Der Befund ist klar: Geheimdienste und private Unternehmen sammeln Daten von jedem einzelnen Nutzer des Internet und der Mobiltelefonie. Aus diesen Daten werden Profile zusammengesetzt, die es erlauben, mögliche Bedrohungen, aber auch Konsumgewohnheiten zu erkennen. Der Übergang ist fliessend.
In einem Diskussionsbeitrag, "Warum wir jetzt kämpfen müssen", der in der vergangenen Woche zunächst von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert wurde, vergleicht Martin Schulz diese Vorgänge mit dem Beginn der Industrialisierung. Sie hat Gesellschaften, Kulturen, Städte und Landschaften von Grund auf umgekrempelt. Entsprechend entstanden Parteien, um diese Prozesse auf politischer Ebene zu gestalten.
Neue industrielle Revolution
Aus diesem Vergleich zieht Martin Schulz den Schluss, dass die Politik heute wieder vor ähnlich grossen Aufgaben stehe. Es genüge nicht, die neue Technik sich selbst zu überlassen und zu hoffen, dass sie von allein in die richtige Richtung geht. Genauso, wie unsere Vorfahren zerstörerische Tendenzen politisch zu bändigen versuchten, müssten auch wir heute die Rahmenbedingungen für die neue Technik definieren.
Das Argument von Martin Schulz hat den grossen Vorteil, den ganzen Ernst der neuen Entwicklungen deutlich zu machen. Auch heute ist der Mensch wieder durch die Technik bedroht. Denn indem anonyme Mächte von ihm Profile erstellen, die sein künftiges Verhalten vorherzusagen erlauben, wird der Mensch, wie Schulz sagt, „determiniert“. Schon jetzt gibt es Systeme für Autos, die den Fahrer lückenlos überwachen. Es wird soweit kommen, dass derjenige, der das nicht will, höhere Risikoprämien an die Versicherung zahlen muss. Auf diese Weise wird der Mensch zu einem blossen Faktor in Kalkülen, über die auf der Bühne der Politik nicht entschieden wird.
Der unmerkliche Zugriff
Der Vergleich mit der Industrialisierung macht aber auch klar, wie gross die Schwierigkeiten heute sind. Denn der digitale Zugriff auf den Menschen entzieht sich der unmittelbaren Wahrnehmung. Wir bekommen erst sekundär etwas davon mit, nämlich in Gestalt „personalisierter“ Werbebotschaften, etwa Kaufempfehlungen von Amazon.
Und vom Treiben der Geheimdienste wissen wir zwar aus den Medien, aber ihr Zugriff ist ebenfalls unserer Wahrnehmung entzogen. Er erzeugt kein verräterisches Knacken wie ganz früher die Telefonüberwachung. Wir spüren den Zugriff so wenig wie radioaktive Strahlung. Wir brauchen Instrumente, um uns der Gefahr bewusst zu sein.
Von Immanuel Kant stammt die Einsicht, dass die Worte, die wir benutzen, mit Vorstellungen verbunden sein müssen: "Begriffe ohne Anschauung sind leer." Entsprechend schwierig ist es für die Politiker, aber auch für die Medien, vor Gefahren zu warnen, für die es Gründe, aber kaum Anschauungen gibt. Kaum jemand gerät physisch in die Fänge der Geheimdienste. Und es ist selten, dass jemandem ein Konto gesperrt oder ein Kredit verweigert wird.
Das Paradox der Datenmengen
Was dagegen unmittelbar erfahrbar ist, sind die immensen Vorteile der neuen Ausspähmethoden: Wenn die Konzerne genauer als ihre jeweiligen Kunden wissen, was diese jetzt oder später möchten, entsteht das Gefühl wohliger, umfassender Betreuung. Da braucht es schon einen wachen Verstand, um sich dagegen aufzulehnen.
Und kann man sich wirklich vorstellen, was die Geheimdienste mit den unendlich vielen Daten von mir, meinen Tanten und Onkeln, meinen Nachbarn, Freunden und Chat-Partnern anfangen? Entsteht nicht das Paradox, dass sich aufgrund der schieren Datenmengen ein Gefühl der Gleichgültigkeit breitmacht?
Der menschliche Wahrnehmungsapparat ist noch nicht soweit, um die neuartigen Gefahren wirklich zu spüren und entsprechend Alarm auszulösen. Bislang sind es nur die besser informierten und sensibleren Zeitgenossen, die aufgrund ihrer breiter abgestürzten Wahrnehmung innerlich das Gefühl der Bedrohung mobilisieren. Das war zur Zeit der Industrialisierung anders: Materielle Not, schlechtes Wohnen, Hunger und Krankheit drängten sich unabweisbar jedem auf, der davon betroffen war.
Bürger statt blosse Konsumenten
Die Betreiber digitaler Überwachung punkten zudem mit einer Steigerung unseres vermeintlichen Komforts: Sicherheit und Konsum. Gegen Komfort anzutreten, ist wesentlich schwieriger als gegen erfahrene materielle Not. Um dabei erfolgreich zu sein, wird sich die Politik auch gegen Trends in den meisten Medien auf eine alte Tugend besinnen müssen: die Menschen nicht als Konsumenten, sondern als Bürger anzusprechen.
Das klingt idealistisch und weltfremd. Aber es ist nicht aussichtslos. Immer wieder gab es in der Geschichte Zeiten der Aufklärung, die aus Sackgassen führten. Immanuel Kant hat dafür die klassische Formulierung gefunden: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Sollten wir dazu heute nicht mehr in der Lage sein?