In einem so katholischen Land wie Polen hat die Totenruhe einen hohen Stellenwert. Es ist deshalb schon etwas erstaunlich, dass heute, sechseinhalb Jahre nach dem tragischen Flugzeugabsturz im russischen Smolensk, die Leichen von Lech Kaczynski und seiner Frau aus ihren Sarkophagen auf dem Königsschloss in Krakau geholt werden, um gerichtsmedizinisch untersucht zu werden. Sie sind nur die ersten, es sollen nach und nach 81 weitere Opfer folgen. Lech Kaczynski ist immerhin der Zwillingsbruder des heutigen starken Mannes in Polen, Jaroslaw Kaczynski. Ohne sein Einverständnis wäre so etwas unmöglich gewesen.
Exhumierungen trotz Widerständen
Dazu kommt, dass die Exhumierung alles andere als populär ist. In einer Umfrage vor gut einem Monat haben sich fast 70 Prozent gegen die von der General-Staatsanwaltschaft angeordnete Exhumierung der Absturzopfer von Smolensk ausgesprochen. 17 Familien haben bisher angekündigt, dass sie sich gegen eine Exhumierung wenden wollen, zum Teil auch vor Gericht. Die Kirche hingegen hat sich nicht distanziert, sondern Verständnis signalisiert.
Die vom Justizministerium kontrollierte Staatsanwaltschaft begründet die Exhumierung damit, sie sei notwendig für die seit April wieder aufgenommene Untersuchung des Unglücks. Die russischen Analysen des Absturzes seien sehr mangelhaft ausgefallen und wenig vertrauenswürdig. Von polnischer Seite wurden vor ein paar Jahren neun Opfer exhumiert und der Pathologie zugeführt. Die Staatsanwaltschaft meint, man hätte alle umfassend untersuchen müssen. Für die erneuten Abklärungen ist ein Team von 14 Fachleuten zusammengestellt worden; darunter sind auch vier ausländische Experten.
Kernthema der PiS
Faktisch geht es aber wohl vor allem um eines: Man will der eigenen Basis zeigen, dass man der in Polen weit verbreiteten These eines Attentats ernsthaft nachgehen wolle. Man könnte ja zum Beispiel Spuren von TNT finden oder sonstige Anzeichen eines Anschlages. Denn für die Anhängerschaft der herrschenden PiS-Partei Recht und Gerechtigkeit ist der Absturz von Smolensk ein Kernthema.
Beim Absturz am 10. April 2010 kamen neben dem Präsidentenpaar 94 weitere Personen aus der polnischen Elite ums Leben, vor allem Politiker und Offiziere. Sie wollten eine Gedenkfeier im nahe gelegen Katyn besuchen, wo im zweiten Weltkrieg über 4’400 polnische Offiziere von den Sowjets ermordet worden waren. Das Flugzeugunglück war nicht zuletzt deswegen für alle Polen ein erschütterndes Ereignis.
Mythos und politisches Instrument
Die nationalkonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) hat aus dem tragischen Ereignis schon bald eine Art Mythos, eine patriotische Helden- und Opfergeschichte gemacht. Jeden Monat wurden in der Folge Gedächtnisfeiern in Warschau organisiert, die bis heute sehr gut besucht werden.
Die offiziellen Untersuchungsergebnisse wurden nicht anerkannt. Diese hatten im wesentlichen widrige Umstände und menschliches Versagen, vor allem bei den polnischen Piloten und den russischen Fluglotsen, für das Unglück verantwortlich gemacht. Die PiS-Politiker und die PiS-Basis hingegen warfen der damaligen Regierung Vertuschungsmanöver und Manipulationen vor. Viele gingen sogar von einem Attentat gegen ihren Präsidenten aus. Als Täter wurde etwa der russische Geheimdienst vermutet. Es kursierten diverse Verschwörungsthesen. Sogar der eigene Regierungschef Donald Tusk wurde als Auftraggeber vermutet.
Symbol der Polarisierung
Die Haltung zur Tragödie von Smolensk widerspiegelt die starke Polarisierung der polnischen Politszene, ja der Gesellschaft überhaupt (vgl. Journal21.ch vom 25.10.2016). Die PiS hat eine relativ geschlossene Kern-Anhängerschaft von rund 25 Prozent, die grossteils an ein Attentat glaubt und teilweise richtig fanatisch ist. Dem Gegner wird fast alles zugetraut. Auf der Gegenseite gibt es ähnliche Tendenzen in abgeschwächter Form. Zur Exhumierung wurde beispielsweise der Verdacht getwittert, man wolle diese nur durchführen, um Sprengstoffspuren platzieren zu können.
Die PiS versucht die öffentliche Meinung möglichst stark zu beeinflussen, vor allem über das von ihr kontrollierte Fernsehen. Dort wurden auch immer wieder Berichte über Smolensk und die Pressekonferenzen der zwei neuen staatlichen Untersuchungskommissionen gezeigt. Neben den von der Staatsanwaltschaft eingesetzten Ermittlern agiert noch eine weitere Kommission. Diese eher technisch orientierte Kommission wurde vom Verteidigungsministerium eingesetzt. Der Minister, Antoni Macierewicz, ist ein echter Hardliner, der schon früh den Attentatsverdacht populär machte. Bisher konnte er allerdings kaum neue relevante Fakten präsentieren. Seit September läuft in den Kinos auch ein Spielfilm mit dem Titel Smolensk, der die Attentatsthese unterstützt. Der Erfolg beim Publikum war eher mässig.
Mässiger Propagandaerfolg
Die PiS-Propagandamaschinerie hinterlässt sicher ihre Spuren. Diese stösst aber bei den eher skeptischen Polen, die durchaus mehrheitlich auch Mängel bei der ersten Untersuchung sehen, bald einmal an Grenzen. Sie ruft sogar Gegenreaktionen hervor. Typisch ist hierfür ein Umfragetrend. In einer Umfrage vom Februar 2016 gaben 20 Prozent aller Befragten an, ein Attentat sei die Ursache des Absturzes, 50 Prozent nahmen einen Unfall an. Ende September stieg die Zahl der Attentatsgläubigen zwar auf 27 Prozent. Allerdings nahm die Zahl derjenigen, die an einen Unfall glaubten, mit 60 Prozent sogar etwas stärker zu.
Eine deutliche Mehrheit erwartete schon im April nicht, dass die wieder aufgenommenen Untersuchungen neue, allseits akzeptierte Ergebnisse hervorbringen werden. Das wird sich auch in Zukunft kaum ändern. Denn dass die Exhumierungen einen Durchbruch bringen könnten, ist sehr unwahrscheinlich.