Vielleicht lag es am Trinkgeld. Georgina, die Lieblingskellnerin im Caféhaus um die Ecke fand (oder erfand) immer wieder eine Sonderaktion, damit der Kaffee und die drei Gipfeli nicht mehr 6 Pesos, damals umgerechnet etwa 2 Franken, kosteten. Selbst dann noch, als Argentinien sich langsam vom Staatsbankrott von 2001/2002 zu erholen begann und die Preise überall kräftig anstiegen.
Bald darauf wurde die Gaststätte geschlossen. Schuld daran waren nicht etwa Georginas kundenfreundliche Angebote: Der Pächter war vielmehr nicht gewillt, von einem Tag auf den anderen einen mehr als doppelt so hohen Mietzins zu bezahlen, wie dies der Hausbesitzer verlangt hatte. Aus dem Café ist inzwischen ein unpersönliches Speiselokal geworden, mit dem gleichen Mobiliar und dem gleichen Angebot wie Dutzende andere Restaurants im Quartier.
Der Trick mit dem Index
Spezialangebote für Kaffee und Medialunas, wie die Gipfeli in Argentinien heissen, gibt es immer noch. Nur: Heute kostet ein solches Mini-Frühstück nicht mehr 6 Pesos, sondern 16 Pesos (4 Franken) oder noch mehr. Auch vieles andere ist wesentlich teurer geworden: Lebensmittel, Mieten, Schulgebühren, Krankenversicherungen, Freizeitvergnügen. Und die Preisspirale dreht sich ungebremst weiter. Konsumentenorganisationen haben ausgerechnet, dass eine Familie in diesem Jahr für ihr Weihnachtsessen rund 20 Prozent mehr hinblättern muss als 2009. Am stärksten emporgeschnellt ist der Preis für Fleisch, dem Leibgericht der Argentinier: Vor einem Jahr kostete sie das Rumpsteak 22 Pesos pro Kilo, heute 43 Pesos, also beinahe das Doppelte. Aber auch bei den traditionellen Süssigkeiten oder dem Sidra, dem „Champagner“ der kleinen Leute, registrierten die Konsumentenschützer deutliche Aufschläge.
Argentinien weist heute nach Venezuela die höchste Inflationsrate in Südamerika und eine der höchsten weltweit auf. Offiziell beträgt die Jahresteuerung etwa 11 Prozent. Die Regierung wendet jedoch bei der Indexberechnung einen Trick an. Der Warenkorb wird – entgegen der üblichen Praxis – permanent aktualisiert. Dabei fallen genau jene Produkte, deren Preise stark ansteigen und damit die Inflation anheizen, automatisch aus der Berechnung und werden durch andere Waren ersetzt. In Tat und Wahrheit, glauben unabhängige Ökonomen, liegt die Teuerung derzeit zwischen 20 und 25 Prozent. Sie ist damit um ein Vielfaches höher als in Brasilien (schätzungsweise 6,5 Prozent), Uruguay (etwa 7 Prozent) oder Peru (4 Prozent).
Das Schreckgespenst der Hyperinflation
Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner hat die amtlichen Daten lange eisern verteidigt und so getan, als wäre die Inflation überhaupt kein Problem. Viele ihrer Landsleute sehen es anders. Sie machen sich laut Meinungsumfragen über die Teuerung fast ebenso so grosse Sorgen wie wegen der zunehmenden Kriminalität oder der Schwäche der staatlichen Institutionen.
Ältere Argentinier denken mit Schrecken an die Hyperinflation der späten achtziger Jahre zurück, als die Preise im Rhythmus des Währungszerfalls nach oben rasten: im Juni 1989 um 114 Prozent, im Juli beinahe um 200 Prozent. „Damals zahlten wir den Angestellten dreimal im Monat den Lohn aus, damit das Geld nicht den grössten Teil seines Wertes verlor, bevor sie es in der Hand hielten“, erinnert sich André Maradan, ehemaliger Personalchef einer Handelsfirma in Buenos Aires. Unter dem Druck wachsender Kritik erklärte sich Cristina Kirchner vor ein paar Wochen schliesslich bereit, Berechnungsmethoden für den Index überprüfen zu lassen, und bat dafür ausgerechnet den in Argentinien verhassten Internationalen Währungsfonds (IWF) um Unterstützung. Die Fachleute aus Washington sollen der Regierung technische Hilfe leisten, um die Qualität der Statistiken zu verbessern.
Unter dem chronischen Preisanstieg leiden vor allem die Armen, die nach wie vor rund einen Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der Grossteil von ihnen lebt von schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten und/oder von staatlichen Sozialleistungen. Sie wissen keinen der in Argentinien mächtigen Gewerkschaftsverbände hinter sich, die für ihre Mitglieder regelmässig Lohnerhöhungen herausholen. Ein Aufschlag bei Artikeln des Grundbedarfs trifft sie besonders hart. Ein Warenkorb mit 22 Nahrungsmitteln und 6 Produkten für die Körperpflege – alles Billigmarken - kam gemäss Angaben des Konsumentenverbands Adelco im Dezember 2007 auf 107 Pesos zu stehen, heute kosten diese 28 Produkte 221 Pesos, 106 Prozent mehr.
„Mein Verdienst ist nicht gleich stark gestiegen“, klagt Stella, die im Mittelschichtquartier Palermo aus Haushaltshilfe arbeitet und seit nicht ganz einem Jahr Witwe ist. Die Mutter von vier Kindern ist froh, dass zwei Töchter und ein Sohn bereits erwachsen sind und die Haushaltskasse nicht mehr belasten. „Dennoch gerate ich jedes Mal in einen finanziellen Engpass, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, zum Beispiel jemand in der Familie plötzlich zum Zahnarzt muss oder eine unerwartete Reparatur anfällt.“
Der Protest gegen die Wohnungsnot
Neben den saftigen Preiserhöhungen bei den Lebensmitteln machen den unter sozialen Schichten vor allem die vergleichsweise hohen Wohnkosten zu schaffen. Ein gewalttätiger Streit um einen illegal besetzten Park in Buenos Aires führte den Argentiniern dieser Tage dramatisch vor Augen, wie viel gesellschaftliche Sprengkraft der Mangel an erschwinglichem Wohnraum – ein in Lateinamerika weit verbreitetes Phänomen - in sich birgt. 6000 Männer, Frauen und Kinder besetzten das 130 Hektaren grosse, ziemlich verwahrloste Areal, um gegen die Wohnungsnot zu protestieren. Die Besetzer, vornehmlich Einwanderer aus Bolivien, Paraguay und Peru, begannen, Parzellen auszustecken und notdürftige Unterkünfte zu errichten. Es kam zu Zusammenstössen innerhalb des Lagers, aber auch mit Bewohnern aus der Nachbarschaft, die um jeden Preis verhindern wollten, dass vor ihrer Haustür ein Elendsviertel entsteht. Bei den Auseinandersetzungen wurden drei Menschen getötet, wer sie umgebracht hat, ist bis heute nicht geklärt.
Stadtregierung und nationale Exekutive, die einander in inniger Feindschaft zugetan sind, beschuldigten sich gegenseitig politischer Winkelzüge und liessen im Übrigen den Dingen zunächst ihren Lauf. Erst als ihnen dämmerte, dass die Besetzung des Parque Indoamericano kein Einzelfall bleiben würde, suchten sie gemeinsam nach einer Lösung des Problems. Sie versprachen, Land und Geld für den Bau von Häusern für Obdachlose zu Verfügung zu stellen, und konnten so die Besetzer dazu bewegen, das Gelände zu räumen. Unter ihnen befanden sich auch solche, die zwar ein Dach über dem Kopf haben, aber die Gelegenheit nutzen wollten, mit Hilfe des Staates zu einer zweiten oder besseren Unterkunft zu kommen.
Die fragwürdige Subventionspolitik
Viele argentinische Familien hätten noch mehr unter der Ausgabenlast zu stöhnen, gäbe es nicht auch Bereiche, in denen die Preise über Jahre hinweg mehr oder weniger stabil geblieben sind. In keiner anderen lateinamerikanischen Grossstadt sind die öffentlichen Verkehrsmittel so preisgünstig wie in Buenos Aires. Ein Ticket für die U-Bahn kostet umgerechnet 30 Rappen, deutlich weniger als in den Nachbarländern. Auch bei Strom und Gas kommen argentinische Privathaushalte wesentlich billiger weg: Für die Elektrizität zahlen sie etwa 80 Prozent weniger als die Verbraucher in den umliegenden Staaten, beim Gas beträgt die Differenz rund 60 Prozent.
Solche Discounttarife sind nur dank Subventionen aus der Staatskasse möglich. Sie sollen das Budget der Minderbemittelten entlasten, kommen aber keineswegs bloss jenen zu Gute, die wirklich darauf angewiesen sind. Vom stark verbilligten Strom profitiert nicht nur die Hausangestellte Stella, sondern auch ihr Arbeitgeber, obwohl er ohne weiteres in der Lage wäre, einen marktkonformen Preis zu bezahlen, und bei höheren Stromkosten vielleicht sogar die Klimaanlage weniger oft einschalten und damit einen Beitrag gegen die Energieverschwendung leisten würde.
Cristina Kirchner täte gut daran, sich für einmal am Nachbarn Brasilien zu orientieren. Zwar ist auch in der brasilianischen Sozialpolitik nicht alles zum Besten bestellt. Die Regierung des ehemaligen Metallarbeiters Luiz Inácio Lula da Silva setzt aber die staatlichen Mittel zur Unterstützung der Bedürftigen gezielter und damit effizienter ein als Argentinien.