Als im Jahre 1961 in Basel das erste Jugendparlament gegründet wurde, gab es wie selbstverständlich von Anfang an eine Europa-Partei. Sie bildete, soweit ich mich erinnere, die grösste und aktivste Fraktion. Benedikt von Tscharner, der später die Schweiz bei der EU in Brüssel vertrat, gehörte dazu und viele andere helle Köpfe. Ich besuchte damals die oberste Klasse des Realgymnasiums und war stolz, zusammen mit den ‚Grossen’, die schon an der Alma mater ein- und ausgingen, zu den Gründern zu gehören.
Europabefürworter waren die Avantgarde
Sieben Jahre vor der 68er-Bewegung lag die Schweizer Jugend durchaus nicht im Winterschlaf, ja man ging sogar, wenn auch gesittet und einige mit Krawatte, für seine Anliegen auf die Strasse. Wichtig aber: Europa in Form der EWG und nicht nur der lauwarmen EFTA war kein Tabu, sondern für viele der wünschbare Weg und für andere, wenn auch nicht die beste Option, so doch zumindest nicht des Teufels.
Fünfzig Jahre später sieht die Welt anders aus. Europa ist einerseits politisch weit näher zusammengewachsen, als wir es uns damals hätten träumen lassen, umgekehrt ist die Schweiz in der Europafrage zutiefst gespalten. Auch die ‚Schweizer Europäer’ sprechen bestenfalls noch von einer Vernunftehe und nicht mehr wie damals von einer Liebesheirat, während ihre Gegner hinter der EU den Leibhaftigen sehen, dem nur mit dem Weihwasser von Referenden und Initiativen beizukommen ist.
Spitzenplatz der Schweiz
Friedrich Dürrenmatt liebte das Spiel mit geschichtlichen Varianten: Wie hätte sich die Welt entwickelt, wenn die Geschichte damals jene statt diese Wendung genommen hätte? Wie sähe die Schweiz heute aus, wenn sie sich schon bald der EWG und später der EG und der EU angeschlossen hätte? Wäre die EU heute weniger zentralistisch, gäbe es dank unseres Mitwirkens Elemente der direkten Demokratie und spielte das Subsidiaritätsprinzip eine wichtigere Rolle?
Über diese Fragen könnten ganze Bücher geschrieben werden, doch der Physiker überlässt das Spekulieren lieber den Politologen und andern Fachleuten. Aber es gibt in der europäischen Zusammenarbeit ein Gebiet, in dem die Schweiz schon immer eine wichtige Rolle gespielt hat und von der EU als gleichwertige Partnerin, ja Pionierin betrachtet wird: die Forschung. Es ist mehr als blosse diplomatische Höflichkeit, wenn hohe EU-Vertreter aus dem Bereich Forschung und Innovation immer wieder in die Schweiz kommen, so letztmals am 14. Januar nach Bern zur Startveranstaltung von ‚Horizon 2020’, dem neusten EU Forschungsrahmenprogramms (2014-2020), zu dem auch Kommissarin Máire Geoghegan-Quinn angereist war.
Konsequente Politik
Doch das Ansehen der Schweizer Forschung innerhalb der EU kam nicht über Nacht. Sie ist das Produkt einer konsequenten Politik, welche auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht, als Europa sich neu finden musste.
Sie beruhte auf zwei Pfeilern, erstens der Stärkung der Forschung im eigenen Land und zweitens der Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit durch den Austausch von Ideen und Forschenden über die nationalen Grenzen hinweg. Die Gründung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) im Jahre 1952 diente vor allem dem ersten Ziel, hatte aber durch die Vergabe von Ausland-Stipendien an junge Forschende aus der Schweiz von Anfang an auch das zweite im Auge.
Die Schweiz ist Gründungsmitglied und Standortland des CERN (1954), Gründungsmitglied der Europäischen Raumfahrt Agentur ESA (1975) und partizipiert seit 1987 an den EU-Forschungsprogrammen, wenn auch vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens (2004) noch mit begrenzten Rechten. Sie war von Anfang an bei der European Science Foundation ESF dabei (Gründung 1974) und stellte mit Peter Fricker von 1993 bis 1998 den Generalsekretär.
Diese Liste könnte fortgesetzt werden, aber der springende Punkt ist der: Ohne die offensive internationale Politik der Schweizer Forschenden, welche mit der Igelhaltung anderer gesellschaftlicher Bereiche deutlich kontrastiert, hätte die Schweizer Forschung mit ihren begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen nicht einen Spitzenplatz in Europa und der Welt erringen können, sie würde nicht regelmässig ganz vorne stehen auf Ranglisten für Universitäten, wissenschaftliche Publikationen und Zitierungen, für Innovationsleistung und Patentierungen.
Vordenken statt Nachvollziehen
Die Schweizer Forschung hat sich in Europa nicht nur erfolgreich positioniert, sie hat auch immer wieder wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des Europäischen Forschungsraumes gegeben und dabei insbesondere zwei Grundsätze verfochten: Erstens das Subsidiaritätsprinzip, wonach die kompetitive Forschungsfinanzierung auf europäischer Ebene (der ‚Champions League’) eine gute Unterstützung der Forschung auf nationaler und universitärer Ebene (der ‚National League’) voraussetzt. Tatsächlich sind jene Länder, welche ihre nationale Forschungsförderung mit dem Argument vernachlässigt haben, es gäbe jetzt ja den europäischen Geldtopf, dort erfolglos geblieben. Zum Glück hat die Schweizer Politik bis jetzt der Versuchung getrotzt, diese beiden Ebenen gegeneinander auszuspielen.
Zweitens war und ist die Schweiz eine Vorreiterin, wenn es um die freie, also nicht thematisch eingeschränkte Grundlagenforschung geht. Viele der heute in Europa angewandten Instrumente sind aus einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer Nationalfonds und seinen deutschen und österreichischen Schwesterorganisationen, der sogenannten D-A-CH Gruppe, hervorgegangen. Zwei Beispiele: Das Prinzip ‚Money Follows Researcher’, wonach Fördergelder bei einem Ortswechsel des Forschers über die Grenze transferiert werden dürfen, entstand als bilaterale Vereinbarung zwischen nationalen Forschungsförderorganisationen. Und die Stipendien für junge Forschende, welche heute im Rahmen des European Research Councils (ERC) vergeben werden, gehen auf das Instrument der Förderungsprofessur des SNF zurück, wo einzig die Qualität der Forschung, nicht – wie in der EU sonst üblich – das gewählte Gebiet zählt. Kurz, in der Forschung war die Schweiz oft Pionierin, nie Nachvollzügerin.
Die Forschung als Dürrenmatt’sche Alternative zum Verhältnis Schweiz – EU? Ein bisschen ist sie das durchaus, auch wenn die Ausgangssituation in andern Politikbereichen, in der Landwirtschaft zum Beispiel, nicht die gleiche war. Und doch bleibt die Frage: Wieso hat sich das einstige heilige Europafeuer des Basler Jugendparlamentes in der Forschung bis in die Gegenwart retten können und was wäre daraus zu lernen? – Sicher ist nur das eine: Mit unserem reaktiven Verhältnis zu Europa lässt sich nicht mehr lange Staat machen.
Möglicher Kollateralschaden
Generalsekretär Robert-Jan Smits, ein Bewunderer der Schweizer Forschung, hat an der erwähnten Veranstaltung vom 14. Januar die Dynamik und den Vorbildcharakter der Schweiz im Forschungsrahmenprogramm gelobt und zugleich – auf eine Frage eines Journalisten antwortend – seine grosse Besorgnis über die möglichen Folgen eines Ja am 9. Februar zur Initiative gegen die Masseneinwanderung ausgedrückt. Das wäre für die Schweizer Forschung tatsächlich ein katastrophaler Kollateralschaden.
Übrigens: Das erste Basler Jugendparlament hat die 68er-Bewegung laut Akten des Basler Staatsarchivs nicht überlebt; es ging 1969 wieder ein. Im Jahre 1995 wurde ein neues Jugendparlament gegründet, das es ebenfalls nur gerade acht Jahre (bis 2003) schaffte. Seit 2005 gibt es den 13-köpfigen „jungen rat“, eine regierungsrätliche Kommission. Ob in dieser domestizierten Variante Tabus wie Europa auch noch Thema sind? Oder geht es vor allem um verbilligte ÖV-Tarife, wie das die Webseite suggeriert?