Die Kritik am Reichtum, an Geiz und der Hartherzigkeit der Herrschenden ist so alt wie die Schriften der Bibel. Wenn der Papst sie jetzt erneuert, ist das aber mehr als die blosse Wiederholung des längst Bekannten. Denn er baut unauffällig, aber höchst wirksam moderne Gedankengänge ein.
Welcher Preis?
Zunächst beschreibt er die prekäre Situation der Angst und Unsicherheit, die auch in den Wohlstandsgesellschaften um sich greift. In diesem Zusammenhang spricht er von einem „epochalen Wandel“, der mit den durchaus positiv zu bewertenden Fortschritten in Wissenschaft und Technik verbunden ist.
„Wir befinden uns im Zeitalter des Wissens und der Information, einer Quelle neuer Formen einer sehr oft anonymen Macht.“ Das klingt ein bisschen gestelzt, trifft aber genau das Dilemma aller, die mit diesem Wissen und den Informationsmöglichkeiten umgehen. Welchen verborgenen Preis zahlt man an wen?
“Diese Wirtschaft tötet“
Im nächsten Absatz, der überschrieben ist: „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschliessung“, findet Franziskus Worte, die in ihrer Schärfe nicht mehr steigerungsfähig sind. Er erinnert an das Gebot,“du sollst nicht töten“, und stellt fest: “Diese Wirtschaft tötet“. Wir haben es also mit einer tötenden Wirtschaft zu tun.
Geradezu sarkastisch fährt Franziskus fort: Wenn ein alter obdachloser Mann auf der Strasse erfriere, interessiere das niemanden, aber der kleinste Kurssturz an der Börse sei allemal Schlagzeilen wert. Und dann folgt in ganz knappen Sätzen ein Gedankengang, der, ohne es direkt auszusprechen, die Wirtschaft mit den übelsten totalitären Staatsformen von rechts und von links gleichsetzt.
Staatlich verordneter Mord
Die Armen seien nicht nur arm, sie seien von der Wirtschaft aus unserer Gesellschaft „ausgeschlossen“. Das ist ein Terminus, der eine erschreckende Tiefendimension hat. Er bedeutet nämlich in der neueren Geschichte, dass mit dem Ausschluss einzelner Menschen oder ganzer Gruppen der staatlich verordnete Mord nicht weit ist.
Diejenigen, die in Rom dem Papst bei der Formulierung dieser Sätze zur Seite standen, wussten ganz offensichtlich, worauf sie sich beziehen: die Theorie der Ausschliessung, wie sie unter anderem in dem Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben - „Homo sacer“ - dargelegt worden ist. In diesem Buch setzt sich Agamben mit dem Phänomen auseinander, dass der moderne totalitäre Staat des Nationalsozialismus, aber auch des Stalinismus auf der Vernichtung derjenigen beruht, die aus ethnischen, rassischen oder politischen Gründen aussortiert werden. Agamben wiederum stützte sich dabei auf Analysen von Hannah Arendt und Michel Foucault.
Wer aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist, verfügt über keinerlei Rechte. Massenvernichtung und Konzentrationslager sind die Folgen. Wie um zu unterstreichen, dass er nur zu genau weiss, was er sagt, beendet der Papst den betreffenden Passus mit dem Satz: „Die Ausgeschlossenen sind nicht `Ausgebeutete`, sondern Müll, `Abfall`.“
Kaufsucht
In den Augen des Papstes ändert daran auch nichts die schöne Theorie, dass trotz aller Ungleichheit die unteren Schichten auf die Dauer vom Luxus der oberen profitierten: trickle-down. Selbst wenn dieses den Grenzen der Fall sei, bleibe doch die Tatsache bestehen, dass ein grosser Teil der Menschheit auch von diesem Effekt nicht profitieren könne. Ganz im Gegenteil werde dadurch eine Mentalität erzeugt, die nach immer mehr verlangt: „ Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekauft haben.“ Darüber, so fährt der Papst fort, vergessen wir vollständig die „fehlenden Möglichkeiten unterdrückten Lebens“.
Die Finanzkrise ist eine logische Folge dieser geistigen Verarmung. Der Mensch als blosser Konsument und entsprechender Produzent im Rahmen dieses Systems verfügt nicht über die geistige Widerstandskraft, um aus diesen Zirkeln auszubrechen. Das gilt auch für die Wirtschaft als Ganzes: Die immer höheren Zinslasten schnüren, so Franziskus, den wirtschaftlichen und politischen Handlungsspielraum ab.
Grosse Angriffsfläche
Gegen die „Vergötterung des Geldes“ setzt der Papst ein unmissverständliches „ Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen“. Dahinter steht der Aufruf, mittels der Ethik das bisherige System mit seiner „tief verwurzelten Korruption“ zu überwinden. Es versteht sich von selbst, dass der Papst diese Ethik als Ausdruck des Willens Gottes ansieht.
Der Papst äussert sich nicht zu der Frage, wie die Ethik in Wirtschaft und Gesellschaft konkret umgesetzt werden soll. Er selbst stellt in seinem „apostolischen Schreiben“ fest: „Dies ist kein Dokument über soziale Fragen.“ Entsprechend gross ist die Angriffsfläche. Auf der einen Seite wird bemängelt, dass der Papst die Freiheit in den westlichen Gesellschaften nicht akzeptieren könne und letzten Endes nur ein Ressentiment zum Ausdruck bringe. Dazu kommt das nahe liegende Argument, dass die Wirtschaft anders ticke als die Ethik und die besten Absichten an den Klippen wirtschaftlicher Notwendigkeiten zerschellen würden.
Verachtung gegenüber der Ethik
Diese Argumente aber sind bei weitem nicht so gut wie sie klingen.Denn der Papst behauptet nicht zu wissen, wie Wirtschaft und Gesellschaft im einzelnen neu gestaltet werden müssen. Er setzt sich lediglich mit einer Geisteshaltung auseinander, die sich ganz den Mechanismen des Marktes hingibt. „Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet.“ Demgegenüber fordert er, dass die Ethik gegenüber den „Kategorien des Marktes“ ein Gegengewicht bildet, um daraus „ein Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen“.
Diejenigen, die nach wie vor der Meinung sind, dass die Wirtschaft und ihr Markt frei von solchen subjektiven Einstellungen wie ethischen Maximen seien, sollten einmal erklären, warum seit Jahren beträchtliche Summen mit den Büchern und Seminaren zum Thema Motivation verdient werden. In der Motivation wird der wichtigste Faktor dafür gesehen, dass ein Einzelner es an die Spitze schafft und Unternehmen Märkte erobern. Ist es dann so naiv, die Frage zu stellen, ob zur Motivation nicht auch anderes als die Maximierung des Gewinns gehören könnte?
Ohne Ausweg
Und ist es wirklich weltfremd, ethische Werte einzufordern, ohne gleich genau sagen zu können, wie diese sich mit den Mechanismen der Wirtschaft im einzelnen in Einklang bringen lassen? Sind denn die reine Theorie der Wirtschaft und die Theorie der Finanzmärkte so viel weiter? Es wäre kein Fehler, wenn es nicht nur diverse sich widersprechende Ansätze gäbe, sondern auch Antworten auf die Frage, wie Wirtschaft und Finanzen wieder aus dem Schlamassel herausfinden wollen, die unter den Bedingungen der freien Märkte weltweit angerichtet worden sind.
Es ist weder zu erwarten noch zu wünschen, dass der Papst und die katholische Kirche den Ausweg weisen. Aber etwas anderes ist von grosser Bedeutung: Mit seinen Worten bringt der Papst Defizite zum Ausdruck, die zu leugnen ein gewaltiges Mass an Ignoranz erfordert. So traditionsverhaftet Papst Franziskus auch ist, so genau hat er etwas auf den Punkt gebracht, das nicht nur katholische Gläubige empfinden.