Die Berliner, Pariser und Brüsseler Stadtmusikanten fiedeln fröhlich vor sich hin. Gelegentlich hört man einen schrägen Ton aus Athen, Rom, Lissabon oder Madrid. Dabei muss man sich bewusst sein: Das Keine-Panik-Orchester der politischen Führungskräfte in Europa und den USA dilettiert auf der Titanic. Der Parkettboden ist bereits in Schräglage, die ersten Tische fliegen samt Publikum über die Reling, das Wasser gluckst bedrohlich. Aber von der Kommandobrücke gibt es Lautsprecherdurchsagen: Wir sind unsinkbar, geniesst die Kakophonie.
Es bröckelt vom Rand ins Zentrum
Desperados in England (mehr als 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit), in Spanien (mehr als 50 Prozent), in Griechenland (mehr als 40 Prozent, immer mit der Einschränkung, ob man offiziellen Statistiken trauen darf) erobern sich rechtsfreie Räume. Rentnern und allen Abhängigen von uneinlösbaren Sozialversprechungen schwant langsam Übles. Heerscharen von Steuerzahlern, in erster Linie in Deutschland, aber auch in Frankreich, fragen sich immer lautstärker, ob demokratisch nicht legitimierte, ständig wortbrüchige Eurokraten in Brüssel die Verwendung von Hunderten von Milliarden Steuergeldern an kafkaesk operierende Bürokraten delegieren dürfen.
Demokratie beruht auf Konsens
Es geht schon längst nicht mehr darum, mit welchem Rettungsschirm absaufende Staaten in Europa und mit welcher Form von Quantitative Easing bankrotten Bundesstaaten in den USA auf die Beine geholfen werden soll. Auch die Existenz einer «Tea Party»-Bewegung in den USA, der «Wahren Finnen» und weiterer Rechtspopulisten in Europa ist nur ein Oberflächenphänomen. Diese teilweise grenzdebilen Organisationen beziehen ihre Kraft durch zwei klare Ansagen und eine unausgesprochene Folgerung.
Die Ansagen: Die angehäuften Staatsschulden sind nicht zurückzahlbar und die traditionellen Parteien haben keine Lösung dafür. Die Folgerung: Dieses Problem ist innerhalb des demokratischen Systems, wie wir es in Europa und den USA kennen, nicht mehr lösbar. Denn spätestens seit der Finanzkrise I ab 2007 und bis heute hat diese Classe politique gezeigt: Wir kriegen es nicht in den Griff. Und wir pfeifen auf eine demokratische Legitimierung unseres Tuns. Wir kündigen den Konsens auf, das Fundament jeder Demokratie. Das schafft Raum für Bewegungen, die mit Demokratie im Zweifelsfall überhaupt nichts mehr am Hut haben.
Das Unwort «alternativlos»
17 unabhängig voneinander operierende Finanzministerien, eine Währung. Wortbrüche am Laufmeter, von Maastricht bis No-Bail-out bis zeitlich begrenzte Rettungsschirme. Dazu die eklatante Unfähigkeit, mit der Solvenzkrise eines wirtschaftlich gesehen Pipifax-Staates wie Griechenland fertig zu werden. Eine Kakophonie von sich ständig gegenseitig widersprechenden Wortmeldungen eines Trichet, Barroso, Juncker, Sarkozy, einer Merkel. Dazu eine «Troika», die ausserhalb jeglicher Legitimität massiv in die viel beschworene Souveränität einzelner Mitglieder der Eurozone eingreift. Das ist der Trümmerhaufen namens «europäisches Haus». Dabei dient das Unwort des Jahres, «alternativlos», als arrogante und überhebliche Letztbegründung. Damit löst man kein einziges ökonomisches Problem. Schlimmer noch: Damit schleift man die Demokratie. Mit geradezu feudalistischer Arroganz wird das eigene Tun verabsolutiert, die Bankrotterklärung für jedes demokratisch legitimierte Handeln. Denn das ist natürlich nie «alternativlos».
«So kann es nicht weitergehen»
Das ist immer der teuflisch einfache und richtige Satz, mit dem sich Demagogen und Populisten ins Scheinwerferlicht schieben, und leider muss man sagen: Sie haben recht. Die Staatsschulden sind unbezahlbar, der Euro ist am Ende, Griechenland (und andere Staaten auch) werden und müssen Bankrott erklären. Das ist schon schlimm genug. Die Anzeichen mehren sich aber, dass diese Probleme innerhalb der existierenden politischen und demokratischen Strukturen nicht lösbar sind. Das passiert nicht über Nacht, aber in vier Jahren, seit der Finanzkrise I, ist ja auch Bemerkenswertes unternommen worden, um das Schreckgespenst Entstaatlichung, Entdemokratisierung, Platz für einfache Lösungen und starke Führer, mit Leben zu erfüllen. Von wirtschaftlichen Folgen wie Staatspleite und/oder Zusammenbruch der Garantie der Sozialversprechen ganz zu schweigen.
Deutschland in der Nacht
Aus historischen Erfahrungen ist in Deutschland die Sensibilität für eine solche Gefahr besonders hoch. Also kann man im Umkehrschluss prognostizieren: Falls eine Partei der «Wahren Deutschen» (es kann auch ein anderer Name sein) mit einem medial etwas begabteren Führer als ein Thilo Sarrazin von sich reden macht und erste Wahlerfolge einheimst, dann ist es Zeit, sich auf alles gefasst zu machen und das persönliche Réduit auszubauen. Oder aber, diese Zeilen als Kassandra-Ruf abzutun und weiterhin dem Gefiedel des Orchesters auf der Titanic zu lauschen. Dabei sollte man sich dann nicht davon stören lassen, dass 17 Wirtschaftsnobelpreisträger auch dieser Meinung sind, wie eine Umfrage der «Welt» (vgl. Link unten) ergab.