Die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko sind Schauplätze grotesker Szenen afrikanischer Not und europäischer Hilflosigkeit. In den vergangenen Jahren haben die Behörden um die Exklaven dreifache bis zu sechs Meter hohe Zäune errichtet. Sie sind mit sogenanntem Nato-Draht bewehrt. Anders als normaler Stacheldraht hat dieser statt der Dornen rasiermesserähnliche Schneiden.
Abwehr und Hilfe
In den Wäldern um Ceuta und Melilla werden derzeit etwa 30´000 Flüchtlinge vermutet. Alle warten auf die Gelegenheit, irgendwie weiterzukommen: in die Exklaven oder übers Meer direkt nach Spanien. Von Zeit zu Zeit rückt die Polizei an, treibt die Menschen weiter in die Wälder hinein und zerstört die notdürftigen Behausungen.
Regelmässig tun sich Flüchtlinge zusammen, rennen zu den Exklaven und versuchen, die Zäune zu überklettern. Es gibt Tote und Verletzte. Manchmal stehen schon Rotkreuzhelfer bereit, um die wenigen, die mit Schnittwunden und Knochenbrüchen den Zaun überwunden haben, zu versorgen.
Im Stich gelassen
Manche Flüchtlinge versuchen auch, vom Meer aus in die Exklaven einzudringen. Um das zu verhindern, hat die Polizei am Strand von Ceuta kürzlich mit Gummigeschossen auf die Ankömmlinge gefeuert. Dabei hat es etwa 15 Tote gegeben, wobei die genaue Zahl natürlich nicht ermittelt werden kann. Auf jeden Fall soll die Polizei jetzt auf diese Schiesserei verzichten.
Die Frustration der lokalen Behörden ist riesengross. Sie fühlen sich von Europa genauso im Stich gelassen wie die Verwaltungen und Politiker auf dem spanischen Festland. So geht es auch Griechenland und Italien, wobei Italien mit Lampedusa einen geradezu symbolträchtigen Ort für die alltäglichen Katastrophen hat.
Aber das ganze spielt sich an der Peripherie ab. Der Kern Europas ist nur insoweit betroffen, als es lediglich einer kleinen Zahl von Flüchtlingen gelingt, dorthin zu gelangen. Das Hauptproblem lastet auf der Peripherie, und in den Augen der meisten Europäer sollte es auch dabei bleiben.
Das Manko Europas
Auf den ersten Blick ist diese Haltung natürlich und verständlich. Warum sollte sich ein Zentraleuropäer um das grämen, was in dem ohnehin hoch verschuldeten Süden neben vielen anderen Dingen auch noch schief läuft? Allein der geographische Abstand bildet eine natürliche Schranke für die Aufmerksamkeit.
Auf den zweiten Blick aber erweist sich das Problem der Peripherie als ein Manko Europas und unserer politischen Kultur. Dieses Manko besteht nicht darin, dass Probleme ungelöst sind, sondern dass sie nicht einmal auf der Agenda stehen.
Auf welche Agenda? In Brüssel gibt es Behörden, die sich selbstverständlich mit der Migration beschäftigen. Ihnen verdankt die Organisation Frontex ihre Existenz. Ihre Aufgabe besteht darin, möglichst weit im Vorfeld Flüchtlingsströme zu unterbinden. Nachdem nun aber zu viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind, gibt es eine neue Verordnung, die es den Besatzungen der Schiffe von Frontex verbietet, Flüchtlinge zurück aufs offene Meer zu schicken.
Auf verlorenem Posten
Es geschieht also etwas in Brüssel, aber das geht an der öffentlichen Aufmerksamkeit weitgehend vorbei. Und damit wird das vermieden, was dringend nötig wäre: die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Europa mit den ganz sicher zunehmenden Flüchtlingsströmen umgehen will.
Wer eine solche Frage stellt oder nur anstösst, sieht sich schlagartig auf einem so verlorenen Posten wie die Bewohner, Polizisten, Verwalter und Politiker an Europas südlicher Peripherie. Könnte es ein Zeichen von politischer Naivität sein, eine solche Auseinandersetzung auch als privilegierter Mitteleuropäer für notwendig zu halten?
Vergangenheit?
Um diese Frage zu klären, hilft ein Blick in die gar nicht so ferne europäische Vergangenheit. Denn in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg sind immer wieder zwei Vorwürfe erhoben worden: Zum einen wurde der Schweiz zur Last gelegt, zu wenig für die Verfolgten des Naziregimes getan zu haben: „Das Boot ist voll.“ Und den Zeitgenossen in Deutschland wurde vorgeworfen, die Augen vor den Verbrechen des Nationalsozialismus verschlossen zu haben: „Wir haben nichts gewusst.“
Wenn etwas an diesen Vorwürfen dran sein soll, dann müssen wir uns auch heute nach den Massstäben richten, die sie setzen. Sind wir heute eher bereit, schwierige und unbequeme Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen zu ziehen, die auch uns etwas abverlangen?
Die unbequeme Frage
Danach sieht es nicht aus. Jeder PR- und Politikberater wird einem erklären, dass niemand gewählt wird, der die Leute mit Problemen belästigt, die sie nicht unmittelbar betreffen. Daher ist jeder Kandidat gut beraten, wenn er sich auf die Punkte konzentriert, die seinen potentiellen Wählern Vorteile versprechen. Migrationsprobleme an Europas Grenzen gehören nicht dazu.
Erfolg hat, wer seinen Wählern schwierige Fragen erspart. Das aber ist ein Betrug an der Demokratie und zerstört das, was man früher einmal mit Bürgersinn umschrieben hat. Von der Antike bis zur Gegenwart sind die politischen Denker davon ausgegangen, dass keine Demokratie ohne die Bereitschaft der Bürger auskommt, über die eigenen unmittelbaren Interessen hinaus das Gemeinwohl ins Auge zu fassen. Der Bürger ist auch Sachwalter von Interessen, die über seine eigenen hinausgehen.
Wenn Politiker wie Hochstapler auftreten und so tun, als gäbe es jenseits vordergründiger Versprechen keine Verpflichtungen, unterbinden sie Denkprozesse, die für die politische Kultur unerlässlich sind. Demokratie ist anspruchsvoller als das blosse „Gefällt mir“ auf Facebook. Es geht um Werte, europäische Werte, und wir müssen uns die unbequeme Frage stellen, ob sie schon an Europas Mittelmeerküsten enden.
Entmündigung der Bürger
Niemand hat derzeit Lösungen für die Migrationsproblematik. Aber wenn die Fragen danach deswegen tabuisiert werden, weil man damit keine Wahlen gewinnen kann, wird die politische Gemeinschaft auch keine Antworten finden. Politiker, die Wähler nur als Konsumenten und nicht als Bürger ansprechen, entmündigen sie. Und sie unterminieren die politische Kultur Europas. Keine Lösung zu haben, ist keine Schande, wohl aber, nicht einmal danach zu suchen.
Die grotesken Szenen an den Aussengrenzen Europas sind eine Mahnung: Sie mahnen uns, selbst darüber Klarheit zu gewinnen, wie diesen Problemen begegnet werden soll. Es genügt nicht, diese Fragen aus Bequemlichkeit nur denjenigen zu überlassen, die das geographische Pech haben, an den Aussengrenzen zu leben und irgendwie reagieren zu müssen.