Die eigentümliche Ironie des Fortschritts besteht in seinem raschen Veralten. Seit 1950 werden auf der Photokina in Köln alle zwei Jahre die neuesten Entwicklungen der Kamerahersteller gezeigt. Es geht immer schneller voran. Der Fortschritt des Fortschritts 2012: Die Konsumenten brauchen keine Kameras mehr, denn sie machen ihre Bilder mit ihren Mobiltelefonen.
Was bleibt da den Herstellern der Kameras? Grössere Sensoren, die allmähliche Ablösung der Spiegelreflexkameras durch Systemkameras, die ohne die aufwendige Mechanik der Spiegel auskommen und entsprechend handlicher sind, dazu die immer kompakteren und leistungsfähigeren Pocketkameras: alles fantastisch. Dahinter stehen die Logiken des technischen Fortschritts und des weltweiten Marketing.
Hoffnungsloses Veralten
Aber die Kameras lassen sich im Grunde nur noch auf den Datenblättern voneinander unterscheiden. Und das heisst: eigentlich kaum noch. Und sie veralten hoffnungslos mit jedem neuen Produktzyklus. Und sind mehrere Bilder in Folge pro Sekunde, Video in HD-Qualität selbst von Pocket-Kameras, porentiefe Scharfzeichnung und immer mehr Automatiken zur Motiverkennung wirklich das, was den Inbegriff des fotografischen Denkens und Fühlens zumindest der etwas anspruchsvolleren europäischen Kunden ausmacht?
Das zu fragen, ist nicht allein Sache von mehr oder weniger kulturpessimistischen Kritikern. Die Hersteller selber haben ein gutes Gespür für das Defizit, das in den verwechselbaren neuen Modellen liegt. Deswegen sind Marken wie Olympus und Fujifilm auf die Idee gekommen, modernste Technik in klassischen Formen zu verpacken. Und am besten ist es Fujifilm gelungen, mit dem Modell Fuji X100 das Herz der Fans höher schlagen zu lassen: Ist das nicht eine gute alte Leica vollgepackt mit Hightec? Was aber passiert beim Original?
Der Take Off in die moderne Fotografie
Leica ist in mehrfacher Hinsicht der Inbegriff des Klassischen. Oskar Barnack hat 1913 die 35-mm-Kleinbildkamera erfunden. Das war der Take Off der Fotografie in die moderne Welt. Denn die Kleinbildkamera machte die Fotografie handlicher, schneller und billiger.
Gekoppelt war diese Erfindung an hochpräzise Mechanik und Optik. Die Firma Leica ist der Logik ihrer Begründer lange Zeit treu geblieben. Die Mechanik und die Optik konnten nie präzise genug sein. Daran arbeitete man, und Modellwechsel gab es nur, wenn die Weiterentwicklung der Technik diese angezeigt erscheinen liessen. Entsprechend konnte zwischen den Wechseln mehrere Jahre vergehen.
Die Leica-M war etwas für Berufsfotografen, aber auch für Amateure, die entweder besonders ambitioniert waren oder sich von der Präzision dieser kleinen Kunstwerke faszinieren liessen. Da die Leica zudem teuer war, wurde sie nie zum Massenprodukt. Sie war immer etwas Besonderes. Sie liess die Herzen höher schlagen.
Der Auftritt der Japaner
Ein erstes Problem entstand, als Japan auf den Plan trat. Denn die Japaner entwickelten Spiegelreflexkameras, die gegenüber den Leica-M-Modellen erhebliche Vorteile boten. Aufgrund der direkten Durchsicht durch die Objektive wurde das Fotografieren einfacher, die Kameras, speziell die von Nikon, waren sehr robust, und insgesamt wurden weit mehr Brennweiten als bei den Leica-M-Modellen angeboten. Entsprechend wechselten viele Fotografen zu diesen neuen Marken.
Auch in Deutschland wurden Spiegelreflexkameras gebaut und angeboten. Zu den Anbietern gehörten edle Marken wie Zeiss-Ikon, aber interessanterweise auch Betriebe aus der DDR wie Pentacon und Ihagee für das untere Preissegment. Vor diesem Hintergrund entschloss sich Leica, eine Spiegelreflexkamera auf den Markt zu bringen. Das R-System wurde 1964 von der Fachwelt gespannt erwartet. Es erfüllte die hohem Qualitätsansprüche, die mit dem Namen Leica verbunden sind, aber die meisten Profis blieben bei Nikon oder Canon.
Der Auftritt der Japaner, der vielen deutschen Kameramarken nach und nach ein Ende bereitete, war für Leica noch nicht sonderlich problematisch. Denn Leica war in jeder Weise zum Klassiker geworden: Das galt für die Formen der Kameras und Objektive, ihre Qualität und den Nimbus der Marke.
Das Ringen mit der Tradition
Erst die zweite Angriffswelle brachte Leica in ernsthafte Schwierigkeiten. Am Anfang nahm Leica diese neue Entwicklung nicht besonders ernst, denn gemessen an der über Jahrzehnte gepflegten und stetig weiter entwickelten Qualität der Kameras mit ihren analogen Filmen, waren die Resultate digitaler Fotografie nicht überzeugend. Ganz im Stillen und ohne dass man sich dessen bewusst war, handelte es sich um einen Konflikt zwischen Klassik und moderner Entwicklung. Gemessen an der Klassik sah die aktuelle technische Entwicklung noch unbeholfen aus. Aber als diese Entwicklung den Kinderschuhen entwachsen war, begrub sie ihren Vorgänger unter sich.
Zunächst rannte Leica der digitalen Technik hinterher, und es hiess immer wieder, man habe in Solms den Trend verschlafen. Jahrelang stand das Unternehmen auf der Kippe, bis ein neues Management unter Andreas Kaufmann das Ruder herumreissen konnte. Die Elemente der neuen erfolgreichen Strategie bilden eine merkwürdige Mischung aus einem radikalen Bruch mit den Traditionen von Leica und einem Anknüpfen an die grosse Tradition.
Leica bei Lumix
Der Bruch bestand darin, dass Leica sich gleich in mehrfacher Hinsicht dem Massenmarkt öffnete. So ging man zunächst mit dem japanischen Hersteller Fuji, dann mit Lumix eine Kooperation ein. Lumix verbaut bis heute die ehemals exklusiven Leica-Objektive in seinen Kompaktkameras für den Massenmarkt. Und ganz offensichtlich arbeiten die Entwicklungsabteilungen seit 2002 zusammen. Einzelne Modelle von Kompakt- und Bridgekameras erscheinen parallel. Man kann also ein Leica-Modell bei Lumix fast baugleich zu einem erheblich günstigeren Preis erwerben.
Diese Kooperation wird von Leica nicht kaschiert. Ganz im Gegenteil bietet Leica in den eigenen Werbemitteln und dem Newsletter die Produkte von Lumix neben den eigenen an. Das wirkt auf den ersten Blick erstaunlich. Nach einer herkömmlichen Philosophie müsste man denken, dass Lumix den Kameras von Leica erhebliche Konkurrenz macht. Aber bei Leica denkt man offenbar: Für das rote Markenzeichen und für das Prestige, das mit dem Namen Leica verbunden ist, gibt es immer noch eine hinreichend grosse Nachfrage.
Die Trivialisierung des Fotos
Dabei entsteht aber ein Problem: Wie kann der Nimbus der Marke aufrecht erhalten werden, wenn das Geld hauptsächlich in einem Massenmarkt verdient wird? Lässt sich auch unter den Bedingungen einer Technik, deren immense Entwicklungskosten nur durch weltweiten Vertrieb wieder hereingeholt werden können, ein eigenes Gesicht unterscheidbar machen?
Die Digitalisierung der Fotografie hat eine Vermassung zur Folge, die die Vermassung des Kleinbildkamerazeitalters weit hinter sich lässt. Jeder kann heute zu jeder Zeit unter nahezu allen Bedingungen Bilder machen und elektronisch versenden. Als die ersten Leicas auf den Markt kamen, da hatten Fotografien noch etwas Besonderes, geradezu Unwahrscheinliches an sich. Fotos wurden „bestaunt“. Dagegen hat die Digitaltechnik Fotos restlos trivialisiert. Sie sind zum alltäglichen Geplapper geworden.
Klobige Klassik
Um das Besondere der Marke zu wahren, hat Leica die Systemkamera M mit digitaler Technik versehen. Auf diese Weise versucht Leica, das Klassische in der eigenen Markengeschichte in das digitale Zeitalter zu transportieren.
2006 kam die M 8 auf den Markt, die der letzten mechanischen M 7 von 2002 folgte. Auf den ersten Blick sah die M 8 wie eine normale Leica-M aus, aber nur auf dene ersten Blick. Denn die ist deutlich breiter und höher und hat daher nicht mehr den Charme der grazilen mechanischen Vorgängermodelle. Sie wirkt klobig. Klobige Klassik ist ein Widerspruch in sich.
Dazu gesellt sich ein hoher Preis. Das Gehäuse der M 8 war mit knapp 5.000 Euro deutlich teurer als das mechanische Vorgängermodell. Und die Technik wies schwere Macken auf. So berichtet Hans-Heinrich Pardey von der FAZ über peinliche Fehler bei der Farbwiedergabe, die selbst bei billigsten Consumer-Kameras unbekannt sind. Sein Resümee: „Egal, wie detailliert und kontrastreich die Bilder bis in die linke untere Ecke gelingen, die neueste Version der digitalen M-Leica ist nicht wirklich konkurrenzfähig, sondern eine eher schmerzliche Erinnerung daran, welche Spitzenklasse die M-Leicas vor Jahrzehnten waren.“ FAZ vom 16.05.2009.
Gnadenlose Erzieherin
Ungewöhnlich schnell liess Leica ein neues Modell folgen. Hielten sich früher erfolgreiche M-Modelle bis zu 18 Jahre wie die 1984 vorgestellte M 6, so ging der Wechsel von der M 8 zur M 9 diesmal binnen dreier Jahre. Aber auch diesmal urteilten die Fachredakteure verhalten. So lobte Rüdiger Abele in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das Konzept - „Eine gnadenlose Erzieherin“ - monierte aber das Fehlen von Qualitätsmerkmalen, die in anderen weitaus preisgünstigeren Kameras zum selbstverständlichen Standard gehören. Die M 9 sei noch nicht „auf der Höhe der Zeit“ und daher noch nicht ganz „im Markt angekommen“. (FAS, 22. Mai 2011)
Mit der digitalen Spiegelreflexkamera S2 hat Leica den Weg noch steiler gemacht. Allein das Gehäuse kostet um die 20.000 Franken, und es gibt erst wenige Objektive und die auch nur mit festen Brennweiten. Dass es sich bei diesem Weg in immer höhere Höhen mit immer dünnerer Luft um kein Versehen irgendwelcher Ingenieure oder gar der Marketingabteilung handelt, stellte Leica im Sommer mit der „Monochrom“ unter Beweis. Diese Kamera kostet nicht weniger als eine M9 und liefert ausschliesslich Schwarz-Weiss-Bilder, diese allerdings in sagenhafter Qualität.
Klassik und Snobismus
Eine Umfrage, die Leica unter der Fan-Gemeinde machte, zeigt, dass diese Idee nur noch von einer Minderheit begrüsst wird. Sicherlich kann es der PR- oder Werbeabteilung gelingen, immer wieder hochprofessionelle Experten aufzubieten, die glaubhaft versichern, dass ihre ganze Hingabe für die Fotografie im Grunde nur eine Vorbereitung darauf war, endlich mit dieser Kamera die schon lange gehegten Bildideen zu realisieren.
Schlägt bei Leica das Klassische in Snobismus um? Die „Sondermodelle“ der M9, „Edition Hermes“ genannt, die lediglich Accessoires mit spezifischen Design aufbieten, nähren diesen Verdacht zusätzlich. Häme liegt nahe, aber Häme kann auch den Blick für Probleme verstellen. Vielleicht ist das Problem unlösbar: Wie lässt sich an eine klassische Tradition unter völlig anderen technischen und wirtschaftlichen Bedingungen anknüpfen?
Das Geheimnis des Liebhabers
Das kann nicht gelingen. Denn das Klassische – bzw. das später als „klassisch“ bezeichnete – entstand im Ringen um das Mögliche im noch nicht Möglichen: Architektur, Autos, Kameras, Motorräder. Immer wurde technisches Neuland betreten, und die Formen entstanden in diesem Neuland – zum Teil ingeniös entworfen. Aber diese Formen waren Ausdruck des Aufbruchs, kein Selbstzweck.
Wenn die Technik dem allem davonläuft und das Realisierte den Traum des Möglichen immer mehr parodiert, kann sich das Klassische nur noch als Zitat zeigen. Deswegen gibt es Retro-Kameras wie von Fujifilm und Olympus. Oder es gibt Anleihen an klassischen Formen wie bei Nikon oder Bearbeitungsprogramme, die Schwarz-Weiss-Filme nachahmen. Das Klassische ist das Zitierte.
Vielleicht besteht die grosse Leistung von Leica darin, der Sehnsucht nach dem Klassischen zusätzlich eine Form zu geben, die fragwürdig sein mag, aber auf dem Markt eine hinreichend grosse Resonanz findet. Und vielleicht wird man eines Tages den Anspruch als klassisch empfinden, gegen den Strom des massenhaft Produzierten Kameras zu setzen, die nur noch von einer kleinen Spezies verstanden werden: den Liebhabern.