Über Zeit zu sprechen, heisst, über etwas zu reden, was man immer weniger hat. Dabei sind wir umgeben von Maschinen, Kommunikations- und Verkehrsmitteln, die uns Zeit sparen sollen. Aber wo bleibt sie denn, die Zeit? Sie hat sich buchstäblich verflüchtigt. Woran liegt das?
Das gute Leben
Hartmut Rosa untersucht diese Frage aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Die Pointe seines Vorgehens liegt darin, dass er damit unser Lebensgefühl ebenso in den Blick bekommt wie das Abnehmen der Fähigkeit unserer Gesellschaft, Probleme zu lösen. Tatsächlich befinden wir uns insofern am Ende der Geschichte, als wir uns von der Zukunft nichts Gutes mehr erwarten. Unsere Gesellschaft fühlt sich ausgelaugt.
Warum schaffen wir es nicht mehr, fragt Rosa, „ein gutes Leben“ zu führen? Jeder Kenner weiss, dass diese Frage am Anfang der abendländischen Philosophie steht. Und diese Frage hat bis in unsere Zeit die Soziologen und Philosophen umgetrieben. Daraus entstand der Marxismus und in seinem Gefolge die „Kritische Theorie“. Sie fragte, woran die Aufklärung gescheitert ist. Denn die Aufklärung hat es nicht vermocht, eine friedfertige und gerechte Gesellschaft mit einem weit verbreiteten Lebensglück zu schaffen.
Verpasste Chancen
Hartmut Rosa hat sich für seinen schmalen Band nicht weniger vorgenommen, als die „Kritische Theorie“ auf der Basis seiner Zeitanalysen aufzunehmen und weiterzuführen. Dies geschieht, indem er die sozialen Folgen der Beschleunigung beschreibt.
Zeitsparende Geräte und Verkehrsmittel erlauben es dem Einzelnen, sich in ganz anderer Weise als früher zu entfalten. Die ganze Welt steht ihm buchstäblich offen, und genau das ist sein Verhängnis. Denn er mag noch so rennen und eilen: Er kann nur einen Bruchteil der Möglichkeiten realisieren. „Ganz egal, wie schnell wir werden, unser Anteil an der Welt, also das Verhältnis der realisierten Optionen und gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht grösser, sondern konstant kleiner.“
Gnadenlose Wettkämpfe
Was Rosa auf der individuellen Ebene beschreibt, gilt ebenso für alle Akteure in der weltweiten Wirtschaft. Die Schrumpfung von Distanzen durch schnellere und vor allem immer billigere Transporte und die immer effizientere Technik erzeugen einen stetig wachsende Wettbewerbsdruck. „Die Konkurrenz schläft nicht“, sagte man früher, und heute zeigt sich in aller Schärfe, was es bedeutet, wenn auf der ganzen Welt unter Ausnutzung jedweden Standortvorteils gnadenlose Preiswettkämpfe ausgetragen werden.
Ein Unternehmer, der sich dem entziehen will, verschwindet vom Markt. Aber was zwingt eigentlich den Einzelnen, sich dem Irrsinn schrankenlosen Wettbewerbs auszusetzen? Diese Frage führt zum Kern der Analysen von Hartmut Rosa. Ganz im Sinne der „Kritischen Theorie“, die ja stets die Auswirkungen der modernen Welt auf das Bewusstsein der Einzelnen im Blick hatte, beschreibt Rosa die mentalen Veränderungen, die die Beschleunigung bewirkt.
Kein Gott, der verzeiht
Wie findet jemand seinen Platz in der Gesellschaft? In früheren Zeiten konnte es genügen, einem bestimmten Stand anzugehören oder sich höhere Weihen mit akademischen Titeln zu verschaffen. Oder man hatte eine bestimmte Position in einem Unternehmen oder der Verwaltung. Heute aber gibt es diese Haltepunkte kaum noch. Heute müssen Kompetenzen jeden Tag neu erwiesen werden, und jeden Tag kommen jene hinzu, die mit ihren Kompetenzen andere verdrängen wollen. Wir befinden uns also in einem ständigen Kampf um den eigenen Platz.
Genau das geschieht auch im privaten Leben. Es genügt heute nicht mehr, am einmal Erreichten festzuhalten. Ganz selbstverständlich wird jeder mit jedem verglichen: Wie fit ist er, welchen Sport treibt er, was weiss er, was kann er, was strahlt er aus? Wer irgendwie herausragen will, kann nicht einfach stehenbleiben. Er muss stets beweisen, dass er „etwas leistet“. Und wer stehenbleibt, fällt zurück.
Auch wenn er es wollte, kann sich der Einzelne dem Druck der Beschleunigung und des Wettbewerbs nicht entziehen. Er kann die Mechanismen ebenso durchschauen wie Hartmut Rosa, an einem kommt er nicht vorbei: Dass er derjenige ist, der die volle Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen seines Lebens trägt. Das Ideal der Aufklärung, dass jeder nach seinen Kräften nach dem Glück streben kann, hat sich unter der Beschleunigung zu einem Albtraum entwickelt. Anders als in der Religion gibt es jetzt niemandem mehr, der einem die Schwächen verzeiht.
Schlimmer als unter Saddam Hussein
Totalitär ist dieses Denken, totalitärer noch als irgendeine Diktatur. Rosa versteigt sich an einer Stelle zu der Behauptung, dass selbst unter einem Diktator Saddam Hussein nicht so viele Menschen nachts schweissgebadet und angstgeplagt erwacht seien wie jetzt in unserer freien Gesellschaft. Diese Behauptung, so fragwürdig sie auch ist, hat den unbestreitbaren Vorteil, das ganze Ausmass des Terrors zu markieren, dem wir in der Beschleunigung ausgesetzt sind.
Ausführlich beschäftigt sich Rosa mit zwei Einwänden, die sich gegen seine These vortragen liessen. Es geht dabei um die „Entschleunigung“ und zum zweiten darum, dass wir mit dem Wettbewerbsdruck doch auch sehr viel erreichen, das Leben also insgesamt reicher und lebenswerter wird.
Entschleunigung findet auf vielerlei Weise statt. Sie kann funktional sogar ein Äquvalent zu Beschleunigung sein: der Stau. Weil alle mit ihren Autos möglichst schnell ans Ziel kommen wollen, bleiben schliesslich alle stehen. Das gilt auch mental: Psychische Erkrankungen wie Burnout und Depression nehmen epidemische Ausmasse an.
Vorgänge, die Zeit brauchen
Interessanter aber ist ein anderes Entschleunigungsphänomen, die bewusste und gewollte Unterbrechung: Klosteraufenthalte für Manager, Slowfood statt Fastfood, Wandern, Stille und Meditation für jedermann. Das alles aber ist für Rosa kein wirklicher Gegentrend zur Beschleunigung. Vielmehr wird diese Art der Entschleunigung praktiziert, um danach wieder für die Beschleunigung fit zu sein. Letztlich soll die Entschleunigung der Beschleunigung dienen. Sie ist kein Mittel gegen die Entfremdung, also den Verlust des Sinns, den man doch mit seinem Dasein und seinem Tun verbinden möchte.
Nun gibt es aber Lebensbereiche, die sich gar nicht oder nur wenig beschleunigen lassen. Dazu gehören natürliche Prozesse wie Heilung oder Schlaf, kulturelle wie Erziehung und Bildung, aber auch politische wie Debatten in einer Demokratie. Wenn die Beschleunigung zum alles dominierenden Faktor wird, werden jene „zeitraubenden“ Prozesse nach und nach vernachlässigt. Aber gerade diese Prozesse bieten die Rahmen, die politische und institutionelle Stabilität, ohne die die beschleunigten Abläufe auf Dauer nur ins Chaos führen können.
Ende der Geschichte
Das kann man sogar innerhalb der Wirtschaft beobachten: Die Herstellung von Produkten und die Erbringung von Dienstleistungen erfordern Zeit. Die lässt sich zwar verkürzen, aber gemessen an der Zeit in einem anderen Sektor, dem Finanzsektor nämlich, geht auf der Produktions- und Dienstleistungsebene alles viel zu langsam. Deswegen haben sich die Transaktionen im Finanzsektor exponentiell vermehrt - mit dem Resultat, dass der nächste Bankencrash Wirtschaft und Gesellschaft in den Abgrund reissen kann.
Nicht nur diese Entwicklung liefert Rosa das Argument gegen die Ansicht, dass trotz allem in unserer Gesellschaft noch Fortschritte zu verzeichnen sind. Denn der Zwang, alles immer schneller werden zu lassen, führt in den „rasenden Stillstand“, wie Paul Virilio, auf den sich Rosa mehrmals bezieht, diesen Zustand nennt. Für wirkliche Innovationen fehlt schlicht die Zeit. Wer will sie entwickeln und vor allem: durchsetzen? Es ist doch viel effizienter, den Weg des geringeren Widerstandes zu gehen und das Bestehende fortzuentwickeln. Da muss wenig diskutiert und erklärt werden.
Mehrfach nimmt Rosa die Rede vom „Ende der Geschichte“ auf, um sie anders als Francis Fukuyama sie gemeint hat, zu drehen: Tatsächlich leben wir in einer Endzeit, weil wir immer schneller laufen, uns immer schneller drehen und dabei Sinn, Ziel und Richtung aus den Augen verloren haben.
Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung. Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, übersetzt von Robin Celikates, Suhrkamp, Berlin 2013, 155 Seiten