Dieses Problem hat Michael von Graffenried bei seinem jüngsten Besuch in Indien Ende des vergangenen Jahres regelrecht in Bedrängnis gebracht. Nicht das Fotografieren selbst war der Stein des Anstosses, sondern sein Bestreben, die Bilder denjenigen, die in ihnen eine Rolle spielen, auch zu zeigen. Denn damit erregte er das Ärgernis derjenigen, die sich als Vertreter der Fotografierten aufspielen.
Diese Geschichte ging durch die Medien. Aber wenn er jetzt davon erzählt, kommt ein Humor ins Spiel, der in der Zuspitzung der Medien ausgeblendet wird. Und dieser Humor hat mit der Selbstbetrachtung Michael von Graffenrieds in seiner Rolle als Fotokünstler zu tun.
Als „Artist in Residence“ hatte sich Graffenried mit einem Stipendium für fünf Monate in Varanasi, bekannter unter dem Namen Benares, niedergelassen. Er habe sich dort „wie eine Pflanze hingepflanzt“. Und ihn haben auch nicht die zahllosen Pilger interessiert, die für die Touristen die grösste Attraktion bilden. Ihn interessierte das ganz alltägliche Stadtleben.
Michael von Graffenried hat eine spezielle Art zu fotografieren. Er benutzt eine Panoramakamera, die er Anfang der 90er Jahre auf einem Flohmarkt erworben hat. Diese Kamera wird mit einem Kleinbildfilm bestückt. Während der Aufnahme gleitet der Schlitz eines Schlitzverschlusses über 60 mm des Films, was knapp zwei Kleinbildaufnahmen entspricht. So entsteht eine Panoramafotografie mit 150 Grad Winkel.
Der Körper als Kamera
Die Fotografierten sehen zwar die Kamera, aber sie bemerken nicht, dass überhaupt fotografiert wird. Denn Graffenried hält die Kamera nicht vor das Auge. Er fotografiert sozusagen aus dem Bauch heraus. Im Grunde sei „sein Körper die Kamera“, bemerkte dazu der Kunstexperte Hans Ulrich Obrist.
Michael von Graffenried plagt aber das Gefühl, mit seiner offen-heimlichen Fotografiererei den Menschen etwas zu nehmen. Handelt es sich hierbei nicht um eine Art Diebstahl? Umgekehrt weiss er nur zu genau, dass Menschen, wenn sie wissen, dass sie fotografiert werden, „sich in Positur setzen und anfangen, eine Rolle zu spielen.“
Noch etwas kommt hinzu: In Algerien hat er erlebt, dass es die Menschen nicht gerne hatten, wenn er sie um die Erlaubnis zum Fotografieren bat. Denn mit seiner Frage bürdete er ihnen eine Entscheidung auf, die sie gar nicht treffen wollten.
Die Bilder zurückbringen
Sein Unrechtsgefühl überwindet Graffenried, indem er die fotografierten Menschen mit seinen Bildern konfrontiert. Deswegen hat er in Varanasi einige seiner Bilder auf grossen Werbeplakatwänden, die zu einer Schule an einer stark frequentierten Strassenkreuzung im Zentrum gehören, ausgestellt. Dafür gab es eine offizielle Erlaubnis, und ein Offizieller der Stadt, der „Deputy“, nahm an der feierlichen Eröffnung teil.
Schon am nächsten Tag fehlte ein Bild. Der Grund dafür war leicht zu erraten: Graffenried hatte in einem Künstleratelier eine Skulptur der Göttin Durga fotografiert. Diese Figur, sehr erotisch modelliert, war noch nackt. Erst später sollte sie bekleidet werden. Offenbar hatte das Bild der nackten Göttin religiöse Gefühle verletzt.
Dann einen Tag später kam eine Verfügung einer höheren Verwaltungsinstanz, vom „Commisioner“, dass die Ausstellung zu schliessen sei. Nun sah Graffenried seine Absicht gefährdet, dass „die Varanasier sich in ihren Bildern betrachten konnten“. Stein des Anstosses war, dass auf den Plakatwänden, den „Billboards“, normalerweise Werbefotos zu sehen sind, Fotos also, die eine geschönte, manipulierte Wirklichkeit darstellen als die nüchterne Realität auf den Bildern Graffenrieds.
Graffenried schaffte es schliesslich doch, seine Ausstellung zu retten, aber die Auseinandersetzungen darum sorgten für einige Schlagzeilen. In der Schuld der Menschen zu stehen, die ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung fotografiert werden: Während des Bürgerkrieges in Algerien in den 90er Jahren war dies der Antrieb, das Gespräch zu suchen und die Bilder zu zeigen. „Ich konnte die Bilder, die ich gestohlen hatte, zurückbringen.“ Dreissig Mal hat Graffenried das Land in jener Zeit besucht und schliesslich nach einer Ausstellung in Algier einen Dokumentarfilm gedreht. „Die Leute wollten sprechen und ihr Algerien erklären.“
"Ästhetische Doppelmoral"
Dieser Film, der auf verschiedenen Festivals gezeigt wurde, landete schliesslich zum kostenlosen Download auf Youtube: War without Images . Als Graffenried davon erfuhr, sprach er mit dem Produzenten. Sollte man veranlassen, dass der Film entfernt wird? Aber dann würde er von einem anderen Algerier wieder hochgeladen. So beliessen sie es dabei, und Graffenried sieht hierin einen tieferen Sinn. Denn auf diese Weise haben sich die unter dem Bürgerkrieg leidenden und von ihm fotografierten Menschen eine zusätzliche Stimme verschafft.
Ist damit aber die Zweideutigkeit, die Susan Sontag in ihrem Essay von 1977 als „ästhetische Doppelmoral“ bezeichnet hat, vollends überwunden? Möchte nicht auch Graffenried möglichst „gelungene“, ästhetisch ansprechende Bilder vom Schrecklichen machen?
Er betont, dass ihm der Inhalt wichtiger sei als das Ästhetische. Man glaubt es ihm, wenn er erzählt, aber der Blick auf seine Bilder beweist, dass sie gewollt oder ungewollt schön sind. Vielleicht kann er gar nicht anders, als immer auch eine gültige Form an seine jeweiligen Themen heranzutragen.
Michael von Graffenried hat für sein Werk einige der höchsten Auszeichnungen bekommen, die die Welt der Fotografie zu vergeben hat: 1989 den World Press Photo-Preis, 2006 wurde er Ritter der französischen Ehrenlegion und 2010 erhielt er den Dr.-Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie – als dritter Schweizer nach René Burri und Robert Frank.
Der aggressive Akt
Dazu kommen zahllose Ausstellungen in aller Welt. Und dennoch schwimmt er gegen den Strom und wehrt sich gegen einen leeren Ästhetizismus, der heute im Trend liege. Es sind ja nicht nur die Galerien und Auktionshäuser, die die Richtung vorgeben. Die heute hochgepriesenen früheren Magazine für Reportagefotografie wie Time, Life, Paris Match oder auch der Stern hatten ein bestimmtes Layout, in das die Fotos passen mussten. Mit seinen Panoramaaufnahmen aus Algerien brachte Graffenried seine Auftraggeber regelmässig zur Verzweiflung, aber weil er als einziger ausländischer Fotograf während des Bürgerkriegs regelmässig in Algerien war, konnte er sich durchsetzen.
Neben der Ästhetisierung gibt es eine zweite unheilvolle Tendenz: die Eile. Fotografen fliegen für zwei oder drei Tage in eine Krisenregion ein, werden zum Teil von interessierten Organisationen bezahlt, machen ihre Bilder, „und dann erklären sie uns Somalia“. Dadurch werde die Fotografie „zum wirklich aggressiven Akt“.
Und die Versuchung ist gross, Szenen, wenn sie sich während des Wartens absolut nicht einstellen wollen, zu inszenieren. Dann wird etwas fotografiert, was so zwar nicht stattgefunden hat, aber durchaus so hätte stattfinden können, zumal die Beteiligten willig mitgespielt haben. Aber das hat nichts mit der Fotografie zu tun, wie Graffenried sie versteht.
"Das Fest des Bieres"
Woran arbeitet er gerade? Die Antwort verblüfft. Er arbeite gerade an einem Bildband über das Münchner Oktoberfest. Graffenried, der in Paris lebt, ist zweimal von der Stadt München in die „Villa Waldberta“ in Feldafing am Starnberger See eingeladen worden. Seit 1982 nutzt der Stadtrat von München dieses Haus für internationale Begegnungen und Studienaufenthalte. Als Projekt hat er sich das Oktoberfest vorgenommen und sich dort, wie auch in Benares „wie eine Pflanze eingepflanzt“. Was er dort zu sehen bekam, erinnerte ihn an seine Erfahrungen in Kriegsgebieten.
Eigentlich sei der Name „Oktoberfest“ falsch und irreführend. Für das meist schon im September beginnende Ereignis habe man in Frankreich den Ausdruck „Fête de la Bière“, was der Sache wesentlich besser entspreche. Denn es werde unendlich viel getrunken. Er habe „zerschlagene Gesichter“ gesehen, die Sanitäter seien immer wieder angerückt und es habe auch Tote gegeben – über die aber niemand spreche. „Es herrscht fast Kriegszustand. Das ist gar nicht so weit weg von Algerien.“
Dieser letzte Satz gehört in das feine Repertoire der Ironie Graffenrieds. Der Bildband soll noch dieses Jahr in dem dafür vorgesehenen Göttinger Verlag erscheinen. Man ist schon jetzt gespannt.
Michael von Graffenried war anlässlich des Abends mit Arnold Hottinger am 7. Februar in Zürich. Seine Website: www.mvgphoto.com.