Bis heute hat sich die Lücke, die Niklas Luhmann in der Soziologie hinterliess, nicht geschlossen. Denn er hat für die Soziologie ganz neue Massstäbe gesetzt. Niklas Luhmann starb am 6. November 1998 im Alter von 70 Jahren.
Was ist "Theorie der Gesellschaft"?
Seine Theorien waren wie höhere Mathematik. Sie waren so abstrakt, dass immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden: Was soll das? Ist er verspielt oder ein Zyniker? Niklas Luhmann aber wollte nur eine einzige Frage beantworten: Was hat es mit der Soziologie als „Theorie der Gesellschaft“ auf sich?
Soziologie ist, anders als sie vielfach dargereicht wird, keine Empörungswissenschaft. Sie handelt nicht von der Welt, wie sie sein sollte. Und es genügt nicht, die offensichtliche Tatsache, dass „Eliten versagen“ oder wir in Zeiten einer „Risikogesellschaft“ mit ihrer „organisierten Unverantwortlichkeit“ leben, zu beklagen. Das kommt zwar gut an, aber die Aufgabe der Soziologie ist weitaus anspruchsvoller.
Täuschende Vertrautheit
Was ist, wenn ich mitten in Ereignissen und Abläufen bin und nicht weiss, warum sie so und nicht anders sind? Wenn ich, mit anderen Worten, ein Fremder im Vertrauten bin? Niklas Luhmann war wie ein Geist, der auf der Schulter sitzt und zu allem sagt: "Du glaubst zwar zu verstehen, was du erlebst, aber weisst du wirklich, durch welche Brille du gerade schaust? Könnte nicht alles auch ganz anders zusammenhängen?"
Etwas erleben und nicht wissen, warum etwas so ist, wie es zu sein scheint. Das ist der soziologische Blick. Fremd zu sein im scheinbar Bekannten. Das Bekannte zum Unbekannten machen. Erst dadurch bildet sich Theorie. Das war der Anspruch Niklas Luhmanns. Er betrachtete uns und unsere Gesellschaft wie eine unbekannte Insektenkolonie.
Wo ist die Vernunft?
Die andere Abgrenzung des Niklas Luhmann richtete sich gegen einen scharfsinnigen Beobachter der täglichen kleinen Dinge: Jürgen Habermas. Diese Dinge sind in den Augen von Habermas nicht vernünftig. Pure Macht, Manipulation, Technizismus – alles setzt sich durch. Aber wenn die Menschen sich doch einmal ohne diese Störfaktoren ruhig und vernünftig wie in einer Evangelischen Akademie an einen Tisch setzen könnten, ohne Herrschaft, ohne jeden Zwang, dann müssten sie doch auf jene Lösungen kommen, die jedem einleuchten. Das glaubt Jürgen Habermas bis heute. Niklas Luhmann glaubte es schon damals nicht.
Die beiden waren immer Kontrahenten im Dialog. Während Habermas sein soziologisches Hauptwerk mit "Theorie des kommunikativen Handelns" überschrieb, nannte Luhmann sein erstes grosses wissenschaftliches Resümée kurz und bündig "Soziale Systeme". Sein Programm: die grosse Ernüchterung.
Welchen Wert hat der Glaube an die Vernunft samt ihrer Fähigkeit, optimale Lösungen zu schaffen, wenn sich in der Erfahrung, also der Empirie, weder die Vernunft noch optimale Zustände aufweisen lassen? Die naheliegende Lösung, die Zustände, die eben nicht so vernünftig sind, anzuprangern, galt für Luhmann nicht. Denn ihm ging es darum, „zunächst einmal zu verstehen, weshalb die Gesellschaft sich selbst so viele Probleme bereitet“, wie er in der Einleitung zu seinem zweiten Hauptwerk, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, schreibt.
Wieviel wiegt "die Gesellschaft"?
Schon der Titel klingt befremdlich. Warum heisst er nicht einfach: „Die Gesellschaft“? Der eine Grund liegt darin, dass die Gesellschaft nicht etwas ist, auf das die Soziologie verweisen kann wie auf eine objektive Tatsache. Im ersten Kapitel von "Die Gesellschaft der Gesellschaft" heisst es: „Die Gesellschaft wiegt nicht genausoviel wie alle Menschen zusammen und ändert auch nicht mit jeder Geburt und jedem Tod ihr Gewicht. Sie wird nicht etwa dadurch reproduziert, dass in den einzelnen Zellen des Menschen Makromoleküle oder in den Organismen der einzelnen Menschen Zellen ausgetauscht werden. Sie lebt also nicht.“
Die Gesellschaft ist demnach ein Gebilde, in dem wir leben und über das wir reden, das wir aber soziologisch im Sinne Luhmanns noch nicht verstanden haben. Darum drehte sich sein für die Soziologie neuer „systemtheoretischer“ Ansatz. Er ging eben nicht mehr davon aus, dass die Gesellschaft von Menschen ebenso geplant und gebaut wird wie Häuser und Strassenbahnen, sondern dass es sich dabei um ein selbständiges System handelt. Es setzt sich nicht einfach aus Menschen zusammen und ist schon gar nicht Ausfluss rational nachvollziehbarer Planung. Und zur "Gesellschaft" gehören diverse Teilsysteme: „Das Recht der Gesellschaft“, „Die Wirtschaft der Gesellschaft“, „Die Religion der Gesellschaft“ und so weiter.
Systeme
Diesen Themen und Buchtiteln liegt eine hochkomplexe Theorie zugrunde: Die Theorie nämlich, dass sich jedes System dadurch bildet, dass es zu seiner Umwelt eine Grenze zieht und sich nach ganz eigenen Gesetzen fortsetzt. So funktioniert die Wirtschaft, in der es um das Geld geht, völlig anders als das Recht, das dazwischen unterscheidet, was gesetzeskonform ist und was nicht. Die Religion wiederum trifft Unterscheidungen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen Glauben und Unglauben.
Ganz sicher ist es ein Glücksfall für Niklas Luhmann gewesen, dass es für seine schwierige Theorie der „Autopoiese“, also der Art und Weise, wie sich Systeme bilden und sich fortsetzen, eine aktuelle Entsprechung in der Neurobiologie gab. Humberto Maturana und Francisco Varela traten 1984 mit Erkenntnissen hervor, die die Erkenntnisse Luhmanns aus naturwissenschaftlicher Sicht bestätigten. Um ihre Theorie anschaulich zu machen, benutzten die beiden ein schönes Bild:
Die U-Boot-Fahrer
Ein U-Boot durchquert ein Gebiet mit zahlreichen Riffen, ohne mit einem dieser tückischen Hindernisse zu kollidieren. Als es im Hafen anlegt und die Mannschaft aussteigt, gratulieren diejenigen, die diese schwierige Fahrt beobachtet haben, der Mannschaft. Die aber ist völlig überrascht. Denn sie hat von den bedrohlichen Riffen gar nichts mitbekommen. Sie erklärt, sie habe lediglich die Instrumente abgelesen und immer dann, wenn die Nadeln einen kritischen Zustand anzeigten, die Hebel an den verschiedenen Aggregaten des Bootes so lange verstellt, bis die Zeiger wieder im grünen Bereich waren.
Die Besatzung war also eigentlich „blind“, „sah“ aber dank ihrer Instrumente wie der Echolote, Sonare und dergleichen mehr die Hindernisse. Luhmanns Bestreben war es, die verschiedenen Systeme der Gesellschaft mit ihren speziellen und nur ihnen zugehörigen „Sensoren“ und „Mechanismen“ so genau wie möglich zu beschreiben. Das hat ihm immer wieder viel Kritik eingetragen, denn man hielt seine Sichtweise für „verspielt“ und „zynisch“ (Ralf Dahrendorf) . Aber Luhmann war kein Zyniker und verspielt war er auch nicht, dafür aber unglaublich belesen. Und wenn er sich einmal nicht dem Zwang aussetzte, sein immenses Wissen in abstrakte Theorie zu giessen, erwies er sich als herausragender Erzähler, dem noch die kleinsten Details präsent waren.
Ethik und Wirtschaft
Besondere Sorge bereitete ihm die Umweltproblematik. Aber gerade deshalb konnte er nicht seine soziologische Brille absetzen, mit der er sah, warum die gut gemeinten Appelle nicht helfen. Er widmete diesem Thema ein eigenes Buch, „Ökologische Kommunikation“. Darin beschrieb er unter anderem, warum die verschiedenen Gruppen, die die Gefährdung der Umwelt beklagen, sehr unterschiedliche Dinge meinen und derartig verschiedene „Lösungen“ im Sinn haben, dass daraus kaum einheitliche Konzepte erwachsen können.
In der öffentlichen Diskussion sind diejenigen im Vorteil, die mit schlagkräftigen Begriffen aufwarten können. So wird die „Gier“ für den beklagenswerten Zustand unserer Welt verantwortlich gemacht. Als Soziologe hätte Luhmann einen solchen Begriff nie verwendet. Denn aus seiner Perspektive hat es sich als immenser Vorteil erwiesen, die Wirtschaft von den Begriffen des Moralsystems zu entkoppeln – das geschah zu Beginn der Neuzeit. Wie anders hätte es möglich sein können, zum Beispiel Gewinne zu erwirtschaften, ohne sich den Vorwurf des Geizes auszusetzen?
Die grosse Illusion
Aber müssten der Wirtschaft nicht doch ethische Grenzen gesetzt werden? Für Luhmann war diese Frage extrem schwierig. Denn der „Code“ der Wirtschaft ist das Geld. „Nirgends sonst gibt es Geld“, pflegte er zu sagen. Der „Code“ der Moral ist Achtung und Nichtachtung. Wer sich nicht an die Normen der Moral hält, wird geächtet. Natürlich kann Moral auf die Wirtschaft durchschlagen, wenn etwa Konzerne wegen Kinderarbeit oder Umweltschäden boykottiert werden. Das sind, wie man heute sagt, „Reputation Risks“.
Aber Luhmann fragt radikaler: Soll man, wenn etwas mit der Moral nicht stimmt, „die Computer abstellen“? Und haben wir nicht alle, die wir die Banken kritisieren, nicht auch Bankkonten? Da ist wieder das Subjekt-Objekt-Problem der Frage nach der Gesellschaft: Wir alle sind stets Teile der Systeme, die wir kritisieren und über die wir uns erheben wollen. Der soziologische Blick enthüllt, wie illusionär es ist, sich besser zu fühlen als alle anderen.
Der Zettelkasten
Wie kam Niklas Luhmann zu diesen Einsichten? Ursprünglich war er Jurist, kein Soziologe. Er arbeitete nur kurz als Anwalt, dann ging er in die Verwaltung. Warum? Er wollte nicht mehr Sklave seiner Mandanten sein, die ihn mit völlig illusionären Forderungen befrachteten. Das ist typisch Luhmann. Und schon als Jurist begann er mit der Arbeit an seinem „Zettelkasten“, der bis heute legendär ist: Alles, was er las, wurde dort verzeichnet und verknüpft, so dass es für ihn selbst jedesmal ein Abenteuer war, ausgehend von einem Wort oder einem Zitat die Reise durch seine unendlichen Notizen zu beginnen.
Zwischen 1965 und 1968 studierte er Soziologie in Münster. 1968 wurde er der erste Professor der Universität Bielefeld. Luhmann gilt heute als soziologischer Klassiker des 20. Jahrhunderts. Seine Theorien, so anspruchsvoll sie auch sind, haben in vielfältiger Weise Popularisierungen in der Wirtschaft, der Psychologie und sogar in der Literaturwissenschaft gefunden. Auf die Frage, wie er denn mit der Vereinfachung und Vergröberung seiner anspruchsvollen Theorien zurecht komme, antworte er einmal: „Ach, wissen Sie, ich begreife doch selbst erst allmählich, wohin mich meine Theorien führen.“