Wer Verfügungen für seine letzte Lebensphase trifft, steht vor nahezu unüberwindlichen Hürden. Denn er kann nicht wissen, worin sein Wille bestehen wird, wenn alles anders ist, als er es sich je vorgestellt hat.
Die Ansprüche des Rhetorik-Professors
Dieses Thema ist alles andere als theoretisch. Vielmehr gibt es dafür ein Beispiel, das die ganze Vieldeutigkeit einer letzten Verfügung vor Augen führt. Der berühmte Rhetorik-Professor Walter Jens hatte zusammen mit seinem ebenso berühmten Professorenkollegen von der Theologie, Hans Küng, lange darüber nachgedacht, ab wann das eigene Leben nicht mehr lebenswert ist. Zur Freiheit und zur Würde des eigenen Lebens gehörte ihrer Meinung nach der Vollbesitz der eigenen geistigen Kräfte und dass man bei dessen Verlust seinem Leben ein Ende machen kann.
Die Schwierigkeit von Walter Jens bestand nun darin, dass er aufgrund seiner schweren Demenz in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr in der Lage war, ein derartiges Urteil und eine derartige Entscheidung zu treffen. Schriftlich hatte er mit seiner Frau Inge vereinbart, dass sie für sein Ende sorgen würde. Aber so schwer das Leben mit ihm auch wurde, so konnte sie sich doch nicht zu einem solchen Schritt entschliessen.
Von Daniel Kehlmann gibt es eine Geschichte, in der eine Frau aus Deutschland nach Zürich fährt, um dort dank der Hilfe einer Sterbehilfeorganisation ihrem Leben ein Ende zu setzen. Alles ist klar. Aber im letzten Moment überkommt sie ein solches Grauen, dass sie wieder zurück nach Deutschland geht.
Der grosse Konsens
Seit Jahrzehnten gibt es eine Diskussion um das sogenannte humane Sterben, und vor kurzem hat der Deutsche Bundestag darüber eine viel beachtete Debatte geführt. Der Konsens ist im Grunde grösser als der Dissens. Denn selbst die christlichen Kirchen lehnen es mehrheitlich nicht mehr ab, über das humane Sterben nachzudenken, anstatt das Lebensende als „unverfügbar“ jeder menschlichen Bewertung und Einflussnahme zu entziehen.
Und es tritt niemand für das Gegenteil ein: den Tod möglichst preisgünstig so zu applizieren, dass die Gemeinschaft keine „unnötigen“ Kosten tragen muss. Es gibt ein Zögern – ein Zögern der Gesellschaft und des Einzelnen. Der Tod ist eine Schwelle. Wie hoch oder wie niedrig muss sie angesetzt werden? Und wie will man sicher sein, dass man sie in einem konkreten Fall richtig einschätzt?
Reaktion auf Unsicherheit
Daher die grosse Unwägbarkeit: Was ist der „letzte Wille“? Selbst Patientenverfügungen bieten nur zu einem Teil Hilfe, weil sie nicht für jeden denkbaren Fall aufgesetzt werden können. Und wenn ein Patient sich nicht mehr klar artikulieren kann, aber Signale sendet, die seiner Verfügung zu widersprechen scheinen, stehen die behandelnden Ärzte vor dem Dilemma, entscheiden zu müssen, worin denn nun der „mutmassliche“ Wille besteht.
Wie reagiert der Mensch auf Unsicherheit? Entweder er blendet sie aus oder er versucht, sich für den denkbar schlechtesten Fall zu wappnen. Im Falle des Siechtums oder Sterbens heisst das, dass man eine Verfügung trifft oder sich an eine Organisation wendet, die einem im Extremfall bei der Realisierung des Todeswunsches beisteht.
Neue Perspektiven
Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio nennt das eine „Sterbeversicherung“. Er hat dafür viel Verständnis, weil er die Menschen versteht. Aber er macht auf zwei Dinge aufmerksam: Zum einen nehmen nur relativ wenige Menschen die vertraglich vereinbarte Möglichkeit in Anspruch, willentlich aus dem Leben zu scheiden. Zum anderen betont er wieder und wieder, dass die Fixierung auf die letzte Leidensphase und die Frage nach einem selbstbestimmten Tod an der Realität schwerstkranker und sterbender Menschen vorbeigeht.
Dieser Gian Domenico Borasio ist ein Phänomen. Vor drei Jahren trat er mit seinem Buch unter dem Titel, „Über das Sterben“, an die Öffentlichkeit. Der Titel ist nicht gerade ein Aufsteller, aber das Buch eroberte die Bestsellerlisten. Denn Borasio zeigt neue Perspektiven. Diese Perspektiven helfen, das Dilemma, einen Willen festzulegen, der sich immer noch wandeln kann, zu überwinden.
Die Ziele der Palliativmedizin
Borasio versteht die Angst vor Schmerzen, Abhängigkeit und Siechtum nur zu gut. Und er weiss auch, dass die Medizin bislang zu wenig dafür getan hat, dem Menschen auch dann noch zu helfen, wenn sie seine Gesundheit nicht mehr herstellen kann. Er nennt das: „Änderung des Therapieziels“. Die Ärzte müssten lernen, dass es ein wichtiges und legitimes Ziel ist, die Leiden des Patienten zu mindern, seine Lebensqualität so weit wie möglich zu sichern, auch wenn er nie wieder gesund werden wird.
Das sind die Ziele der Palliativmedizin. Auf diesen noch relativ jungen Zweig ist Borasio bei seinen Forschungsarbeiten an Patienten mit schwersten neurologischen Erkrankungen gestossen. Er hatte gehofft, mit Hilfe molekularbiologischer Methoden Therapien entwickeln zu können. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Was aber sollte nun mit den Patienten geschehen? Um ihnen helfen zu können, musste Borasio umdenken.
Die Palliativmedizin kann dem Menschen zwei Urängste nehmen. Die eine Urangst bezieht sich auf Schmerzen und einen qualvollen Tod. Die andere auf Hilflosigkeit, Abhängigkeit, demütigende Pflegebedürftigkeit. An zahlreichen Beispielen aus seinem medizinischen Alltag macht Borasio klar, dass es heute möglich ist, in den allermeisten Fällen Schmerzen zu lindern. Und er erzählt davon, wie heutzutage Teams aus Ärzten, Pflegern, Psychologen und Seelsorgern einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass auch die letzte Lebensphase als wertvoll erlebt werden kann.
Der Tod als Spiegel des eigenen Lebens
Sein Fazit ist: Kein Sterben gleicht dem anderen, und die meisten Menschen sterben so, wie sie gelebt haben. Das gilt im Positiven wie im Negativen. In seinen Büchern führt Borasio zahlreiche Beispiele an. Das sind zum Teil skurrile, zum Teil traurige und zum Teil erheiternde Geschichten. Sie alle zeigen, wie unvorhersehbar und komplex es in der letzten Lebensphase zugeht. Es kommt nicht selten vor, dass die Teams mit der Betreuung der Angehörigen weitaus mehr beschäftigt sind als mit der Sterbebegleitung.
Es ist daher nur sehr schwer möglich, im Voraus festzulegen, was wann geschehen beziehungsweise, was wann unterbleiben soll. Borasio spricht sich nicht gegen Patientenverfügungen aus, rät aber, diese in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt auf der Basis einschlägiger Formulierungshilfen zu erstellen. Wie aber steht es mit der Sterbehilfe im Sinne des aktiven Herbeiführend des eigenen Todes?
Man könnte, wenn man wollte
Zu unterscheiden ist zwischen dem "assistierten Suizid" und der „Tötung auf Verlangen“. Letzteres ist in Belgien gesetzlich zugelassen, in Holland zwar strafrechtlich verboten, aber unter bestimmten streng geregelten Bedingungen wird auf eine Strafverfolgung verzichtet. Klar spricht sich Borasio dagegen aus, zumal die Statistiken zeigen, dass mit der Akzeptanz dieser Praxis die Häufigkeit zunimmt; es sinkt die Hemmschwelle.
Etwas anderes ist der assistierte Suizid. Hier können Ärzte oder in selteneren Fällen die Angehörigen die Vorbereitungen treffen, aber der letzte Akt muss vom Patienten vorgenommen werden. Was wie eine juristische Spitzfindigkeit aussieht, zeigt in der Praxis eine hohe Relevanz. Denn in etwa einem Drittel der Fälle scheut der Suizidant vor dem letzten Schritt zurück; es meldet sich also bei ihm eine andere Instanz oder Komponente in der Willensbildung. Daraus lässt sich schliessen: Es ist gut und beruhigend zu wissen, dass man könnte, wenn man wollte, aber man kann es offen lassen, ob man es am Ende wirklich will.
Lieber heute als morgen
Welches Fazit lässt sich daraus ziehen, dass es in Anbetracht der vielen Unwägbarkeiten praktisch nicht möglich ist, eine bindende Willensbekundung niederzulegen? Borasio weist einen verblüffend einfachen Ausweg: eine Vollmacht für den nächsten Angehörigen. In dem Fall, dass man selbst daran gehindert ist, klar und deutlich zu artikulieren, was getan und unterlassen werden soll, können das bevollmächtigte Angehörige tun.
Man solle damit nicht warten, rät Borasio, denn man wisse nicht, was morgen ist. Hinter diesem praktischen Rat liegt eine unübersehbare Pointe. Denn wer seinen Willen delegiert, muss das Vertrauen haben können, dass dies nicht gegen die eigene Intention gebraucht wird. Und da schliesst sich der Kreis: Der eigene Wille ist nicht unabhängig von den Umständen, auf die er Einfluss nehmen will.
Hat nun Inge Jens gegen den Willen ihres Mannes gehandelt, als sie ihn weiterleben liess? Diese Frage hat sie wieder und wieder beschäftigt, aber dann erlebte sie auch, dass er sich wie ein Kind im Rahmen seiner reduzierten Lebensumstände freuen konnte.
Gian Domenico Borasio, selbst bestimmt sterben, Verlag C. H. Beck, München 2014
Gian Domenico Borasio, Über das Sterben, C. H. Beck, München 2011