Heute etwa um 18 Uhr mitteleuropäischer Zeit haben Israelis und Palästinenser nach zähen Verhandlungen endlich eine Waffenruhe vereinbart. Darin verpflichten sich beide Seiten, jegliche Gewalttaten einzustellen.
Intensivierung des Krieges
Der Krieg hatte heute, am achten Tag der Auseinandersetzungen, neue Dimensionen angenommen: Von der See, vom Land und aus der Luft bombardierte die Israelische Armee (IDF) ununterbrochen die palästinensische Infrastruktur, wobei auch Wohnhäuser zertrümmert wurden. Auf der Küstenstrasse, der Hauptverkehrsader des Gazastreifens, barst eine Brücke. Der Verkehr musste auf Seitenstrassen umgeleitet werden – ein Problem für die rasche medizinische Versorgung von Verletzen.
Die IDF intensivierte die Angriffe, nachdem am Morgen in Tel Aviv eine Bombe in einem Bus explodiert war – 28 Passagiere wurden verletzt. Bislang hat sich keine palästinensische Fraktion für den Anschlag verantwortlich erklärt. Es war der erste Terroranschlag innerhalb Israels seit März vergangenen Jahres. In den palästinensischen Gebieten gab es Freudenbekundungen über den Anschlag. Selbst in der von Fatah regierten Westbank demonstrierten Palästinenser seit Jahren erstmals ihre Unterstützung für die islamistische Regierung im Gazastreifen: Auf meterhohen Spruchbändern applaudierten sie Hamas.
Bis zum späten Nachmittag wusste heute niemand, ob die Palästinenser und Israelis sich einigen und eine Waffenruhe vereinbaren würden. Noch morgens um vier Uhr hatten israelische Flugzeuge über Gaza Flugblätter abgeworfen und die Bewohner aufgefordert, sich von Hamas-Einrichtungen fernzuhalten. Aus Angst vor einer Bodenoffensive, wie sie die Palästinenser Anfang 2009 erlebt hatten, flohen Tausende in die Schulen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), wo die UN-Mitarbeiter sie mit Decken und Kochutensilien versorgten.
Viele Opfer auf palästinensischer Seite
Seit Beginn der Auseinandersetzungen hat die IDF nach eigener Aussage 1450 Ziele im Gazastreifen angegriffen. Auf dem «Raketenzähler» ihrer Website gibt sie am Nachmittag an, aus Gaza seien bislang 880 Raketen abgeschossen worden, etwa die Hälfte habe sie jedoch abfangen können. Drei Israelis sind bei diesen Angriffen ums Leben gekommen. Der stellvertretende Aussenminister Israels, Danny Ayalon, erklärte unterdessen gegenüber einer amerikanischen Radiostation: «Die meisten Menschen, die in Gaza umkamen, haben es verdient.» Unter den 1090 Verletzten sind nach Angabe palästinensischer Quellen indes 380 Kinder unter zehn Jahren, etwa hundert Frauen und 75 alte Menschen. Bis heute sind 152 Personen ums Leben gekommen, dreissig von ihnen Kinder. Die medizinische Versorgung droht derweil zusammenzubrechen.
«Ich bin stolz, Palästinenser zu sein», sagt Awni Fasrhat, fast trotzig. Awni lebt im Norden von Gaza-City, der Hauptstadt des Gazastreifens, wo die meisten Raketen explodieren. Der 23-Jährige hat das Haus eine Woche lang nicht verlassen. «Selbst die streunenden Hunde und Katzen haben sich verkrochen», sagt er. Awni hat englische Literaturwissenschaft studiert, doch wie die meisten jungen Akademiker in Gaza ist er arbeitslos. Mindestens 30 Prozent aller Menschen hier haben mangels einer Infrastruktur keine Arbeit (die CIA schätzte 2010 sogar 40%), 38 Prozent leben unter der Armutsgrenze.
Eingeschlossen auf engem Raum und von Hilfe abhängig
Ein grosses Problem ist die dramatische Bevölkerungsdichte auf diesem Landstrich, der nur wenig grösser als die Stadt München ist: Auf jeden Quadratkilometer kommen durchschnittlich 4’750 Einwohner. Verschärft ist diese drangsalierende Enge durch die Tatsache, dass die meisten Menschen von Zäunen eingeschlossen sind und Gaza nicht verlassen dürfen. Kenner der Lage am Ort sprechen deshalb von einem «grossen Gefängnis».
Die meisten der 1,7 Millionen Einwohner sind Flüchtlinge, die zum Grossteil in acht Flüchtlingslagern leben und vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge UNRWA versorgt werden. Ohne deren Hilfe könnten viele gar nicht überleben. Das UNRWA verteilt nicht nur Nahrungsmittel an die besonders Armen, sondern betreibt auch Kliniken und 245 Schulen.
Zermürbende Angst
Die Schulen waren in der vergangenen Woche freilich geschlossen. Wie Awni Farhat, der noch immer davon träumt, sich als Journalist zu etablieren, blieben die Einwohner aus Angst vor den unberechenbaren Raketeneinschlägen seit Mittwoch letzter Woche (14. November) meist zu Hause. «Man weiss nie, wo die Raketen einschlagen werden», sagt Sharhabeel Al Zaeem. Der Rechtsanwalt lebt in einem Wohnhaus in Gaza-City und gehört zu den wenigen, die einen Keller haben. Doch auch das ist kein wirklicher Schutz für seine Familie. Sein jüngstes Kind ist elf Jahre alt und kann seit Tagen schlecht schlafen. Al Zaeem fühlt sich im ständigen Dilemma, ihm nicht guten Gewissens sagen zu können, dass es sicher sei. Seine 19-jährige Tochter klammere sich oft an ihn oder seine Frau, erzählt er, und wenn sie bei einem Angriff nicht im selben Raum mit den Eltern sei, schreie sie vor Angst. «Noch schlimmer ist es für meine Nichten, die jünger als zehn Jahre alt sind. Sie weinen viel, sind panisch und wollen sich von ihren Müttern gar nicht mehr lösen», sagt der Anwalt.
Am Montag hat er sich zum ersten Mal zum Einkaufen aus dem Haus getraut, weil die Vorräte ausgegangen waren. Besonders wichtig ist es, Wasser zu besorgen. Die Wasservorräte sind von den jüdischen Siedlern, die Ariel Sharon 2005 dort abzog, und durch die Überbevölkerung ausgebeutet. Die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen hat den Wassermangel zudem noch verschlimmert, und die Brunnen in Gaza sind durch Meerwasser versalzen. Das Leitungswasser ist aus diesen Gründen ungeniessbar und gesundheitsgefährdend.
Folgen des Kriegs 2008/2009 noch nicht verwunden
Wie die meisten Menschen in Gaza traf dieser Krieg die Al Zaeems unvorbereitet. Dabei hatten sie den Krieg von 2008/2009 noch nicht verwunden. Bei der damaligen Offensive «Operation Blei» kamen 1’400 Palästinenser ums Leben, die Infrastruktur und zahllose Wohnhäuser waren zerstört. Materiell hatten die Regierungsstellen in Gaza den Schaden seither jedoch behoben: Häuser und Strassen wurden wieder errichtet.
Allein in diesem Jahr sind fast tausend Baugenehmigungen für mehrstöckige Gebäude erteilt worden. Neue Supermärkte entstanden, in denen es eine ähnlich grosse Auswahl an Lebensmittel wie in Nord-Europa gibt. Sogar die Immobilienpreise zogen an. Die wenigen Reichen konnten in Gaza wieder halbwegs gut leben, und auch sonst herrschte weitestgehend Ruhe. Diese Entwicklung ist durch den neuen Krieg zurückgeworfen worden, und es wird sehr viel Anstrengung kosten, das Zerstörte abermals aufzubauen.
Psychische Folgen des Kriegs
Viel schlimmer als die materiellen Schäden sind jedoch die seelischen. Der Psychologe Eyad al-Sarraj, der seit der Ersten Intifada das auch aus der Schweiz geförderte Gaza Community Mental Health Hospital leitet, schätzt, dass rund 15 Prozent aller Kinder am posttraumatischen Stress-Syndrom leiden und weitere 30 Prozent auffällige Stress-Symptome zeigen. «Wir sind dieser Situation ausgeliefert, keiner kann das Haus verlassen, keiner kann sich bewegen», sagte er am Montag. Nachts hat Sarraj, der stets ein unabhängiger politischer Mensch gewesen ist, kaum geschlafen. Der Lärm der israelischen Kampfjets ist ohrenbetäubend, die Angst, dass Raketen im eigenen Haus einschlagen könnten, ist unerträglich. Die meisten Menschen in Gaza lassen die Fenster geöffnet, damit das Glas bei der Explosion der Raketen nicht zerbirst. Geöffnete Fenster bedeuten jedoch Kälte und noch mehr Kriegslärm.
«Diese extreme Krise wird dazu führen, dass wir neue Leute bei uns trainieren und einstellen müssen», sagt Sarraj, «doch wir haben das Geld nicht.» Noch immer sind die Psychologen in seinem Zentrum damit beschäftigt, die Traumata des letzten Krieges zu behandeln. Besonders betroffen sind Kinder – sie haben Schlafstörungen, sind vollkommen verunsichert, nässen das Bett und brauchen ständig körperlichen Kontakt mit ihren Eltern. Besonders getroffene Kinder isolieren sich von der Umwelt ab, sind appetitlos und nehmen am Leben kaum noch teil. Die Eltern, die ihre Kinder vor diesem Trauma nicht schützen konnten, stehen der Situation ohnmächtig gegenüber. Es ist gerade die alltägliche Ohnmacht, auch in «normalen» Zeiten ohne Krieg, die für die Menschen gravierende Folgen hat: Sie werden oft resigniert, passiv oder – aggressiv.
Ohnmacht ist in der Regel der Motor für Gewalt. Dass die islamistische Bewegung dem übermächtigen israelischen Gegner Paroli bieten kann, findet bei einem Grossteil der Palästinenser naturgemäss Beifall. «Dieser Krieg hat Hamas leider sehr gestärkt», sagt Palästinas Botschafter in Deutschland, Salah Abdel-Shafi. Der neue Angriff auf den Gazastreifen hat somit auch politische Folgen.
Der Krieg stärkt Hamas
Die islamistische Regierung in Gaza hatte bis vor kurzem stark an Einfluss verloren. Die meisten Menschen betrachteten Hamas als weitere korrumpierte Partei, die allein am Machterhalt interessiert sei. Dass sie den palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung aufrechterhalten könnte, glaubten nur noch wenige. Mit dem neuen Krieg kehrte sich der Sympathieverlust aber radikal in Solidarisierung um. Viele Menschen, die Hamas bislang sehr kritisch gegenüber standen, fühlen sich von der Bewegung nun vertreten.
Sogar Anhänger der Fatah, der dominanten politischen Vertretung in der Westbank, unterstützen gegenwärtig die Bemühungen von Hamas, sich gegen die Angriffe der israelischen Armee zu wehren. Ein palästinensischer Intellektueller in Gaza beschreibt es so: «Es ist genauso wie bei den Israelis: Sobald wir von aussen bedroht sind, bilden wir eine einheitliche Front, und unsere Differenzen sind in diesem Moment irrelevant.»
Die israelische Regierung unter Netanyahu und die westlichen Kräfte, die den Krieg gegen den Gazastreifen derzeit einseitig unterstützen, erweisen sich damit einen Bärendienst: Hamas kann sich in seiner Rolle als Vertretung palästinensischer Interessen jetzt wieder sicher fühlen. Das Nachsehen haben dabei am Ende vor allem jene Menschen, die weder die Politik noch die Werte der Islamisten teilen: Sie sind Opfer der Extremisten auf beiden Seiten. Dabei haben die meisten von ihnen keinen anderen Wunsch, als in Ruhe zu leben und ihren Kindern eine gute Zukunft bieten zu können.
Die Waffenruhe sollte heute um 19 Uhr in Kraft treten. Zwei Stunden später, um 21 Uhr, schiessen beide Seiten jedoch weiter.