Das Thema der Bilder und Videoinstallationen im Fotomuseum Winterthur ist von grösstem Gewicht: Es geht um die Stadt Tanger abseits der Romantik früherer Besucher und des bunten Treibens im Zeichen des Massentourismus. „Das Schengen-Abkommen“, so heisst es in einem Begleittext des Fotomuseums, „das 1991 Europas Grenzen abriegelte, machte aus Tanger eine Sackgasse und aus der Strasse von Gibraltar einen Friedhof.“
Tanger ist zu einem Ort geworden, an dem Menschen in Trostlosigkeit versinken oder getrieben vom Mut der Verzweiflung den Übertritt nach Europa wagen. Der Ausstellungstitel „Riffs“ hat zu Tanger eine indirekte Beziehung. Riffs sind Klippen im Meer und kurze, sich wiederholende Akkord- und Tonfolgen in Pop. Rock und Jazz. Mit „Rif“ wiederum wird ein marokkanischer Gebirgszug bezeichnet, in dem es mehrfach zu antikolonialen Aufständen der Berber kam.
Die Künstlerin Yto Barrada, geboren 1972, ist in Paris und in Tanger aufgewachsen. Sie verfügt über zwei Sichtweisen: die afrikanische und die europäische. In ihr kommt es zu einer paradoxen Verschränkung: Mit dem europäischen Blick beschreibt sie den afrikanischen, und mit dem afrikanischen Blick stellt sie den europäischen in Frage: „Es gibt hier keine Flaneure und keine unbeteiligten Zuschauer.“
Wodurch ist der europäische Blick gekennzeichnet? Zumindest in der Fotografie gilt bis heute das Prinzip, wonach in einem Bild eine Situation, eine Geschichte oder ein Zusammenhang verdichtet zum Ausdruck kommen sollte. Diese Verdichtung wird durch den Bildaufbau und durch die Wahl des richtigen Zeitpunkts erreicht.
Zeit der Verlorenen
Henri Cartier-Bresson hat in diesem Zusammenhang vom „entscheidenden Augenblick“ gesprochen. In den Begleittexten zum Ausstellungskatalog beziehen sich die Autorinnen und Autoren immer wieder auf diese Definition, um sich davon abzusetzen. Denn aus dieser Perspektive ist eines unvermeidlich: eine Art Ästhetisierung von allem – auch der grössten Trostlosigkeit.
Dem versucht Yto Barrada zu entgehen, indem sich bei ihr der „entscheidende Augenblick“ in die amorphe Zeit der Verlorenen dehnt und die Perspektive eher einem verlorenen Blick als dem Fokus des gestalterisch zupackenden Fotografen ähnelt. Und genau hier liegt das Problem.
Denn auf den ersten Blick sieht man den Bildern nicht an, dass sie mit einem hohen analytischen und künstlerischen Anspruch gestaltet worden sind. In den Begleittexten wird ein enormer theoretischer Aufwand betrieben, um die Tiefenschicht der Fotografien zu ergründen. Aber zumindest vordergründig stellt sich beim Betrachter kein Staunen ein.
Das liegt in der Logik des Blicks, den Yto Barrada uns nahebringen will. Die gedehnte Zeit, das Schwanken zwischen Trostlosigkeit und überspannter Erwartung der für Afrikaner kaum zu überwindenden Meerenge, die Tristesse der lieblosen Bauten wird von ihr gewissermassen analog ins Bild gesetzt. Barrada möchte bildlich die Sprache derjenigen sprechen, deren Schicksal sie mitteilt.
Künstlerin des Jahres 2011
Damit verbinden sich ganz unterschiedliche Fragen und Beobachtungen. Die erste Frage ist schlicht und einfach, wie überzeugend die Bilder für sich genommen sind. Auch wenn hier eine gewisse Skepsis nicht ganz zu überwinden ist, lässt sich ein anderer Ankerpunkt finden: die Künstlerin selbst. Sie ist nicht nur Fotografin und Filmemacherin, sondern sie entwickelt ständig neue Skulpturen aus ganz unterschiedlichen Materialien. Sie gründete in Tanger das „Cinéma Rif“. Zusätzlich entstand eine Cinématèque, die sie seit 2007 leitet.
Nicht nur dort hat sie sich grosse Reputation erworben. Die Deutsche Bank, die auch die Ausstellung in Winterthur finanziell fördert, hat Yto Barrada im Rahmen ihres Kunstprogramms zur „Künstlerin des Jahres 2011“ erklärt. Mit dieser Auszeichnung sind Ausstellungen im Guggenheim-Museum Berlin und in anderen Museen in Brüssel, Chicago, Birmingham und Rom verbunden.
Daraus ergibt sich aber eine weitere schwierige Frage: Yto Barrada thematisiert die Tatsache, dass sich Europa wie in einer Wagenburg gegen afrikanische Zuwanderung abschliesst. Daraus resultieren die Resignation, aber auch die Wut der Afrikaner. Und mit Recht weist Urs Stahel, Direktor des Fotomuseums, auf die vielen Opfer hin, die die hermetische Abriegelung der Meerenge zur Folge hat.
Nur implizit und sehr verhalten enthält das Werk – nicht nur die Bilder – Barradas eine Anklage. Man könnte sagen, es handelt sich um eine Klage gegen die Versteinerung des Verhältnisses der Europäer zu den Afrikanern. Das versteinerte Europa raubt den Afrikanern Perspektiven, Energie und Lebenssinn. In dieser Leere dehnt sich die Zeit unendlich. Aber wer ist dafür verantwortlich? Diese Frage bleibt seltsam im Hintergrund. Es wäre allzu billig, gegen die Deutsche Bank zu polemisieren. Wir alle haben schliesslich unsere Konten.
Aber es kann durchaus sein, dass Yto Barrada gar nicht anklagen will und damit auf die heuchlerische Zugabe verzichtet, ohne die die Kriegsfotografie bis heute nicht auszukommen scheint. Vielleicht liegt die wahre Trostlosigkeit ja darin, dass es schon nicht mehr zur Anklage reicht und man nur noch dahin will, wo es selbst am Rande der Gesellschaft mehr Hoffnung gibt als in der Stadt Tanger.
Marie Muracciole schreibt in ihrem Essay im Katalog: „Barradas Œuvre ist selbst ein Produkt des Dahintreibens. ... Yto Barrada wählt nicht aus; sie schaut alles an und lädt die Betrachter zum Sehen ein.“
Die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur dauert bis zum 10. Februar 2012.
Der begleitende Katalog kostet 49 Franken.