Gerade in den Dingen, die wir freiwillig tun, die uns also nicht irgendeine Notwendigkeit aufzwingt, sind wir stets auf der Suche. Wir suchen etwas in der äusseren Welt, mit dem unser Inneres in Resonanz treten kann. Das kann ein Produkt sein, „von dem wir geträumt haben“, neue Möglichkeiten, „uns zu verwirklichen“, neue Eindrücke, „die uns motivieren“. Diese Suche ist ein Hin- und Hergehen zwischen Innen und Aussen. Wir befinden uns ständig auf Reisen, auch wenn wir gerade nicht ins Auto oder ins Flugzeug steigen.
Motorräder sind vom praktischen und preisgünstigen Verkehrsmittel überwiegend zu Freizeitgeräten geworden. Um verkauft und benutzt zu werden, müssen sie Fantasien und Wünsche wecken und ansprechen. Was macht es so reizvoll, ausgerechnet mit einem Motorrad zu reisen? Da muss doch etwas sein, das die ganzen Unbequemlichkeiten, die Abhängigkeit vom Wetter und die viel beschworenen Risiken übertrumpft.
Es ist eine Art der Intimität. Sie bildet sich zwischen dem Fahrer und seinem Motorrad und schliesslich zwischen ihm und der Umgebung, also der jeweiligen Landschaft. Sie beginnt, wenn der Fahrer die ersten Hürden der Beherrschung genommen hat und seine Maschine nicht mehr als einen Fremdkörper wahrnimmt, der ihn in irgendeiner Weise ins Verderben stürzen kann. Diese Intimität setzt sich in dem Masse fort, wie er immer genauer spürt, wie sein Körper seiner Blickrichtung folgt und fast unmerklich diese Impulse an die Maschine weitergibt. Der Intimität mit der Maschine entspricht die Beziehung zur Umgebung. Denn seine Bewegungen finden in ihr und mit ihr statt.
Das Motorrad ist eine extrem emotionale Maschine. Die Form spricht die Augen an, der Klang des Motors die Ohren und die Art, wie es sich bewegen lässt, den ganzen Körper. Es weckt Vorstellungen, die ganz unterschiedlicher Art sein können. Der eine träumt von langen, gemächlichen Fahrten, der andere möchte Geschwindigkeit und Fliehkräfte in Kurven erleben, und wieder andere wollen ihre Fähigkeiten auch in Grenzbereichen austesten. Die Formen der Motorräder verkörpern diese Wünsche. Entsprechend sind sie eher behäbig, zum Teil nostalgisch oder aber technikorientiert bis aggressiv.
Die ersten Meter auf einem ungewohnten Motorrad sind für die meisten Fahrer mit kurzen Momenten der Unsicherheit verbunden. Die Sitzposition ist meist etwas anders als gewohnt, die Hebel und Pedalen sprechen anders an. Zudem können sich die Fahreigenschaften unterscheiden. Wie wirkt der Schwerpunkt der Maschine, wie macht sich der Radstand bemerkbar, wie gross ist der Wendekreis? Dazu kommt der optische Eindruck: Manche Maschinen wirken geradezu gewaltig, und es braucht ein bisschen Zeit, die damit verbundene Scheu abzulegen.
Wie extrem die Fantasie von der Erscheinung und von den Fahreigenschaften der Maschinen angesprochen wird, macht auf witzige Weise der Motorradjournalist Walter Wille von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung immer wieder klar. Als er im Juni dieses Jahres einer Maschine von Ducati unter der Bezeichnung „Diavel“ einen Artikel widmete, in dem die Aggressivität sehr gut zum Ausdruck kam, stellte er ihn unter den Titel: „Nach dem Verzehr einer Jungfrau“. Als er zwei Monate später einen ähnlichen Boliden von Triumph getestet hatte, überschrieb er seinen Bericht über diesen „Streetfighter“: „Der Charme des Henkers“.
Entgegengesetzte Konzepte
Die beiden grössten Anbieter in der Schweiz und in Deutschland, BMW und Harley-Davidson, gehen in ihren Konzepten und ihrer Formensprache entgegengesetzte Wege. Zugespitzt kann man sagen: Harley-Davidson folgt dem nostalgischen „American Dream“, BMW setzt auf deutsche technische Perfektion. Beide Unternehmen haben in ihren neuen Programmen zwei Entwicklungen, die diese Unterschiede noch betonen. Neu sind auch die Motoren beider Modelle, denen wiederum die grossen Volumen gemeinsam sind.
Die Switchback von Harley-Davidson lädt mit ihren Koffern und ihrem Windschild zum Tourenfahren ein. Der Witz ist nun, dass man die Koffer und den Windschutz mit wenigen Handgriffen entfernen kann: daher Switchback. Sie wirkt dann viel sprotlicher. Mit ihren 320 Kilo und dem tiefen Schwerpunkt liegt sie solide auf der Strasse. Der vergleichsweise niedrige Sitz vermittelt darüber hinaus ein Gefühl der Sicherheit. Die neu entwickelte 2-Zylinder-Maschine mit 1690 ccm klingt angenehm sonor. Der Motor verleitet nicht zum Rasen, aber er hat Temperament. Erstaunlich leichtfüssig geht die Switchback durch die Kurven und lässt sich wunderbar präzise lenken.
Die Switchback beflügelt die Fantasie. Mit ihr möchte man wie zu Grossvaters Zeiten unterwegs sein und das Improvisierte des noch nicht durchorganisierten Massentourismus erleben. Sie selber zeigt Grenzen auf. Die Koffer sind praktisch, zumal abschliessbar, aber sie sind klein. Und wenn man schneller als 120 km/h fahren möchte, bekommt man es mit störenden Vibrationen zu tun. Schneller als 170 km/h ist sie nicht. Sie eignet sich mehr für zügige Fahrten auf Landstrassen.
Die BMW K 1600 GTL ist das pure Gegenteil davon. Sie verfügt über derartig viel Kraft und Elastizität, dass sie, jedenfalls auf der Landstrasse - an den Panther von Rainer Maria Rilke erinnert, der mit seinem „weichen Gang geschmeidig starker Schritte“ sein Leben hinter Gittern fristen muss. „Wann geht es endlich richtig los?“, scheint sie zu fragen, und mit ihren beachtlichen Koffern lädt sie zu der ganz grossen Tour ein. Überhaupt ist sie von ihren Ausmassen her auf Grösse abgestellt. Das gilt auch für die Masse des optimalen Fahrers. Gleichwohl fühlt sie sich mit ihren 295 Kilo leicht und agil, überhaupt nicht massig an.
Kontrast zur Unsicherheit
Die BMW vermittelt eine technische Perfektion, für die die Welt schon fast zu klein ist. Die Harley gibt mit ihren bewährten Formen und ihrem soliden Fahrwerk Geborgenheit. Sie ist gutmütig und lässt sich entsprechend fordern. Aber sie macht durch unwirsches Rütteln klar, wo bei ihr der Spass aufhört.
Es ist schwer, vom Cockpit der BMW K 1600 GTL nicht beeindruckt zu sein. Die Instrumente wirken so, als würde die Maschine wie von selbst unbeirrbar ihre Bahnen ziehen. So unterwegs zu sein, ist der Inbegriff der Souveränität.
Dabei fällt auf, dass die Motorradbauer seit jeher bestrebt waren, wenigstens einigen ihrer Modelle etwas mitzugeben, das einen enormen Kontrast zur faktischen Unsicherheit des Fahrens bietet. Schon immer gab es Sitze, die eher zu einem Kachelofen als auf eine wackelige Maschine gepasst hätten. Bei Harley-Davidson bieten die zum Teil opulenten Formen mit ihrem gravitätischen Auftritt den Kontrast, bei BMW sind es die technische Brillanz, das zum Teil martialische Design und die bei Touring-Maschinen üppigen Vorbauten.
Die Fantasie macht beim Anblick eines Motorrads immer einen Sprung. Ohne, dass man es will, sieht man es in einer ganz spezifischen Umgebung. Es mag sein, dass es die Bilder der Motorradwerbung sind, die sich, ohne dass man es merkt, in den Vordergrund drängen. Diese Erklärung greift aber zu kurz.
Denn das Motorradfahren färbt auf das Körpergefühl und auf den Kopf ab. In dem Masse, wie sich die Reflexe ausbilden, verändern sich auch die Gefühle, die zum Beispiel mit dem Anblick einer kurvenreichen Passstrasse verbunden sind. Man spürt die Kurven, die Schräglage, das Beschleunigen und Bremsen. Der Körper ist ein Speicher dieser Erfahrungen. Dadurch werden unsere Fantasien geformt. Wir können uns unter den möglichen Zielen des nächsten Jahres nicht nur etwas vorstellen, wir spüren es innerlich. Dazu muss man nicht Motorradfahrer sein. Jeder Sportler kennt das.
Aber es bleibt die Frage, was den besonderen Reiz jener Maschinen ausmacht, die entweder das Nostalgische oder die technische Perfektion verkörpern: beide so, dass sie die reine Fortbewegung auf zwei Rädern überhöhen. Vielleicht lässt sich das gar nicht begreifen. Vielleicht sind das Pointen, die durch Erklärungen nur ihren Charme verlieren.