Alles spricht von Kreativität, aber in der Entwicklung von Produkten steht der vermeintliche Kundenwille im Vordergrund. Herauszufinden, was der Kunde wünscht, gilt als Schlüssel zum Erfolg.
Man sieht es den Produkten an. Sie sind darauf berechnet, möglichst vielen zu gefallen. Dem Mainstream aber wohnt kein Zauber inne. Der entsteht erst dann, wenn wirklich Neues auf den Weg gebracht wird.
Die andere Geschichte
Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, handelt genau davon. Am Anfang steht der Maschinenbauingenieur Clemens Neese, der sich für eine Idee begeisterte. Er wollte einen extrem kleinen und leichten Sechszylindermotor bauen. Es gibt eben diese Ideen, die, wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben, schlaflose Nächte im besten Sinne des Wortes verursachen.
Neese: „Ich war mit Anfang, Mitte 40 bereit, risikoreichere Sachen zu machen. Der Anlass war die Idee, die schlichte Überlegung, mit ein paar Freunden zusammen, mit denen ich Motorrad fahre, einen Motor, der von seiner Bauart der kompakteste ist, in ein Fahrzeug - ein Motorrad - zu bauen, das genau diese Kompaktheit erfordert.“
Nun sprach Clemens Neese mit Ingenieuren von VW, denn die haben viel Erfahrung mit äusserst kompakten Sechszylindern. Hier erhielt er Tipps, und man vereinbarte einen weiteren Erfahrungsaustausch. Ausserdem hat Neese auf Anraten eines Freundes seine Idee im Jahr 2004 zu einem Patent angemeldet. Er erhielt es 2007: „VR-Motor im Einspurfahrzeug“.
Erste Erprobung
Im April 2006 gründete Neese zusammen mit seinen Arbeitskollegen Frank Fischer und Fritz Rombach eine eigene Firma, compact-bike. Sie fingen an, einen Versuchsmotor zu konstruieren. Dies geschah auch in der Zusammenarbeit mit der Hochschule in München. „Unsere Überlegung war, dass uns der Versuchsmotor entweder zeigt, dass es geht, oder auch, dass es nicht geht. Wenn es nicht geht, das war uns klar, dann ist das Geld, das wir in die Firma gesteckt hatten, ein sechsstelliger Betrag, weg.“
Der Versuchsmotor bestand zunächst aus einem einzigen Zylinder – nicht aus sechs. Denn die Ingenieure wollten erst einmal herausfinden, ob der Zylinder die Werte lieferte, die für den gesamten Motor erforderlich sind. Das hat funktioniert, aber nun stellte sich die Frage, was man mit so einem Motor überhaupt anfangen soll.
„Wir hatten noch keinen richtigen Plan. Wir haben dann überlegt, welche Firmen uns unterstützen könnten. Wir hatten schon die Volkswagen AG und die Hochschule München. Ich selber habe mal bei Mahle gearbeitet, der Kolben herstellt. Wir haben also verschiedene Firmen kontaktiert, unsere Idee vorgestellt und gefragt, ob sie mitmachen wollen. Es gab verschiedene Reaktionen, die teilweise zurückhaltend, teilweise positiv waren.“
Motor und Marke
Eine Idee bestand darin, den Motor grossen Motorradmarken anzubieten. Aber das war eher frustrierend. Neese erzählt: „Der erste Einwand war: Da kommt jemand aus dem Nichts und präsentiert einen Motor. Das muss man erst einmal glaubhaft machen. Dann kommt natürlich: not invented here. Dazu kommt: ´Sie behaupten, etwas zu können, was wir nicht können.` - Das ist psychologisch verständlich, und ich werfe das auch niemandem vor. Ich würde genauso reagieren.
Aber das viel Entscheidendere war, dass die Verantwortlichen gesagt haben: Unsere Marke ist mit einem bestimmten Motorentyp verbunden. Wenn man zum Beispiel zu Harley-Davidson geht, wird man immer einen V2-Motor bekommen. Das prägt die Marke. So hat jede Motorradfirma bestimmte Motorenkonzepte, von denen sie sagt, dass diese zu ihrer Marke gehören.“
Horex
Jetzt erst reifte der Gedanke, für den neuen Motor ein eigenes Motorrad zu entwickeln. Doch wollte man nicht ganz auf die Möglichkeit verzichten, sich an eine bekannte Marke anzulehnen. „Wir haben dann eine Markenstudie gemacht. Wir haben geschaut, was es für deutsche Marken gibt und gab und wie bekannt die sind. Im Autobereich gibt es fünf deutsche Marken, die der Markt akzeptiert. Im Motorradbereich gibt es nur eine. Da haben wir gedacht, dass das nicht sein könne; es müsse mehr geben. Es gab in der Vergangenheit Marken wie Sachs, MZ, NSU, Zündapp, Horex, Adler. Das sind alles Marken, die noch eine gewisse Bekanntheit haben.“
Die Marke Horex, die im Jahr 1960 vom Markt verschwunden war, bietet nun die Traditionen, die dem neuen Motorrad förderlich sind. Horex galt immer schon als exklusiv, die meisten Modelle waren sehr elegant und nicht billig. Dazu kam noch etwas Skurriles: In den siebziger und achtziger Jahren gab es einen Comic, „Brösel, Werner eiskalt“. Darin kam eine Horex vor und wurde so den damals jungen Leuten zum Begriff.
Investorensuche
Neben diesen Vorarbeiten und Überlegungen musste eine andere Arbeit in Angriff genommen werden: die Suche nach Investoren. Clemens Neese verhehlt im Rückblick nicht, dass dies eine nervenaufreibende und teilweise frustrierende Sache war. In einem Zeitraum von 2-3 Jahren hat er etwa 150 Plattformen für Investoren kontaktiert. Bis in das Jahr 2008 hinein geschah dies neben seiner Arbeit bei Oracle. Eine der Schwierigkeiten bestand darin, dass Investoren Biotechnologie, Medizintechnik und - zumindest in den Jahren seiner Suche - Solarenergie und Windkraft bevorzugten. Die Renditen im Motorenbau liegen deutlich darunter.
Wesentlich erfreulicher war die Arbeit an der eigentlichen Idee. Zwischen 2008 und 2010 wurde der VR6-Motor als Prototyp entwickelt. Und seit 2007 hatte der Professor für Design an der Hochschule München, Peter Naumann, angefangen, Ideen zu entwickeln. Dazu gehörte, dass er sich intensiv mit den Modellen von Horex beschäftigte und diese wieder und wieder zeichnete, um, wie er sagte, „ein Gefühl dafür zu entwickeln“.
Und auch Neese hatte einige ganz konkrete Vorstellungen: „So habe ich gesagt, dass das Modell nicht breiter als der Motor sein darf. Zudem soll der Motor sichtbar sein. Dazu wollte ich einen runden Scheinwerfer, eine richtige Tankanmutung und ordentliche Schutzbleche. Das ist praktisch das Alte. Das Neue ist der Motor. Hier wurde also das Mini- und Cinquecento-Prinzip auf das Motorrad übertragen. So mutet die Form jetzt klassisch an, ohne retro zu sein. Überwiegend kommt diese Form gut an, aber es gibt natürlich auch Leute, die sie ablehnen. Diese Verbindung zwischen Alt und Neu gibt es beim Motorrad sonst nicht. Entweder werden alte Formen kopiert oder man macht ganz moderne Formen. Für diese gelungene Verbindung haben wir den deutschen Designpreis gewonnen.“
Die Bewerber kommen
Das Jahr 2010 brachte drei Highlights: die Pressepräsentation des Prototypen im Juni in der Flugwerft Schleissheim bei München. Zudem wurde aus compact-bike jetzt offiziell die Marke Horex. Und es begann die Vorbereitung für die Serienfertigung. Die Pressepräsentation war im Grunde zu früh, aber Neese und seine Mitstreiter suchten jetzt die Öffentlichkeit, um die nächsten Schritte gehen zu können. Dazu gehörte zum Beispiel die Wahl eines Standorts. Bislang hatte man verschiedene improvisierte Arbeitsstätten. Aber um Mitarbeiter zu gewinnen und die Produktion aufnehmen zu können, braucht man natürlich einen Sitz für das Werk.
Sechs Jahre waren seit der ersten Idee vergangen, und nun wurde der Prototyp der Öffentlichkeit vorgestellt. Es herrschte Hochspannung. Aber das Echo war überaus positiv, und schon bald gab es Standortbewerbungen und überraschend viel Post von Motorradspezialisten, Mechanikern, Studienabgängern und Ingenieuren, die mitarbeiten wollten. Weil inzwischen auch das Investorenproblem gut gelöst war, ging es rasch voran. Man entschied sich für den Standort Augsburg und fand dort in der Sparkasse einen konstruktiven Finanzpartner. Dazu kamen eine Förderung des BMWi und des Regierungsbezirks Bayrisch-Schwaben.
Die Produktion
Allerdings war der Aufbau der Serienproduktion die eigentliche Herausforderung. Denn nun mussten für die zahlreichen Einzelteile Lieferanten gefunden werden - etwa 100 an der Zahl. Diese müssen die Teile in der richtigen Spezifikation, pünktlich und zu einem bezahlbaren Preis liefern. Die Schwierigkeit besteht zudem darin, dass ein Unternehmen wie Horex bei weitem nicht an Stückzahlen wie die grossen Anbieter herankommt. Wird nur ein einziges Teil nicht pünktlich und in der erforderlichen Qualität geliefert, kann ein Motorrad nicht fertiggebaut werden. Es wirkt schon fast ein Wunder, dass diese Schwierigkeiten bewältigt und die ersten Maschinen Ende 2012 ausgeliefert werden konnten.
Wie kann man sich die Produktion der Maschinen vorstellen? Das Werk in Augsburg ist keine Fabrik, sondern eine Manufaktur. Dort ist jeweils ein Mechaniker für eine Maschine zuständig. Die Planung und der Aufbau der Produktion wurden weitgehend von Robert Rieder vorgenommen, der als ausgewiesener Fahrwerksexperte schon für die Entwicklung des Fahrwerks der Horex zuständig war. Robert Rieder ist Mitglied der dreiköpfigen Geschäftsleitung.
Der dritte Mann ist Fritz Rombach. Er ist für den Vertrieb zuständig. Rombach war bei Hewlett-Packard ein Kollege von Clemens Neese. Er ist kein Motorradspezialist, aber dank seiner Vertriebserfahrungen gelang es ihm, bis jetzt ein Netz von 30 Händlern, auch in Österreich und der Schweiz, aufzubauen. An der Erweiterung wird zügig gearbeitet, so dass auch Vertretungen in England, Italien, Benelux und Skandinavien hinzukommen werden.
Lohn der Leidenschaft
Ist diese Maschine nun wirklich innovativ und lässt sie das Herz höher schlagen? Antworten auf eine solche Frage sind natürlich subjektiv, aber es gibt darüber hinaus Anhaltspunkte. So ist der VR6-Motor in seiner Kompaktheit, seiner Laufruhe und hohen Leistung schon für sich ein Kunstwerk. Und die äussere Anmutung sowie der Klang des Motors unterscheiden sich radikal von dem, was der Motorradmarkt sonst zu bieten hat, von modern bis retro. Das Motorrad hat einen unverwechselbaren Charakter.
Ausserdem fühlt sich die Maschine trotz ihrer 260 Kilo - was für einen Sechszylinder allerdings sehr moderat ist - erstaunlich leicht an und lässt sich entsprechend fahren. Darin sind sich die meisten Fachjournalisten einig. Und so verblüfft diese Neuentwicklung dadurch, dass es auch heute noch unter den Bedingungen internationaler Märkte mit den Massenprodukten möglich ist, etwas ganz Neues zu realisieren, das auch technisch keinen Vergleich zu scheuen braucht.