In europäischen Augen ist die Scharia, das islamische Gottesgesetz, nichts anderes als grausames, mittelalterliches Gesetz, das Handabhacken für Diebstahl vorschreibt, Steinigung für Ehebruch und diskriminierende Behandlung der Frauen gegenüber den Männern.
Herrschermacht gegen Scharia
Ein Zugang zu besserem Verständnis führt über die Geschichte des Islams und seines Gottesgesetzes. Dieses war vom 9. bis zum 19.Jahrhundert das Gesetz, nach dem die Islamische Welt regiert wurde. Es gab allerdings neben dem Gottesrecht immer und überall auch ein Herrscherrecht, das der Machthaber Kraft seiner Macht ausübte. Es war der Khalifa, Sultan, Emir, sogar Scheich bei den Beduinen, der auf Grund seiner Machtposition Recht sprach.
Der Herrscher pflegte das Strafrecht, das Steuerrecht, das Kriegsrecht nach seinem Ermessen auszuüben, und er regelte auch durch Dekrete, die keineswegs immer der Scharia entsprachen, den Gang der Dinge innerhalb seines Machtbereiches. Seine Herrschaftsmethoden waren normalerweise sehr persönlich und höchst arbiträr.
Der Henker des Khalifen
Ein Symbol der Allmacht der abbasidischen Khalifen, die von 750 bis 1258 in Bagdad regierten, war die Gegenwart des Henkers am Hof. Er konnte auf einen Wink des Herrschers hin seine Ledermatte ausbreiten, das auf Befehl des Herrschers hinzurichtende Opfer darauf setzen und ihm den Kopf abschlagen. Die Ledermatte diente dazu, das strömende Blut aufzufangen. Die Bevollmächtigten des Machthabers, etwa der Kommandant der Schurta (Polizei), gingen nicht anders vor, die militärischen Kommandanten ebenso, sie richteten sich nur ausnahmsweise nach den Vorschriften der Scharia.
Schutz gegen die Willkür der Mächtigen
Gegen die Willkür der Machthaber gab es für die Bevölkerung nur einen Schutz, die Scharia. Das islamische Gottesrecht brachte Normen hervor, auf die ein Angeschuldigter oder ein Misshandelter sich berufen konnte. Dies waren gute tausend Jahre lang die einzigen Normen, die es gab und die dazu dienen konnten, die Willkür der Machthaber einzuschränken und in Bahnen zu halten.
Die Gottesgelehrten als Fachleute der Scharia
Fachleute dieses Gottesrechtes waren und bleiben bis heute die Gottesgelehrten. Sie hatten es in einem jahrhundertelangen Prozess formuliert, interpretiert, angewandt, diskutiert, zusammengefasst und gehandhabt. Das Studium dieses Gottesrechtes war über Jahrhunderte hin die wichtigste Disziplin im Ausbildungsgang der meisten Gottesgelehrten. Auf Rechtsberatung und Rechtsfindung nach der Scharia beruhte auch hauptsächlich der Broterwerb für die meisten Gelehrten.
Einen Scharia-Fachmann aus ihren Rängen ernannte der Machthaber als Qadi, das heisst Richter nach der Scharia. In grossen Reichen gab es einen Oberqadi, ebenfalls vom Herrscher bestellt, der die Aufsicht über die einfachen Qadis ausübte. Sehr fromme Muslime vermieden es meist, sich zum Qadi ernennen zu lassen, weil sie in diesem Amt oftmals gezwungen waren, Kompromisse zu Gunsten der Wünsche des Machthabers auf Kosten der reinen und wahren Scharia einzugehen.
Die Legitimität der Herrscher und die Scharia
Der Herrscher übte seine Macht arbiträr aus, ein guter Herrscher vielleicht etwas weniger blutig als ein Tyrann. Soweit es eine Beschränkung gab, die er zu berücksichtigen hatte, war sie durch die Scharia gegeben. Seine Legitimität als Herrscher beruhte in den Augen der Gottesgelehrten und damit der Scharia darauf, dass unter seiner Herrschaft die Muslime als Muslime leben konnten. Ob er diesem Kriterium nachkam oder nicht, darüber befanden die Gottesgelehrten.
Der Prediger am Freitagsgebet, an dem alle Muslime gemeinsam teilnehmen sollen, bestätigte und bestätigt bis heute die Legitimität des Herrschers dadurch, dass er im Gebet seinen Namen nennt und Gottes Hilfe für ihn erfleht. Unterliess der Prediger dies, kam das einem Aufruf an seine Untertanen gleich, sich von ihm abzukehren.
Doch die Gelehrten riefen nur in sehr schwerwiegenden Fällen zum Aufstand auf. Dass der Herrscher sündigte, indem er sich gegen das Gottesgesetz verging, genügte nicht in den Augen der Geistlichen, um einen Aufstand gegen ihn zu rechtfertigen. Dieser, so lautete ihre Doktrin, werde erst dann unumgänglich, wenn die muslimischen Untertanen unter ihrem Machthaber nicht mehr als Muslime zu leben vermöchten. "Fitna", das heisst Krieg unter Muslimen, galt als das grössere Übel denn Tyrannei, Machtmissbrauch durch den Machthaber.
Die Gelehrten in Wächterfunktion
Die Gottesgelehrten verfügten über keinerlei Machtmittel, um die Scharia dem Herrscher gegenüber durchzusetzen. Doch dem Herrscher war bewusst, dass er die Zustimmung der Gottesgelehrten benötigte, wenn nicht gleich aller, so doch mindestens einiger einflussreicher von ihnen, wenn er erfolgreich regieren wollte, das heisst ohne allzu grosse Reibungen mit seinen Untertanen und ohne Aufstandsgefahr.
Die ganze Ordnung und alle staatliche und öffentliche Disziplin basierten darauf, dass die Gottesgelehrten unter Berufung auf die Scharia die Bevölkerung mindestens teilweise vor den schwersten Missbräuchen vonseiten der Herrscher beschützen konnten.
Ein gottgefälliges Leben
Die Bevölkerung selbst sah sich veranlasst, ihr Leben ebenfalls nach der Scharia zu richten. Dies galt und gilt weitgehend bis heute in erster Linie für das Familienrecht, man spricht im Orient vom "Personalstatus"; auch das Handelsrecht war weitgehend durch die Scharia bestimmt. Doch gab es eine Sonderinstitution, die Hisba - Marktrecht und Marktordnung - das unter der Aufsicht eines gesonderten, ebenfalls vom Machthaber ernannten Marktaufsehers stand. Der Markt oder Basar, mit seinen Handwerkern, umfasste die gesamte städtische Wirtschaft.
Das Prestige des Gottesrechtes
Die Wirkung der Scharia beruhte in erster Linie auf ihrem Prestige als Gottesgesetz. Sie war und bleibt in den Augen ihrer Fachleute, der Gottesgelehrten und der von ihnen gelenkten und instruierten Bevölkerung der Muslime, das Gesetz, das so genau wie möglich dem Willen Gottes entspricht. Scharia bedeutet, "der breite, gepflasterte Weg" und meint die breite Strasse, auf der alle wandeln können, denen daran liegt, Gott wohlgefällig zu sein und dereinst den Lohn des Himmels zu empfangen.
Die Wirkung der Scharia in dieser Welt beruht auf ihrem Prestige. Die Gottesgelehrten lassen es sich angelegen sein, dieses Prestige hoch zu erhalten. Umso mehr als es sich auch auf ihr eigenes Ansehen auswirkt, denn sie sind ja die Fachleute, die die Scharia kennen und anwenden können. Aus diesem Grunde haben die Gelehrten stets darauf bestanden, dass die Scharia genau, so genau wie es menschlichem Gottesverständnis nur möglich sei, dem Willen Gottes entspreche.
Regeln der Religion für die Welt
An diesem Punkt treffen Jurisprudenz und Theologie aufeinander. Die Scharia ist nicht nur Jurisprudenz, sondern auch Theologie. Wie alle Theologie kommt sie um Interpretation nicht herum. Um den Willen Gottes zu ermitteln, gehen die Gelehrten auf fünf Quellen zurück, die in der Fachsprache "Usul ad-Din" genannt werden, das heisst "Grundlagen der Religion", nicht "des Rechtes" - so sehr wird die Scharia von ihren Fachleuten als "die Religion schlechthin" empfunden.
Die beiden wichtigsten Rechts- oder eben Religions-Quellen sind zuerst der Koran, dann die Überlieferungen vom Tun und Lassen und von den Aussprüchen des Propheten ("Hadith" genannt); als dritte kommen Analogieschlüsse hinzu; als vierte die "Übereinkunft der Gelehrten", und als fünfte Quelle erkennen manche der Rechtsschulen das Gemeinwohl der Muslime an.
Aus diesen Quellen haben die Gottesgelehrten über Jahrhunderte der "Anstregungen", die man den "Grossen Jihad" nennt (im Gegensatz zum "Kleinen Jihad", der den Heiligen Krieg meint), ein gewaltiges, unübersehbar reiches und vielfältiges Gebäude von Rechtsmeinungen und Rechtsgrundsätzen aufgerichtet, das Bibliotheken um Bibliotheken von Fachliteratur umfasst.
Vier sunnitische Rechtsschulen
Es unterteilt sich für die Sunniten in vier unterschiedliche, einander als orthodox anerkennende, Rechtsschulen. Die Schiiten haben ihre eigenen, und es gibt historische Rechtsschulen, die heute erloschen sind. Die vier sunnitischen sind nach den vier grossen Gelehrten des 9. Jahrhunderts (Malik Ibn Anas; Shafi'i; Abu Hanifa und Ibn Hanbal) benannt, die diese in sich leicht unterschiedlichen Schulen artikuliert und zusammengefasst haben. Jeder Sunnite gehört einer von ihnen an und befolgt die Vorschriften, wie sie in ihr festgelegt sind.
Ein jedes Handbuch dieser verschiedenen Rechtsschulen beginnt mit den ritualen Pflichten des Gebets: wie genau die Waschung vor dem Gebet auszuführen ist, wie das Ritualgebet (Salat). Die kleinsten Unterschiede sind hier von Bedeutung. Die Handbücher fahren dann fort mit dem Familienrecht, unterteilt in viele Sparten, dem Handelsrecht, dem Strafrecht, dem Staatsrecht , Prozedurfragen usw. Wobei ein jeder Muslim theoretisch frei ist, sich seine Rechtsschule auszuwählen. Doch darf er nicht die Rechtsmeinungen der einen mit jenen einer anderen Schule kombinieren, wenn ihm die andere besser ins Zeug passt. In der Praxis halten die Muslime sich meist an ihre angestammte Rechtsschule, und diese sind geographisch verteilt.
Lebens- und Staatsideal
Die Schutzfunktion, welche die Scharia für die Bevölkerung einnahm, zusammen mit dem Umstand, dass es neben der Scharia auch immer das de facto Recht der Machthaber gab, bewirkte, dass die Scharia als etwas Ideales gesehen wurde und immer noch wird. Sie ist "Gottes Recht", ist aber auf Erden nie ganz, immer nur annähernd, verwirklicht worden.
Die Gemeinschaft der Gläubigen lebte immer neben ihr auch im Schatten anderer Gesetze und Anordnungen, die nicht auf Gott zurückgeführt werden konnten. Diese Lage begünstigte die Vorstellung, dass unter der reinen Scharia, wenn sie nur voll und ausschliesslich zur Geltung käme, das bestmögliche Leben für die Muslime, ja für alle Menschen, erreicht würde.
Ein wohlbewahrtes Prestige
Natürlich taten die Rechtsgelehrten, was in ihrer Macht stand, um dieses Idealbild der Scharia zu festigen. Das Ideal wurde nie voll erreicht. Man nahm an, in der Zeit des Propheten sei die Urgemeinde der Muslime unter der direkten Leitung des Propheten ihm näher gekommen als je zuvor oder später. Doch zur Zeit des Propheten war die Scharia als Gesetzeswerk noch nicht formuliert. Ihre Ausarbeitung wurde erst in den ihm nachfolgenden Generationen begonnen, und man kann sagen, sie ist bis heute nicht abgeschlossen. Je näher eine Gruppe von Muslimen der späteren Zeit sich dem Ideal eines vollen Scharia-Regimes annähern konnte, als desto glücksreicher galt sie für dieses und jenes Leben.
Hier liegt der Grund dafür, dass viele heutige Muslime von Nigeria bis nach Indonesien von dem Wunsch beseelt sind, soweit irgend möglich nach der Scharia zu leben.
Die anstössigen Extremstrafen
Es gibt in der Scharia die sogenannten "Hudud"-Strafen, was man mit "Extremstrafen" übersetzen kann. Handabhacken, Steinigen und so weiter sind damit gemeint. Sie sind im Koran angeordnet und können deshalb nicht aus der Scharia entfernt werden. Doch die Gelehrten haben es sich angelegen sein lassen, die Bedingungen einzuengen, unter denen sie angewandt werden.
Ehebruch muss durch drei Augenzeugen bestätigt werden, die nach einer berühmten Formel schwören, man habe keinen Faden zwischen den beiden Angeklagten hindurchziehen können, und Kläger, die ihre Klage nicht zu beweisen vermögen, werden wegen Verleumdung bestraft. Diebstahl fiel ohnehin meist in den Bereich der Schurta, der Polizei, und damit des Herrscherrechtes, das je nach Lust und Laune des Machthabers und seiner Beauftragten, weit brutalere Strafen kannte als die der Scharia.
Im Eigenbereich der Familie
Der Hauptgeltungsbereich der Scharia blieb das Familienrecht. In diesem Eigenbereich waren die Muslime bemüht und sind es bis heute, die Dinge, die ihrer eigenen Kompetenz unterstehen, nach den Regeln der Scharia zu ordnen, die als gottgewollt gelten. Um dies zu erreichen, befragen sie die Fachleute, die Gottesgelehrten. Diese erteilen Ratschläge an die einzelnen Fragestellerinnen und Fragesteller, und sie geben formale Rechtsgutachten ab ("Fatwa" genannt) - in Fällen, die für die Allgemeinheit von Interesse sind.
Das "Fatwa"-Wesen hat dieser Tage einen gewaltigen Aufschwung genommen, weil derartige Fragen an die mit ihrer Beantwortung vom Staate beauftragten Geistlichen ("Mufti" genannt) heute übers Telefon und übers Internet gestellt und beantwortet werden können. Die Anfragen in einer Stadt wie Kairo gehen täglich in die Hunderte.
Der Einbruch des europäischen Rechts
Über diese hier nur in den gröbsten Umrissen und stark vereinfacht dargestellte historische Realität der Scharia brach seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die "europäische Moderne" herein. Die damals militärisch und technologisch sowie wirtschaftlich weit übermächtigen europäischen Mächte - England, Frankreich, Russland und Österreich - zwangen die muslimischen Staaten, sowohl das Osmanische Reich wie auch das persische und das indische der Moghulkaiser sowie die Länder der ostasiatischen und die afrikanischen Muslime, ihre Gesetze zu übernehmen. Dies konnte eine Folge direkter kolonialer Oberherrschaft sein oder auch formell freiwillig geschehen, jedoch unter dem Druck der wirtschaftlichen Übermacht.
Die Ablösung der "Kapitulationen"
Im osmanischen und im persischen Kaiserreich gab es die "Kapitulationen". Die dortigen Herrscher hatten vom 16. Jahrhundert an den Konsuln der Mächte die Erlaubnis gegeben, über ihre eigenen "Sujets" Recht zu sprechen. Anfänglich wohl einfach, weil sie mit dem Recht der westlichen Christen, auch wenn sie in ihren Hafenstädten Handel trieben, nichts zu tun haben wollten. Diese Rechtsbefugnisse wurden "Kapitulationen" genannt, weil der Sultan oder Schahinshah seine Rechtshoheit an die ausländischen Konsuln abtrat ("kapitulierte").
Der Geltungsbereich dieser Vorrechte wurde in den Zeiten der westlichen Übermacht immer weiter ausgedehnt, zum Beispiel auch auf die einheimischen Christen, so dass am Ende ein grosser Teil des Handelsrechtes im ganzen Land in den Händen der ausländischen Konsuln lag, zum Nachteil der einheimischen Muslime und ihrer Behörden sowie der Scharia.
Einführung landesfremder europäischer Rechtsnormen
Mit dem beginnenden Nationalismus der orientalischen Staaten suchten diese nach Wegen, um die Kapitulationen rückgängig zu machen und das Rechtswesen über Grossteile ihrer eigenen Bevölkerung und Wirtschaft wieder in ihre eigene Hand zu bekommen. Doch die Mächte erklärten, ihre Händler und anderen "Sujets" könnten nicht dem islamischen Recht unterstellt werden. Dieses sei "unverständlich" und "überholt", beziehe sich nur auf Muslime und passe nicht zu einer modernen Wirtschaft.
Vorbedingung dafür, dass die Kapitulationen beendet werden könnten, sei ein "zeitgemässes" Recht, das die orientalischen Staaten einführen müssten. Erst wenn sie ein Rechtswesen besässen, in dem die Europäer ihre Rechtsvorstellungen wiederfänden, könne an die Rückgabe der Kapitulationen gedacht werden. Dies bewirkte die Einführung landesfremder, europäischer Codices in die muslimische Welt im Zuge der "Reformen", die damals in jenen Reichen angestrengt wurden, die von der europäischen Kolonisation - noch - verschont geblieben waren.
Moderne "Codices" neben der Scharia
Ein "Anglo-Indian Law" entstand auf dem Indischen Subkontinent; ägypto-französische Codices auf der Basis des Code Napoléon in Ägypten, eine osmanische "Majalla" mit Regeln für modernes osmanisches Handelsrecht nach europäischen Vorbildern in Istanbul. Das Wort "Recht" wurde vermieden, weil es für die Scharia reserviert blieb. Juristische Fakultäten wurden gegründet, um das neue "nationale Recht" fremden Ursprungs zu lehren und zu entwickeln. In Ägypten gab es sogar die "tribunaux mixtes", in denen europäische und ägyptische Richter gemeinsam Urteile fällten.
Heute haben alle islamischen Staaten ihre "Codices", die mit einigen leichten Modifikationen auf europäischen Vorbildern beruhen. Sie sind massgebend für Staat und Verwaltung, für die Wirtschaft, für das Strafrecht. Die Scharia besteht neben ihnen, doch verglichen mit diesem Staatsrecht europäischer Wurzel ist ihr nur noch ein Schattendasein geblieben. Fromme Muslime wenden sich freiwillig an ihre Fachleute in Familienrechtsfragen. Der Staat richtet sich nach ihr in manchen Ländern für die Regelung von Ehe- und Erbschaftsgesetzen.
Die Gottesgelehrten zurückgedrängt
Die Scharia-Fachleute sind und bleiben Gottesgelehrte, sie machen eine "islamische" Ausbildung durch im Rahmen der mehr oder weniger modernisierten islamischen Hochschulen, nicht eine "juristische", wie sie an den Universitäten gelehrt wird. Die Juristen befassen sich mit den Fragen der Wirtschaft und der Verwaltung sowie auch des vom Staate gehandhabten Strafrechtes. Ihr Beruf ist daher in der Lage, geschäftlich zu blühen und politisch zu prosperieren. Die Gottesgelehrten sind neben den Juristen Waisenkinder, nur die einfache Bevölkerung wendet sich an sie, um nach den Regeln des Gottesrechtes zu fragen.
Islamische Massen und "europäisierte" Oberschichten
Die gegenwärtigen Ereignisse in Ägypten, aber auch in Tunesien und überall in der islamischen Welt, machen deutlich: Überall, wo die Bevölkerung auch aus den unteren Schichten um ihre Meinung befragt wird, gibt es immer noch eine bedeutende Masse unter den Bürgern der heutigen Staaten, denen das neu eingeführte "europäische" Recht, das heute als "nationales" Recht der verschiedenen Staaten auftritt, fremd geblieben ist. Dieser "islamisch" ausgerichteten Masse stehen "europäisierte" oder "verwestlichte" Oberschichten entgegen, die das moderne, ursprünglich westliche Rechtsempfinden, voll absorbiert haben. Sie leben in seinem Lebenszusammenhang, sehr oft in enger Verbindung und Austausch mit ausländischen Wirtschaftsmächten.
Es sind diese Leute, die Fremdsprachen beherrschen, eine Universität im europäischen Stil besucht haben, ihre Kinder in ausländische Schulen schicken, und die, eingefügt in die Kreisläufe der globalisierten Kultur und Wirtschaft, ihr "modernes" weitgehend "verwestlichtes" Leben führen. Sie bilden auch die führenden Figuren im höheren Beamtenwesen der heutigen Nationalstaaten. Solange die Wahlen "gesteuert" wurden, sorgten sie und ihre Regierung dafür, dass diese Schichten in erster Linie zu Wort kamen und der Staat ihren Vorstellungen gemäss gelenkt wurde.
"Unser eigenes Rechtswesen"
Die grosse Masse der einfachen Leute, die sehr viel weitergehend in der eigenen islamischen Tradition lebten, wozu auch die Rechtstradition der Scharia gehört, blieben politisch verborgen. Sie sind erst wirklich sichtbar und aktiv geworden mit Abstimmungen, in denen eine jede Stimme mitzählte und mitbestimmte, in der Türkei seit Erdogan und den Wahlsiegen seiner Partei; in der arabischen Welt in jenen Staaten, die ihre jüngste Revolution bis zu Wahlen vortreiben konnten, bisher nur Tunesien, Ägypten und am Rande auch Libyen.
Diese Abstimmungen haben den Wunsch nach "unserem Recht", dem Gottesrecht der Scharia, der zuvor unter der Haube des diktatorisch gelenkten Nationalstaates der verwestlichten Oberschichten niedergehalten worden war, ans Tageslicht der Politik gebracht.
Scharia - angepasst oder wortwörtlich?
Die Muslimbrüder stehen heute für eine diskret gehandhabte und den Notwendigkeiten der Gegenwart angepasste Übernahme und Handhabung der Scharia, wie sie durchaus in der historischen Tradition der Anwendung der Scharia liegt. Die Salafisten hingegen, wie man sie heute nennt, treten auf für eine "fundamentalistisch" verstandene Scharia. In ihren Augen soll sie aus einer streng an den Wortlaut der relevanten Texte gebundene Anwendung des Gottesrechtes bestehen, "ohne Anpassung" und "ohne Interpretation".
Die wahhabitsche Lehre aus Arabien
Die Scharia-Vorstellungen der Salafisten kommen weitgehend aus Saudi Arabien. Dort herrscht seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (mit mehreren kriegsbedingten Unterbrüchen) eine soweit möglich wortwörtlich angewandte Scharia aus der hanbali-Rechtsschule, die der arabische fundamentalistische Religionsreformator Ibn Abdul Wahhab (lebte 1703 bis 1791) und dessen Nachfahren gemeinsam mit den Herrschern des Hauses Saud an die Macht gebracht haben. Arabien war damals arm, ist aber heute erdölreich. Die heutige salafistische Predigt (da'wa) ist auch erdölgetragen.
Unter dem Einfluss der Prediger ihrer Richtung glauben die Salafisten daran, dass eine "Scharia", so wie sie sie sich vorstellen, in der ganzen muslimischen Welt gleich segensreich wirken würde, wie sie es im schwerreichen Saudi Arabien zu sehen glauben.
Die Scharia der Scharia-Fundamentalisten
"Scharia" in ihrem Munde hat wenig mit der komplexen und vielgestaltigen historischen Realität des Begriffes zu tun. Sie stellen sich darunter eine Gesellschaft vor, die der saudischen gleichen würde, und in der jedenfalls sie und die Gottesgelehrten, deren Gefolgschaft sie bilden, das Sagen hätten - natürlich auch darüber, wie die von ihnen angestrebte Scharia praktisch zu handhaben sei.
Dass dies zu Zuständen führen könnte, wie sie unter den Taleban in Afghanistan bestanden, nehmen sie in Kauf; sie stellen sich wahrscheinlich vague vor, dass sie selbst und ihre Freunde in dem erhofften Scharia-Staat jedenfalls die Hauptrolle spielen dürften.
Scheinbare Fundamente der Identität
In der heutigen Zeit dehnen sich fundamentalistische Vorstellungen überall in der islamischen Welt aus. Der islamische Fundamentalismus ist nicht an den Koran gebunden wie jener der amerikanischen Fundamentalisten an die Bibel, sondern vielmehr an eine Vorstellung von Scharia, die sich unter den heutigen Muslimen herausgebildet hat. Der Koran kann ohne Interpretation nicht verstanden werden. Er weist anerkanntermassen widersprüchliche Stellen auf, deren Widersprüche nur durch Auslegung aufgehoben werden können.
Auch die Scharia basiert auf Auslegung, genauer der riesigen Masse von Auslegungen, welche die Gelehrten auf Grund der Quellentexte vornahmen und weiter vornehmen. Doch diese Auslegungen werden als "Gesetz" formuliert und präsentiert. Die Salafisten berufen sich auf Gesetzestexte, die ihnen die Gelehrten ihrer Religionsrichtung als "gottgewollt" vorlegen. Diese wollen sie wortwörtlich verwirklicht sehen. Was bei diesem Vorgang übersehen wird, ist der Umstand, dass auch eine gewaltige Menge von anderen Interpretationen der Scharia-Quellen vorhanden ist und dass keine davon als die einzig richtige gelten kann.
Scheinlösung von Identitätsproblemen
Neben der Verankerung in der Eigentradition und Eigenvergangenheit hat die fundamentalistische Scharia-Auffassung, wie alle Fundamentalismen, in der heutigen Zeit eine besondere Anziehungskraft, die auf Identifikationsprobleme zurückgeht. Fragen wie "Wer bin ich eigentlich (noch) in der heutigen Welt? Was ist meine Rolle? Wozu bin ich (noch) da?" sind in der heutigen für viele verworren gewordenen Welt weithin akut geworden. Doch für Araber und andere Muslime, die im Kulturzusammenstoss zwischen materiell und machtmässig überlegener westlicher Fremdkultur und der eigenen Tradition stehen und aufwachsen, sind diese Fragen besonders bohrend.
Fundamentalismus gibt entschiedene Antworten auf sie und wirkt dadurch erleichternd, erlösend. "Du bist ein Muslim", lautet die Antwort der Fundis, und zwar einer, der ganz genau weiss, was es bedeutet Muslim zu sein, weil er sich an die einzig wahren, klar und solide in den Grundtexten niedergelegten und wörtlich zu verstehenden Grundlagen hält, das Fundament, von dem der Fundamentalismus seinen Namen bezieht.
"Identität", sagte einer der fundamentalistischen Vordenker in Gaza, "ist das Zauberwort". Er meinte damit, der Begriff, mit dem man Anhänger bezaubert, sie unwiederbringlich für sich gewinnt.
Identität durch Dogma?
Es handelt sich freilich aus der Sicht der Aussenseiter um eine Pseudo-Identität, die auf diesem Wege gewonnen wird. Weil sie sich krampfhaft an einen Begriff anklammert und sich daran aufrecht hält, der in Wirklichkeit nicht existiert, nämlich jenen von angeblich absolut klaren, unverrückbar feststehenden, keinerlei Auslegung erheischenden und als evidente Grundlagen der Glaubensgewissheit und Selbstsicherheit dienenden theologischen Texten.
Die blosse Scheinsicherheit, die ein derartiger auf Scheinfundamente gegründeter Fundamentalismus gewährt, bringt unerwartete politische Früchte hervor, sobald die Lehre der Fundamentalisten durch ihre politische Praxis auf die Probe gestellt wird.
Gefährlich ist die fundamentalistisch entstellte Scharia
Aus alledem kann man schliessen: Es ist nicht die Scharia, die den westlichen Beobachtern Angst machen sollte, denn die Scharia ist nicht nur der Auslegung fähig; sie beruht auf vielfachen und verschiedenartigen Auslegungen. Gefährlich ist vielmehr eine fundamentalistisch entstellte Scharia, von der behauptet wird, sie sei in der Lage, den Willen Gottes mit absoluter Sicherheit, ein für allemal niederzulegen.