„Hitler ist eine Folgeerscheinung von Rousseau“. Dies sagt kein Geringerer als der britische Philosoph Bertrand Russell. Rousseau, ein Faschist? Sicher nicht. Aber sein politisches Hauptwerk wird von fast allen politischen und ideologischen Strömungen vereinnahmt. Demokraten und Liberale beziehen sich auf Rousseau, auch Sozialdemokraten, Grüne und Reaktionäre. Und selbst die Faschisten und Kommunisten taten es.
„Über kaum einen Autor ist so viel geschrieben, diskutiert und argumentiert worden wie über ihn“, schreibt der deutsche Politikwissenschaftler Iring Fetscher. „Und über kaum einen mögen die Meinungen weiter auseinandergehen als über den großen Genfer Philosophen.“
Die Nachwelt tut sich schwer mit Rousseau
Allein in Frankreich sind im Hinblick auf Rousseaus 300. Geburtstag 287 neue Publikationen erschienen – mit völlig verschiedenen Wertungen. Die Nachwelt tut sich schwer, den „citoyen de Genève“ zu interpretieren.
Einig sind sich alle: Rousseau will die alte absolutistische Herrschaft wegfegen. Er ist gegen die Monarchie, gegen die Feudalgesellschaft und gegen den starken Einfluss der Kirche. Er spottet über das Gottgnadentum. Er fordert eine starke Beteiligung des Einzelnen an den Staatsgeschäften. In diesem Sinn ist er zu seiner Zeit subversiv, anarchistisch und vor allem revolutionär.
Die Bibel der Revolutionäre
Neben dem Erziehungsroman „Emile“ ist der „Gesellschaftsvertrag“ (Contrat social) Rousseaus wichtigstes Werk - und sein schwierigstes und umstrittenstes. Es stellt, so der Biograf Michel Soëtard, „eine entscheidende Wendung im politischen Denken des Abendlandes dar“. Es schaffe die theoretische Grundlage zur kommenden grossen (französischen) Revolution.
Der „Contrat social“ ist die Bibel der Revolutionäre von 1789. Robespierre trägt ihn stets in seiner Tasche. Auch Danton und Saint-Justs beziehen sich immer auf ihn. Im Namen Rousseaus schlachten Robespierres Sansculottes während des jakobinischen Terrors Tausende Gegner ab.
„Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten“. Dieser Satz steht am Anfang des ersten Kapitels des „Gesellschaftsvertrages“. Solange ein Volk zum Gehorsam gezwungen werde und gehorche, handle es gut. Sobald es aber „sein Joch abschütteln kann und es abwirft, handelt es noch besser“. Es holt sich seine Freiheit „mit gutem Recht zurück“.
Die Sklaven würden sich ihrem Herrn „verkaufen“. Dafür erhielten sie immerhin das Nötigste zum Leben, ihren Lebensunterhalt. Aber warum soll sich ein Volk einem König, einem Herrscher verkaufen? „Es ist wahrlich nicht so, dass ein König seinen Untertanen den Unterhalt sichert. Im Gegenteil: er bezieht den seinen von ihnen“.
Ein Pakt zwischen Regierenden und Regierten
Wie aber können sich die Menschen zu einer Gesellschaft zusammenschliessen, so dass jeder frei und sein Eigentum geschützt bleibt?
Die berühmteste Passage im Gesellschaftsvertrag lautet: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt, und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und frei bleibt wie zuvor…“
Dazu braucht es laut Rousseau einen gesellschaftlichen Pakt. Alle Mitglieder einer Gesellschaft schliessen sich freiwillig zusammen. Sie bilden einen Gemeinwillen (volonté générale).
Rousseau fordert die totale Volksherrschaft. Es müsse darauf hingearbeitet werden, dass alle am gleichen Strick ziehen und das gleiche wollen – etwas, das allen dient. Die Interessen jedes Einzelnen müssten also mit dem Gemeinwillen übereinstimmen. So gebe es keinen Unterschied mehr zwischen Autorität und Volk. Regierte und Regierende sollen also identisch werden.
Der Einzelne unterwirft sich freiwillig
Das Volk beauftragt die Autorität mit der Staatsführung. Diese Autorität darf nur regieren, wenn sie vom Volk voll und ganz unterstützt wird. Das Volk kann der Autorität ihre Unterstützung jederzeit entziehen.
Im Gesellschaftsvertrag unterwirft sich jeder Einzelne freiwillig der Gemeinschaft. Doch der Einzelne bleibt frei und gehorcht nur sich selbst. Die Autorität muss sich verbürgen, jedem einzelnen im Volk seine Freiheit zu sichern. Gesetze garantieren die rechtliche Gleichheit aller.
Aber: „Jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, kann durch die gesamte Körperschaft dazu gezwungen werden: Was nichts anderes heisst, als dass man ihn zwingen wird, frei zu sein“.
Was ist dieser volonté générale, dieser Gemeinwillen, diese Autorität? Eine Regierung? Ein Gremium, ein Diktator, ein Volksmonarch, ein Ältestenrat, ein weiser Gesetzgeber (Législateur), der dem Volk zu einer gerechten Verfassung verhilft? Oder ein Philosophenherrscher à la Platon? Die Interpretationen gehen völlig auseinander.
Umerziehung?
Wie kann man sich einer Autorität völlig unterwerfen und die eigene Freiheit behalten? Der Einzelne muss mit dem Gemeinwillen übereinstimmen. Und wenn er es nicht tut, wird er dazu gezwungen. Heisst das „Umerziehung“, „Zwangserziehung“, Erziehungslager“, „Gulag“? Fragen über Fragen.
Die Erziehung zum Staatsbürger und Patrioten ist für Rousseau „die wichtigste Angelegenheit des Staates“. Sie dürfe nicht den Lehrern überlassen werden. Sie müsse von ehrenwerten Vorbildern und Autoritäten durchgeführt werden. Wie geht das?
Opposition gegen den „Gemeinwillen“ ist nicht erlaubt. Genau darauf beziehen sich Robespierre und seine Schlächter. Denn Rousseau habe ja gesagt, wer sich dem Gemeinwohl nicht unterziehe, müsse gezwungen werden. Laut Robespierre muss deshalb die Regierung wohltätig gegenüber braven Bürgern sein – aber grausam gegenüber Verrätern.
Der Einzelne muss also in der Allgemeinheit aufgehen. Parteien soll es nicht geben. Die seien nicht nötig, denn alle sollen ja am gleichen Strick ziehen. Minderheiten dürften also laut Rousseau ihre Meinung nicht artikulieren, weil es gar keine Minderheitsmeinungen geben soll.
Ein Plädoyer für den totalitären Staat?
Sich freiwillig einer Autorität unterwerfen bedeutet auch: einen Machthaber schalten und walten lassen. Das hat der „Nazi-Philosoph“ Carl Schmitt schnell erkannt. Er sieht in Rousseaus Werk eine Gebrauchsanweisung für die Diktatur. Der Staat werde so nicht mehr durch Einzelinteressen bedroht, denn solche könnten zu Bürgerkriegen und Staatszerfall führen.
Auf der gegenüberliegenden Seite betrachteten Marx und Lenin Rousseaus Vorstellungen als Rechtfertigung für die Diktatur des Proletariats.
Sich bedingungslos unterwerfen, damit man die eigene Freiheit gewinnt? Dies können nicht alle nachvollziehen. Hier setzt die Kritik von Bertrand Russel ein. Der britische Philosoph sieht im „Gesellschaftsvertrag“ ein Plädoyer für den totalitären Staat, in dem der Einzelne machtlos ist. Vor allem kritisiert er die geforderte totale Veräusserung der individuellen Freiheit an eine Gemeinschaft.
Rousseau propagiere zwar die Freiheit, sagt Russel, doch in Wirklichkeit strebe er Gleichheit an – auf Kosten der individuellen Freiheit. Weil der Mensch all seine Rechte der Gemeinschaft abgebe, gebe er seine Menschenrechte vollkommen preis.
Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper sieht es ähnlich. Er zweifelt, ob Regierende und Regierte identisch werden können. Und wenn, könne das zum Totalitarismus führen, und zwar zu einem rechten oder einem linken.
Schlüsselwerk der Aufklärungsphilosophie
Dennoch: Der „Gesellschaftsvertrag“ gilt als Schlüsselwerk der Aufklärungsphilosophie. Er ist erster Wegbereiter von Demokratie und liberalen Ideen. Wenn das auch noch nicht den demokratischen und liberalen Vorstellungen von heute entspricht.
„Auf seine Freiheit zu verzichten“, sagt Rousseau, „bedeutet, die menschlichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar die Menschenpflichten aufzugeben“.
Zu den besten Kennern Rousseaus gehört auch der inzwischen 90-jährige Iring Fetscher. In seinem Werk „Rousseaus politische Philosophie“ schreibt er: Rousseau war gewiss nicht totalitär, aber mindestens ebenso wenig liberal. Er sei weder „Vorläufer“ noch „Mitschuldiger“ des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts.
Rousseau sei zwar „ein blinder Verehrer der antiken Polis-Demokratie gewesen“. Doch er war sich bewusst, „wie wenig diese auf entwickelte moderne Grossstaaten mit ihren starken sozialen Spannungen unter den Vollbürgern angewandt werden kann“
Gegen Unterjochung des Einzelnen
Rousseaus Gesetzgeber (Législateur) ist „also alles andere als ein Diktator oder Tyrann. Er gleicht eher einem Experten, dessen Kompetenz aber nicht technischer, sondern moralischer Natur ist.“
Der deutsche Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch weist darauf hin, dass Rousseau dem Einzelnen das unveräusserliche Recht gibt, bei der Gesetzgebung mitzuentscheiden. Die Mehrheit der Bürger sei politischer Entscheidungsträger. Rousseaus Ideen führten zu einer „Sphäre individueller Entfaltungsfreiheit“. Das habe nichts mit Totalitarismus zu tun, schreibt Mayer-Tasch.
Rousseau betont im „Contrat social“ immer wieder, dass die Freiheit des Einzelnen nicht angetastet werden darf. Auch in seinen „Bekenntnissen“ spricht er immer wieder davon, wie wichtig ihm die persönliche Freiheit ist, wie wenig er „unterjocht“ werden will.
Nur ein "Volk von Narren" verzichtet auf Freiheit
Deshalb hat er sicher nicht an ein totalitäres Regime gedacht, als er seinen „Contrat social“ schrieb. Nichts wäre dem eingefleischten Individualisten ferner gelegen als Faschismus oder Bolschewismus. Im „Contrat social“ schreibt er: Wenn sich ein Volk umsonst einem Herrscher hingibt, ist es „ein Volk von Narren“.
Rousseaus Hauptverdienst ist sein Kampf gegen Absolutismus und Willkürherrschaft einiger Weniger. Ihr seid frei geboren, ruft er den Menschen zu, zerschlagt eure Ketten.
Das Staatsgebilde, das er vor Augen hat, wirkt aus heutiger Sicht konstruiert, theoretisch, utopisch, realitätsfremd. Das hat wohl auch mit der Zeit zu tun, in der es entstand.
Rousseau hat erste Ansätze von Demokratie und Liberalismus aufgezeigt. Ein Demokrat im heutigen Sinn war er noch nicht. Aber er hat als Erster die Tür zu Demokratie und Liberalismus aufgestossen.
Lesen Sie die frühreren Artikel in unserer Rousseau-Serie
„Ich bin ein Prinz aber auch ein Schuft“
Rousseau und Genf: “Ich war in Genf ein Verrückter, ein Atheist, ein Rasender, ein wildes Tier“
Rousseau und die Frauen: „Mein erhitzes Blut verlangt nach Frauen“