Mit dem Fall der Mauer haben namentlich in Deutschland Protestbewegungen eine höhere Weihe erhalten. Die Parole, „Wir sind das Volk“, beansprucht für sie eine unwiderlegbare Evidenz. Diese Evidenz ist so stark, dass bislang nicht ernsthaft danach gefragt wurde, wer denn genau mit diesem „Wir“ gemeint ist.
Der Göttinger Politologe Franz Walter hat im Auftrag von BP mit seinem Team diese Frage empirisch untersucht(1). Dabei wollte er nicht nur wissen, wie sich die Protestbewegungen zusammensetzen, sondern auch, welche politischen Einstellungen für sie charakteristisch sind. Insgesamt haben seine Mitarbeiter vom „Institut für Demokratieforschung“ landauf, landab Teilnehmer der unterschiedlichsten Protestgruppen befragt: Occupy Wall Street in Frankfurt, Gegner von Stuttgart21, Anti-Atom-Aktivisten im Wendland, Euro-Gegner, Hamburger Widerstand gegen die Schulreform und auf dem Lande Widerstand gegen neue Stromtrassen.
Protestieren auf hohem persönlichen Niveau
Insgesamt wurden 200 Gespräche geführt. Was Franz Walter und seine Mitarbeiter überraschte, ist die Zusammensetzung der Protestgruppen. Anders als bei den Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre, in denen ganz junge und unangepasste Aktivisten den Ton angaben, versammeln sich heute überwiegend gesetztere Herren im Alter von 50 an aufwärts zum Protest. Über die Hälfte von ihnen hat ein Studium abgeschlossen.
Polemisch zugespitzt: Wer es sich leisten, geht protestieren. Materielle Absicherung und überdurchschnittliche Bildung geben den aktuellen Protestbewegungen das Gepräge. Und was auf den ersten Blick geradezu witzig erscheint, ist, dass neben den zahllosen, Lehrern, Pastoren und Freiberuflern die Ingenieure die Mehrzahl bilden. Protestierende Ingenieure?
Misstrauen, Hohn und Spott
Die Erklärung dafür leuchtet ein: Stein des Anstosses sind in vielen Fällen Vorhaben technischer Art: Stuttgart21, Endlagerung von Kernbrennstoffen, neue Stromtrassen, Landebahnen, Flugschneisen. Immer geht es um Problemlösungen, für die die Ingenieure die Experten sind – oder sich dafür halten.
Hierin liegt die eigentliche Brisanz der Befragungsergebnisse. Die „Experten“ in den Protestbewegungen haben nach der Analyse von Franz Walter eines gemeinsam: Misstrauen gegen politische Instanzen und eine tiefe Verachtung für die Demokratie, der sie mit Hohn und Spott begegnen.
Franz Walter warnt vor dem, was kommt. Denn die Altersgruppe der Protestierenden wird wachsen, und die Verachtung der Demokratie wird sich verstetigen. Worin liegt aber der tiefste Grund dafür, dass der Einfluss der „Wutbürger“ auf Dauer gar nicht mehr zu bremsen sein wird? Schliesslich könnte umgekehrt aus unerfindlichen Gründen der Protest auch einmal wieder aus der Mode kommen.
Ökologische Kommunikation
Die bis heute präziseste Antwort auf diese Frage hat 1986 der Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch, Ökologische Kommunikation, gegeben. Die ökologische Frage, so war schon damals dem als konservativer Zyniker verschriene Luhmann klar, betrifft die gesamte Gesellschaft und wird sich zunehmend als immer grösseres Problem erweisen. Wie aber wird es von der Gesellschaft wahrgenommen?
Dazu untersucht Luhmann ganz unterschiedliche Bereiche: Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Religion und Erziehung. In jedem dieser Bereiche kommt das ökologische Problem vor, aber es erscheint jeweils ganz anders: In der Wirtschaft steigen zum Beispiel Risiken in den Liefer- und Vertriebsketten, im Recht geht es um Schadensersatzansprüche etc., in der Politik geht um den Erhalt der Zustimmung für Massnahmen und in der Religion um die Erhaltung der Schöpfung – um nur ein paar wenige „Codes“, wie Luhmann das nennt, herauszugreifen.
Das System der Politik kurzschliessen
Der Clou ist: Alle reden von Ökologie, aber jeder hat dazu einen komplett anderen Zugang. Auch wenn die ökologische Problematik anwächst, kann die moderne Gesellschaft darauf keine einheitliche Antwort geben.
Aus dieser Perspektive wird klar, dass die Politik mit ihren Parteien, Parlamenten, gesetzgeberischen und verwaltungstechnischen Verfahren ein eigenes „System“ darstellt, dessen elementarer „Code“ Zustimmung / Ablehnung, Wahl / Nichtwahl ist. Politiker können gar nicht anders, als jedes Problem unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, wie es sich im Rahmen der Gremien und in der öffentlichen Darstellung ausnehmen wird.
Die Wutbürger machen nun etwas sehr Effizientes: Sie schliessen das System der Politik kurz. Sie setzen ihre vermeintlichte Expertenmeinung 1:1 in eine politische Forderung um und erwecken damit den Eindruck, dass jede andere Handlungsoption schon in der Nähe des Kriminellen angesiedelt ist.
Der Druck der Strasse
Das ist der Grund dafür, dass Niklas Luhmann die Protestbewegungen mit grosser Skepsis betrachtet hat. Anders als in der politischen Arena, in der es immer um die Aushandlung von Kompromissen geht, sah er diesen Spielraum auf der Strasse nicht. „Was ist“, fragte er immer wieder, „wenn eine Protestbewegung ihre Forderung nicht durchsetzen kann? Wird sie dann nicht zu härteren Mitteln greifen?“
Aber so weit muss es gar nicht kommen. Inzwischen hat die Politik – anders als noch in den 80er Jahren – die Protestbewegungen in ihre Codes eingebaut. Ein Politiker, der auf eine Protestbewegung „konstruktiv“ reagiert, kann damit Zustimmung gewinnen. Heute gilt es eben nicht mehr als degoutant, dem „Druck der Strasse“ nachzugeben. Für den einzelnen Wutbürger ist es daher gar nicht mehr nötig, in eine Partei einzutreten und dort seine Anliegen zur Geltung zu bringen. Es genügt, die Politiker vor Ort direkt unter Druck zu setzen.
Entfernung "störender Elemente"
Das funktioniert um so besser, als es eben die gut situierten Bürger sind, die zum Beispiel in Hamburg eine Schulreform zu Fall bringen, weil sie ihre Kinder nicht mit denen der „unteren Schichten“ in einer Klasse sehen wollen. Oder es wird, ebenfalls in Hamburg, unter dem Vorwand, gegen Strassenprostitution Massnahmen zu fordern, gleich noch dafür gesorgt, dass die Polizei auch andere „störende Elemente“ entfernt.
Gibt es einen Weg zurück? Was man seit Jahrzehnten beobachten kann, ist immer derselbe Vorgang: Wenn aus Protest eine politische Partei entsteht, wird sie sich auf die Dauer mässigen. Das beste Beispiel dafür liefern in Deutschland die Grünen. Aber, und da hat Franz Walter absolut Recht, die Gefahr ist sehr gross, dass der Wutbürger diesen Weg nicht gehen will.
(1) BP-Gesellschaftsstudie: Die neue Macht der Bürger