„Mehr oder weniger zufällig“ ist der Historiker Rainer Beck bei einem Besuch der Staatsbibliothek München auf diese Prozessakten gestossen. Allein der schiere Umfang weckte sein Interesse. Akribische Protokolle von allen Verhören und Korrespondenzen übten auf ihn eine „eigentümliche Faszination" aus. Er wurde zum Beobachter eines bizarren Vorgangs: dem letzten Hexenprozess in Deutschland am Vorabend der Aufklärung, geführt gegen Kinder.
Folter und klare Regeln
Das war kein Toben und kein Schreien, jedenfalls nicht auf der Seite der Ankläger. Es ging geordnet zu, nach strengen Regeln der Prozessführung und der Beweiserhebung mit dem Mittel der Folter. Aber der zuständige „Stadt- und Pflegrichter", Sigmund Prosper Freiherr von Lampfritzheim, war nicht unvoreingenommen. Er und seine Verhörspezialisten drehten die Aussagen in die Richtung, die sie für die erstrebte Verurteilung brauchten. Aber man hielt sich an Regeln. Und Rainer Beck beschreibt in genauen Analysen die Systemlogik.
Ein Element davon bestand im Glauben an Hexen, Kinderfresser und „wilden Männern“. Es gab „Truden“, zwergenhafte Wesen, die es speziell auf Kinder abgesehen hatten. Ein Junge, der später in der Haft nach erlittener Folter und unter den unvorstellbaren Kerkerbedingungen sein Leben dadurch beendete, dass er sich mit seiner Beinfessel selbst erdrosselte, wurde der „Trudenfänger“ genannt. So eine Trud war ein "Kleindämon" und hatte „zottige und dünne Füsse nach Geissenart“.
Wie man Mäuse "macht"
Truden waren nicht allein. „Perchten liefen mit Hörnern herum, der Klaubauf führte am Vorabend des Sankt-Nikolaus-Tags zappelnde Kinder im Rucksack mit sich, wie sonst Hexen oder Butzenpercht taten.“ Andere Kinder berichteten von einem „kleinen Männchen mit zwei kleinen Hörnern, das sie in einem Erdloch gesehen hätten und dem einer von ihnen etwas Brot vor sein Schlupfloch gelegt habe, um es zu füttern.“
Der eigentliche, für den Prozess auslösende Vorwurf aber war, dass die Kinder „Mäuse gemacht“ hätten, also „Mäuselmacher“ waren. Wie kann man sich das vorstellen? Mäuse waren in jener Zeit eine Plage, die sich zu Katastrophen auswachsen konnten, wenn sie sich epidemisch vermehrten und zum Beispiel das gesamte Korn vernichteten. Priester mussten dann her, um mit ihrem Weihrauch und Beschwörungsformeln diese Plage einzudämmen. Die Vorstellung, dass jemand Mäuse aus einem Erdloch lockte, sie damit „machte“ und in die Umgebung entliess, lag nahe. Und es war ja auch so, dass manche Kinder von selbst davon fabulierten.
Zwischen Wachen und Schlaf
Sehr anschaulich schildert Rainer Beck die Lebensumstände der angeklagten Kinder. Zumeist schlugen sie sich ohne leibliche Eltern durch, schliefen, wenn sie Glück hatten, irgendwo in einer Scheune, bettelten oder verrichteten einfachste Arbeiten. Sie rotteten sich zusammen und fantasierten in ihrem Elend. Den Stoff dazu boten ihnen die Geschichten, die sowieso im Umlauf waren: in Küchen, Kneipen und Kirchen. Und überhaupt war es so schwer zu unterscheiden, ob das, was im Schlaf erlebt wurde, geträumt oder wirklich passiert war. Der Trudenfänger schrie oft im Schlaf – oder war er da noch oder schon wieder wach? Keiner wusste es so genau.
Angeklagt wurden diese Kinder, weil man vermutete, dass sie mit dem Teufel im Bunde seien. Denn der Teufel zeigte sich damals nach Meinung der Behörden des Freisinger Bistums – einer Bastion der katholischen Kirche in der Nähe von München – in vielerlei Gestalt. Hausgeister und Kobolde gab es zuhauf und sie fielen nachts über die Menschen her, berührten und drückten sie, dass es nur so eine Art hatte. Wehe dem, der davon befallen war!
Die Spiele des Teufels
Auf 899 Seiten - ohne Anhang - breitet Beck die Geschichte eines ersten und eines zweiten Prozesses in Freising aus. Das Buch schliesst lakonisch mit der Bemerkung Becks: „Mehr zu erzählen, hatte ich nicht vor.“ Und man ist durch einen tiefen, schweren Albtraum gegangen. Denn neben seinen Schilderungen der furchtbaren Verhältnissen in den Kerkern, der Qualen der Verhöre und der Verzweiflung der Angeklagten und ihrer Familien analysiert Beck präzise die Prämissen der Anklagebehörden und das Denken der damaligen Zeit. Die Ankläger waren nicht einfach primitiv oder irgendwie zurückgeblieben.
Denn die Vorstellung, dass der Teufel in vielerlei Gestalt sein Unwesen treibt, war damals common sense. In der aufkeimenden Aufklärung wurde daran Kritik geübt, aber einmal heisst es bei Beck sehr schön, dass es doch auch „riskant“ gewesen sei, die vielerlei Gestalten des Bösen in Frage zu stellen. Was, wenn sie doch existierten? Auf der anderen Seite gab es sogar in den theologischen Schriften jener Zeit immer wieder Hinweise auf die Naivität der Vorstellungen diverser Teufelsgestalten: War das Böse nicht viel zu ernst und mächtig, als dass es sich auf ein Spiel mit solchen albernen Manifestationen einlassen würde? Zeigt sich das Böse im „Mäuselmachen“?
Der Zirkelschluss
Andere zeitgenössische Kritik richtete sich gegen die Folter als Verhörmethode. Während ihre Verfechter darin ein Mittel der „Reinigung“ sahen, also eine Art der Hölle leiblicher Qualen als Purgatorium, sahen ihre Kritiker – Beck zitiert unter anderem aus den Essays von Michel de Montaigne – darin nur eine Methode der Qual, die ganz sicher nicht zur Wahrheit, sondern nur zur Zerstörung der Menschen führt. Ergreifend sind die Schilderungen Becks von jenen durch Folter verstümmelten Opfern, die die Scharfrichter bei der Hinrichtung nur verhüllt exekutierten. Überhaupt die Scharfrichter: ein Beruf der Schande.
Immer wieder streicht Beck eine Eigenart heraus: Wie in einer aus heutiger Sicht absurden Vorstellungswelt grösster Wert auf eine methodisch nachprüfbare Vorgehensweise gelegt wurde. Deswegen die ausführlichen Protokolle der Verhöre mit den genau festgelegten Fragen und Prozeduren der „verschärften“ Verhörmethoden, wie man damals sagte und auch heute wieder sagt. Am Ende dieser nachprüfbaren Methodik stand der Zirkelschluss: Zermürbt durch die Haft und die Verhörmethoden gestanden die Opfer genau das, was man ihnen vorgeworfen hatte und was ja ohnehin in den Vorstellungswelten der damaligen Zeit plausibel erschien. Allerdings hätte man auch schon damals die Möglichkeit gehabt, zwischen kindlichen Phantasien und Tatsachen zu unterschieden. Das nicht getan zu haben, wirft Beck den Anklägern vor.
Rainer Beck erzählt aus einer längst vergangenen Zeit – von ihrem Wahn und ihrer Fiktion. Aber das ist nicht einfach vergangen, sondern auch ein Erbe. An einer Stelle notiert Beck bezüglich der Überzeugung der Christen Freisings: "Denn geben wir uns der Humanität und der Werte christlicher Gemeinwesen keinen Illusionen hin. Die wohlbegründete Verteufelung ihrer Feinde, darunter die gezielte Entmenschlichung von Menschen, auch Kindern, gehört zu den Traditionsbeständen dieser Gemeinwesen, zu den Optionen auch der religiösen Überzeugung dieser Zeit." - Nur der christlichen Gemeinwesen? Nur in jener Zeit, nicht auch in unserer Zeit? - Das Böse bleibt ein Thema.
Rainer Beck: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715 – 1723, 1008 Seiten, Verlag C. H. Beck 2011