Was Labore und was Archive sind, meinen wir zu wissen. Der Fotograf Yann Mingard zeigt uns in seinen Bildern, dass wir uns täuschen. Archive und Labore sind auch Orte, in denen das Leben erstarrt, indem man es konserviert. Der wissenschaftliche Zugriff erzeugt Schatten.
Wachsende Beklemmung
Die Bilder von Yann Mingard lösen Beklemmung aus. Ein erster flüchtiger Blick auf sie erweckt den Eindruck, dass es sich um recht banale Abbildungen von Räumlichkeiten, Gegenständen, Vorgängen und hier und da von Menschen in diesen künstlichen Umgebungen handelt. Doch der zweite Blick enthüllt schon, dass die Bilder sorgfältig konzipiert, komponiert und realisiert worden sind.
Auffällig ist zudem, dass manche Bilder sehr dunkel gehalten sind. Dann muss sich das Auge ein paar Sekunden darauf einstellen, damit Einzelheiten aus dem Dunkel hervortreten, und es stellt sich ein weiterer Effekt ein: Die Bilder haben etwas Lautloses. Man hat das Gefühl, dass alles verstummt. Und das ist es eben, was die Beklemmung auslöst. Was treibt unsere Gesellschaft, indem sie das Leben derartig in Archiven und Laboren einschliesst und dort zurichtet?
Viel Text für die Bilder
Die Bilder werden von einer grossen Menge Text begleitet. Der Katalog hat etwas von einem Lexikon, indem er nach dem Alphabet gegliedert ist. Allerdings ist nicht jeder Buchstabe mit Artikeln versehen. Auf jeden Fall wirkt es auf den ersten Blick etwas befremdlich, dass die Bilder von Yann Mingard derartig viele Erläuterungen brauchen. Im wesentlichen geht es dabei um die Erklärung fachspezifischer Sachverhalte, die in der künstlichen Welt eine fundamentale Bedeutung haben.
Der Fokus aber liegt auf einer Kritik unserer wissenschaftlich-technischen Kultur. Der Kurator der Ausstellung, Thomas Seelig, erklärt in seinem einleitenden Text, dass die Bilder in der Tradition der Aufklärungskritik, wie sie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer formuliert haben, stehen. Der Westschweizer Fotograf Yann Mingard hat also ein Programm verfolgt, als er zwischen 2009 und 2013 seine dokumentarischen Fotos anfertigte.
Eigene Dynamik
Aber die Bilder erzählen nicht einfach etwas, was durch das aufklärungskritische Konzept sowieso schon vorgegeben gewesen ist. Vielmehr entfaltet sich in ihnen jeweils eine eigene Dynamik, die sich durch den beobachtenden Blick des Fotografen erschliesst. Da schaut ein Laborangestellter durch ein Mikroskop, ein anderer hantiert an einem Kühlgefäss, und im Hintergrund sieht man einen Stier, der gerade ein so genanntes Dummy, also die Nachbildung eines Kuhkörpers, bespringt.
Oder man sieht die endlosen Gänge jener schwer bewachten Stollen, in denen Daten oder Pflanzensamen auf alle Ewigkeit hin aufbewahrt werden, man sieht Laborflaschen mit Samen von Pflanzen oder Tieren. Alles ist sachlich, kühl und irgendwie trostlos. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, ob es sich um eher marginale Erscheinungen handelt oder ob die Gesellschaft gerade hier in beklagenswerter Weise zu sich selber kommt. Die begleitenden Essays und Analysen legen diese Interpretation nahe.
Ungewöhnlich an der Ausstellung ist, dass sie in Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang, Essen, dem FotoMuseum Antwerpen und GwinZegal, Guingamp konzipiert wurde. Zudem wird die Ausstellung akustisch von einem eigens dafür komponierten Musikstück des in Island lebenden Komponisten Ben Frost begleitet.
Die Ausstellung: Yann Mingard, Deposit, wird im Fotomuseum Winterthur bis zum 25. Mai 2014 gezeigt.
Der Katalog ist im Steidl Verlag erschienen.