palästinensische Territorium wurde auf diesem Weg zum grössten Freilichtgefängis der Welt.
Dass gewisse Bewohner von Gaza zahlreiche selbstgebastelte Raketen ohne Zielmechanismus auf die umliegenden israelischen Gebiete abfeuerten, die nur geringen Schaden anzurichten vermochten, diente den Israeli als Rechtfertigung für ihre Militärschläge auf die Enklave, die Ende 2008 die Form eines vollen Vernichtungskrieges annahmen. Dieser wurde 2012 als reiner Bombenkrieg wiederholt.
Verhandlungen ohne Ende
Die Kämpfe festigten die Herrschaft der von den Palästinensern gewählten Hamas über die Enklave. Hamas trat als Rivalin der Fatah Arafats auf und weigerte sich, wie diese es 1993 getan hatte, Israel als legitimen Staat anzuerkennen. Die Haltung von Hamas fand Beifall bei vielen Palästinensern, die sich durch die versprochene aber nicht verwirklichte Zweistaatenlösung, der Arafat und seine Fatah Anhänger zugestimmt hatten, während Hamas sie ablehnte, einmal mehr hintergangen sahen.
Im Gegensatz zu Hamas versuchte Fatah nach dem Tod Arafats, von dem viele Palästinenser nicht ohne ernsthafte Indizien annehmen, dass er von den Israeli vergiftet wurde, weiterhin über eine Zweistaatenlösung zu verhandeln. Doch im Jahr 2010 führte die Weigerung der israelischen Regierung, dem Bau von mehr und mehr Siedlungen auf palästinensischem Land in den Besetzten Gebieten einzustellen, zum Abbruch aller Verhandlungen.
Der dritte Teil mit der Bewertung der Sichtweisen beider Seiten erscheint am Samstag, den 22. Dezember 2012, im Journal21