Wolfgang Sofsky gehört zu den wenigen Soziologen, die über die Grenzen ihres Fachs hinaus weit bekannt sind. Das liegt nicht nur an der Themenvielfalt, sondern auch an seiner lebendigen und anschaulichen Sprache. Was er aber zu sagen hat, ist für seine Leser nicht immer schmeichelhaft.
Eines der Themen, mit denen sich Wolfgang Sofsky wieder und wieder beschäftigt, ist die Gewalt. Im Jahr 1993 erschien seine Habilitationsschrift, die bis heute zutiefst verstörend ist. Darin ging es um die Art, wie der staatliche Terror in Gestalt der Konzentrationslager organisiert war. Dass Terror Ausdruck penibel eingehaltener Ordnung sein kann, in der Menschen innerlich zerbrechen, ist ein schrecklicher Gedanke. Sofsky hat sich damit einige heftige Kritiker geschaffen, aber er wurde dafür auch mit dem Geschwister-Scholl-Preis geehrt.
Wolfgang Sofsky lehrte an der Georg-August-Universität in Göttingen, bis er sich ganz auf seine Tätigkeit als Autor und Essayist konzentrierte. Er schreibt regelmässig für das Debattenmagazin „Schweizer Monat“. Dem Thema Gewalt hat er im Jahr 2011 ein neues Buch gewidmet: „Todesarten. Über Bilder der Gewalt“. 2013 erschien sein Buch „Einzelgänger“.
Dass er ein scharfer Beobachter ist, zeigte sich an der bissig-ironischen Sendereihe auf 3sat: Sofskys Untugenden. Sein Blog unter dem bezeichnenden Titel "Caprichos" bietet ihm die Möglichkeit, seine analytischen und essayistischen Fähigkeiten an aktuellen Themen zur Geltung zu bringen. Er ist damit zu einer der wichtigsten Stimmen in der Blogosphäre geworden. - Journal21 hat mit ihm gesprochen:
Journal21: Alles spricht vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Was sagen Sie als Soziologe dazu? Sind die Politiker in den letzten 100 Jahren durch Schaden klüger geworden? Haben sich die Menschen zu ihrem Vorteil verändert?
Wolfgang Sofsky: Der Beginn des Ersten Weltkriegs hatte zuerst etwas mit der Eigendynamik starrer Koalitionsverpflichtungen zu tun, dann auch mit dem Ehrgeiz mancher Militärs, der Torheit der politischen Eliten, aber auch mit der Massenbegeisterung, die an vielen, nicht allen Orten ausbrach. Die Männer zogen in den Krieg, um zu töten, und die Frauen weinten oder jubelten ihnen zu. Alle diese Sachverhalte zusammen machten den Kriegsbeginn zu einem gesellschaftlichen Ereignis, einer historischen Zäsur. Damit begann der 30-jährige Krieg, der bis 1945 andauerte. Danach wurden in Europa grosse Kriege von Massenheeren zwischen Nationenbündnissen durch die atomare Abschreckung verhindert. Dafür gab und gibt es zahlreiche Kriege zwischen ethnischen, religiösen oder sozialen Kollektiven in anderen Konstellationen, die aber nicht weniger Verluste kosten. Die Leute ziehen weiterhin los, um zu töten, alles andere ist Propaganda, Falschmünzerei, wishful thinking. Dass Menschen durch Schaden klüger werden, ist ein pädagogischer Mythos; und dass sie an Moral hinzugewinnen, ist ein frommer Wunsch. Man darf die 70 Jahre eines langen glücklichen Friedens in Westeuropa nicht für den letzten Wimpernschlag der Geschichte halten. Von der moralischen Ausstattung der Spezies hängt die Weltgeschichte ohnehin nicht ab.
Sie haben sich intensiv mit den Strukturen der Gewalt beschäftigt. 1993 kam Ihr Buch über das System der Konzentrationslager heraus und 2011 erschien Ihr grosses Buch: „Todesarten. Über Bilder der Gewalt“. Hat Sie die Beschäftigung mit der Gewalt pessimistischer werden lassen?
Fröhlicher wird man dabei nicht, aber die seelische Falltiefe hängt von Illusionen ab, die man zuvor hatte. Bemerkenswert scheint mir bis heute, wie vielfältig die Fratzen der Macht, der Zerstörung und Grausamkeit sind. Wenn man sie lässt, fällt den Menschen immer wieder etwas ein, mit dem man dann doch nicht gerechnet hatte. Da sie nicht festgelegt, sondern konstitutionell offen sind, sind Menschen jederzeit für böse Überraschungen gut. Dank ihrer Imagination können sie sich übler aufführen als jede Bestie. Aber eigentlich wussten wir das schon immer, wir wollen es nur nicht wahrhaben.
In Ihrem Blog haben Sie einige pointierte Überlegungen zum Thema der Maske angestellt. Kann man Ihre Bemerkungen auch so lesen, dass unsere Gesellschaft konformistischer als früher ist?
Nun, die grossen Feste der verkehrten Welt sind sicher weniger exaltiert als sie vielleicht einmal waren. Der männlichen Obrigkeit wird heute allenfalls ein Schlips abgeschnitten, die Masken sind zu Uniformen verkommen, und der Rausch wird nach und nach verboten. Aber es ist ein anderer Konformismus, der die moderne Gesellschaft beherrscht, ein Konformismus, der in die Poren des Habitus eingedrungen ist und kaum mehr als solcher bemerkt wird. Von ausser sieht alles viel freizügiger und vielfältiger aus, subkutan jedoch herrscht ein grosser Konsens des Geschmacks, des Ressentiments, der Meinungen, des Verhaltens. Wo sind die echten Exzentriker und Abweichler, die mehr sind als Nebenfiguren im austarierten Rollenspiel der korrekten, öffentlichen Aufführungen?
In der Sendung „Kulturzeit“ von 3sat hatten Sie eine sechsseitige Folge über „Untugenden“. Darin spiessten Sie Verhaltensweisen auf, die man kurz als „schlechtes Benehmen“ bezeichnen könnte. Beobachten Sie in unserer Gesellschaft einen allgemeinen Trend zur Vulgarisierung?
Es ging mir damals weniger um „schlechtes Benehmen“ als um die unmoralischen Haltungen, Unsitten und Laster, mit denen Menschen sich und andere schädigen. Hierzu gehören neben den klassischen Kardinalsünden wie Hochmut, Zorn oder Neid, auch die Feigheit, die Hinterlist, der Geltungsdrang oder das Selbstmitleid. In der Vorhölle schwitzen jedoch bereits die Gleichgültigen und die Vulgären. Die Rüpel, Flegel oder Grobiane gab es natürlich immer schon, aber vor dreissig Jahren hatten sie noch kein Format in den Massenmedien. Seriösen Medien waren sie nicht einmal eine Meldung wert. Vulgarität ist in der Tat längst hoffähig, weil es offenbar für unterhaltsam gehalten wird. Höflichkeit, Diskretion, Takt oder Selbstdistanz werden zur Ausnahme. Manchmal kommt die Pöbelei sogar im moralischen Gewand der Wahrhaftigkeit daher. „Sei authentisch“, lautet eine beliebte Maxime der Vulgärpsychologie. Man verschone uns mit den wahrhaftigen Subjekten und den schenkelklatschenden Zuschauern! Aber Schadenfreude war schon immer die beliebteste, weil niedrigste Form des Lachens. Die Anpassung nach unten scheint unaufhaltsam.
in Ihrem Blog stellen Sie auch Überlegungen zum Thema der Macht an. Konkret beziehen Sie sich auf die zögerliche Politik des Westens in Bezug auf die Ukraine. Könnte diese Politik auch mit dem zusammenhängen, was Herfried Münkler als „postheroisch“ bezeichnet?
Das ist ein weites Feld, aber nicht alle westlichen Gesellschaften sind so „postheroisch“ wie die deutsche, die sich am liebsten aus jeder Verantwortung herausstehlen möchte. Die Freiheit hatte in Deutschland noch nie eine sichere Heimstatt. Im Falle der Ukraine geht es ja gar nicht um Heldentum oder gar Krieg, sondern um klare Sicht auf die Lage, um deutliche Sprache, definitive Machtpolitik, unübersehbare Abschreckung durch Drohung und wirtschaftliche, soziale und politische Sanktionen, Koordination der westlichen Reaktionen, Solidarität mit den freiheitlichen Kräften des Maidan, etc. Also kein Heldentum, sondern Politik, die nicht den Kopf zwischen den Schultern versteckt. Stattdessen folgt man einer alten Ostneigung, vergisst die kurzzeitige Westbindung und verrät die Leute, die gegen die Despotie gekämpft haben.
in welchem Verhältnis steht Ihr Blog zum Print? Was lässt sich in Bezug auf die Leser und auf die Art Ihres Schreibens und Denkens in diesem Zusammenhang sagen?
Ich verbinde mit dem Blog keine Mission und auch keine journalistische Ambition. Eine private Personality-Show interessiert mich nicht. Es sind lediglich meine Einfälle und Ausfälle des Tages, aber es ist kein öffentliches Tagebuch. Ich schreibe und denke im Blog nicht anders als für die Drucksachen. Manchmal reagiere ich als politischer Zeitgenosse auf ein Ärgernis, zum Beispiel die Nichtpolitik des Westens in der Ukrainekrise. Längerfristig verfolge ich ein paar grössere Themen wie Freiheit, Macht, Schönheit, Mythos etc. und wechsele auch zwischen Essay, Artikel, Kommentar und literarischer Prosa. In der Vielfalt liegt die Chance, aber auch die Herausforderung. Beweglichkeit und Präzision sind dabei alles. Unter der Rubrik „Fundstücke“ oder „Empfehlungen“ präsentiere ich neben Texten auch Bilder, Filme, Interviews oder auch Vorträge von Gelehrten, die eine Universität repräsentieren, die nicht mehr existiert. Im Grunde ist der Blog eine kleine, vielleicht unzeitgemässe Welt, jenseits der Moden des Marktes, der Medien, des Zeitgeistes.