In guten Zeiten zeigt die Kultur keine Risse. Ihre Oberfläche wirkt glatt und verdeckt die Kräfte, die unter ihr liegen. Dass der Mensch immer auch anders kann, zu Mord und Totschlag fähig ist, wirkt dann eher historisch, jedenfalls nicht aktuell und bedrängend.
Eingezäunte Religion
In schlechten Zeiten reichen die zügelnden Kräfte der Kultur nicht mehr aus. Für den Ausbruch archaischer Kräfte gibt es viele Ursachen. Religiöser Fanatismus ist eine davon. Götter stehen gegen Götter, und ihre jeweiligen Anhänger fühlen sich berufen, dafür zur Gewalt zu greifen.
Das europäische Denken ist dagegen zwar nicht gefeit, aber es hat einen unvergleichlichen Vorteil. Denn es hat in seiner Geschichte mehrere Phasen der Aufklärung durchgemacht. Dabei hat die Kultur die Religion zwar nicht beseitigt, aber sie hat sie eingezäunt. Ein denkender Europäer kann zwar an seinen Gott glauben, aber er wird dabei seinen Glauben in eine kulturelle Klammer setzen. Er weiss einfach, dass es auch andere Perspektiven im Ensemble der Kultur gibt.
Weltethos und Humanum
Hierin liegt ein natürlicher Zugang zur Toleranz. Die Ringparabel, die ihren Ursprung in Boccaccios Dekameron hat und von Lessing weitergeführt wurde, ist dafür der klassische Ausdruck. Aber gerade deshalb steckt in jeder Konfession ein Widerspruch: Warum entscheidet sich der Gläubige für seinen ganz spezifischen Gott mit den spezifischen Dogmen und den Riten zu seiner Verehrung?
Konsequenter ist es, auf konfessionelle Festlegungen und Engführungen zu verzichten. Denker wie Spinoza, Goethe oder Einstein sind diesen Weg gegangen. Sie haben die Essenz des Religiösen konfessionslos extrahiert. In gewisser Weise ist auch der katholische Theologe Hans Küng diesen Weg gegangen, als er versuchte, ein „Weltethos“ zu kreieren, in dessen Zeichen sich alle grossen Religionen gegenseitig tolerieren können. Der Kern dieses Weltethos besteht in dem „Humanum“, also der unantastbaren Würde der Menschen, den Küng als Gemeinsamkeit aller Religionen ausmacht.
Die Welt der Werte
Im Dezember 2011 hat der inzwischen verstorbene amerikanische Philosoph Ronald Dworkin an der Universität Bern im Rahmen der „Einstein Lectures“ den Versuch unternommen, eine Religion unter Verzicht auf jeden konkreten Gottesglauben darzustellen. In diesem Jahr hat Suhrkamp das Buch dazu herausgebracht. An den Zeiten der geradezu explodierenden religiösen Intoleranz werden die Überlegungen Dworkins zwar nichts ändern, aber sie zeigen, dass die Kultur und kultiviertes Denken durchaus religiöse Impulse aufnehmen können, ohne in die Falle konfessioneller Engführungen zu geraten.
Dworkin beschreibt die Ergriffenheit von Schönheit, von der Unendlichkeit und den Rätseln des Weltalls und die Überzeugung, dass das eigene Leben eine Bedeutung hat, die über die biologische Existenz hinausgeht. Das Leben stelle Aufgaben und erfordere die Wahrnehmung von Verantwortung. Und dann gebe es, wie Dworkin wieder und wieder betont, die ethischen Werte. Die meisten Menschen hätten die tief verwurzelte Überzeugung, dass es einen unverrückbaren Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, der sich zwar nicht wissenschaftlich beweisen lässt, der aber nicht verhandelbar ist. Die Welt der Werte habe eine eigene unbezweifelbare Realität.
Die Essenz der Religion
Die Ergriffenheit von dem, „was uns unbedingt angeht“, wie der Theologe Paul Tillich immer wieder formuliert hat, macht für Ronald Dworkin den Kern der Religion aus. Für ihn ist es zweitrangig, ja sogar gefährlich, diese Unbedingtheit evidenter Erfahrungen an historisch gewachsene Religionen oder Konfessionen zu binden. Der wahre Glaube, so argumentiert Dworkin in Anlehnung an Tillich, enthält geradezu einen Protest gegen jede Art der Fokussierung auf konfessionelle Festlegungen.
Konsequenterweise spricht Dworkin vom „religiösen Atheismus“. Bestechend an dieser Argumentation ist, dass Dworkin Grundhaltungen beschreibt, die zumindest alle Hochreligionen kennzeichnen. Es handelt sich hier also um eine Art Essenz, auf die auch Hans Küng abgezielt hat. Aber es bleibt ein bohrender Zweifel:
Ist das selbständige Reich der ethischen Werte wirklich so evident, wie Dworkin das gerne hätte? Er stützt sich auf starke philosophische Argumentationslinien, aber die reichen nicht bis in die Gegenwart. Denn die gegenwärtige Philosophie erkennt auch in den scheinbar unbedingten Werten die historische Dimension und die kulturelle Formung.
Argumentativer Appell
Dworkin wiederum spricht von der „radikalen Unabhängigkeit der Werte von jeglicher Historie“. Sie sind gewissermassen frei schwebend. Dworkin sieht, dass man ihm vorhalten könnte, seine Argumentation sei „nur ein Pfeifen im Walde“. Dem entgegnet er: „Wenn das also Ihr Einwand ist, haben Sie einfach keine religiöse Weltsicht.“ - Setzen!
Trotz dieser skurrilen Volte ist das Anliegen von Dworkin ernst zu nehmen. Denn Argumentationen beziehen ihren Wert nicht allein aus ihrer abstrakten Schlüssigkeit, sondern sie haben auch einen appellativen Charakter. Und so liesse sich Dworkins Vorlesung so verstehen, dass Intuitionen von Werten, Sinn und Bedeutung dazu dienen, Halt und Orientierung zu geben. Und es hilft der Gesellschaft, Intoleranz und Gewalt aus „Achtung vor dem Gesetz“ (Kant) einzuzäunen.
Sloterdijks "schreckliche Kinder"
Die grosse Frage ist, ob das gelingen kann. Mit seinem Buch, „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, hat Peter Sloterdijk Analysen vorgelegt, die auf das Gegenteil hindeuten. Sloterdijk beschreibt den Prozess der Moderne als progressive Skrupellosigkeit. Im Zeichen des Fortschritts, im Zeichen der Durchsetzung von Gerechtigkeit oder der vermeintlich höheren Werte der eigenen Gruppe ist nicht nur alles erlaubt, sondern Gewalt und Terror erscheinen als positiver Wert an sich.
Es gibt eine merkwürdige Parallele zwischen beiden Büchern: Dworkin beschreibt die Welt der Werte als überzeitlich. Sloterdijk sieht als stärksten Impuls der politischen Bewegungen seit der Französischen Revolution die Loslösung von allen überkommenen Erblasten, um eine neue, vermeintlich gerechtere Welt zu schaffen. Daraus entsteht die Logik des Terrors.
Und so zeigen sich die Folgen von zwei Arten des Atheismus: Der relgiöse Atheismus von Dworkin zähmt den Menschen durch die Achtung, die er der höheren Welt, seien es die ethischen Werte oder die Erhabenheit der Natur, entgegenbringt. Der Atheismus, den Sloterdijk analysiert, zieht mit logischer Konsequenz den Terror nach sich. Das sind zwei Antworten auf die Frage, wie entbehrlich die Vorstellungen von einem Gott sind.
Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Aus dem Amerikanischen von Eva Engels, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014