Das Bild eines auf den Abgrund zutreibenden Schiffes ist still. Das Wasser des Flusses ist ruhig; es genügt die Strömung. Das Schiff hat zu wenig Treibstoff oder einen Maschinenschaden. Auf jeden Fall verfügt es nicht mehr über die Antriebskräfte, um zu wenden und gegen die Strömung anzufahren. Und alle Passagiere wissen das.
Dieses Schiff ist Europa. Während das Unabwendbare seinen Lauf nimmt, werden Dinge ausgesprochen, die bislang niemand zu sagen wagte: Das Schiff Europa sei sehr schlecht administriert und entsprechend miserabel gewartet worden. Denn es habe zum selben Ticketpreis Passagiere aufgenommen, die weder in die erste, die zweite, noch in die dritte Klasse gepasst hätten. Bei jeder Gelegenheit hätten diese Passagiere anschreiben lassen. Am Ende seien ihre unbezahlten Rechnungen teurer als die ganze Reise gekommen.
Das Zerbrechen des Codes
Und es sei eine Menge Leichtsinn im Spiel gewesen. Man habe geglaubt, man müsse nicht mehr wie zu Urgrossvaters Zeiten Fahrkarten am Schalter gegen harte Münze verkaufen. Es genüge, dass jeder irgendetwas unterschreibe, dass andere diese Unterschriften als Wert verbrieften – und schon könne die Reise losgehen.
Und jetzt treibt das Schiff auf den Abgrund zu. Es gibt Passagiere, sogar die Mehrzahl, die die Animation an Bord als Beruhigung nehmen. Es könne doch nicht sein, dass ..... Wenige andere haben schon in den Abgrund geschaut, und das Grauen lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Denn sie wissen, dass das scheinbar so leichte Geld der Code ist, ohne den alles ins Stocken gerät - und im Chaos versinkt.
Die erste Stufe des Schreckens besteht darin, dass die Hüter des Codes damit nicht mehr umzugehen wissen. Die einen sagen: „Gebt den Code frei, das Geld muss unbeschränkt und ungehemmt überallhin fliessen, so dass es alles schmieren kann.“ Die anderen sagen, das dürfe nicht sein, denn wo es nur noch Geld gebe, verlöre es den Bezug zu realen Werten und löse sich als Illusion auf.
Fahrige Bewegungen
Niemand hat mehr ein Rezept. Die Argumente sind ausgetauscht, ausdiskutiert, ausgereizt. Und die Strömung des Flusses treibt das Schiff weiter auf den Abgrund zu. Irgendwie haben die auf der Brücke Zeit – und irgendwie auch nicht. Es knallt nicht sofort wie bei einem GAU eines AKW. Es fällt auch kein Flugzeug vom Himmel. Es bleibt merkwürdig still. Und das Leben geht vorerst weiter. Investitionen werden getätigt; Kinder gehen zur Schule; jeder hat seine Pläne.
Aber die Zeit zum Handeln ist abgelaufen. Die zweite Stufe des Schreckens besteht darin, dass die Führungsmannschaft auf der Brücke ihre Identität verliert. Am Anfang war das noch erheiternd. Da gab es Figuren, die nur als Pausenclowns von sich reden machten und nach und nach verschwanden. Aber plötzlich stellt sich heraus, dass auch die Kernmannschaft mit ihrem unerbittlichen Ernst Teil der bitteren Komödie ist. Plötzlich merkt die Kernmannschaft, dass sie nur noch so tut, als hätte sie Hebel in der Hand. Um so fahriger werden ihre Bewegungen.
Die Unerbittlichkeit der Geschichte
Und nun zündet die dritte Stufe des Schreckens. Sie besteht darin, dass sich die schlimmsten Ahnungen der klügeren Passagiere zu erfüllen beginnen. Schon jetzt versagt die Mannschaft auf der Brücke. Wie wird es erst gehen, wenn das Schiff ins Schlingern und Taumeln gerät? Denn die klügeren Passagiere wissen, dass das nicht so ungewöhnlich ist, wie die auf der Brücke und die Animateure auf den Decks vorgeben.
„Geld bewegt die Welt“, wird gerne gesagt. Um so schlimmer ist es, wenn es zeitweilig ausfällt. Die Welt gerät nicht nur ins Stocken, sondern ins Trudeln. Wer das denkt und sagt, ist kein Pessimist. Er ist ein Realist, denn solche Vorgänge hat es dutzendfach in der Geschichte gegeben. Und gegenüber der Geschichte kann man nicht pessimistisch oder optimistisch sein. Ein Optimist müsste den Beweis liefern, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das wäre kühn.
Hunger, Epidemien und Anarchie
Und einigermassen aussichtslos. In dieser dritten Stufe des Schreckens kursieren vertrauliche Papiere in Bankenkreisen. In diesen Papieren wird beschrieben, was alles geschieht, wenn ein Finanzmarkt kollabiert. Die Verfasser sind kluge Leute, die sich mit Geschichte und Soziologie gründlich befasst haben:
Alle Kreisläufe kommen zum Erliegen. Längst überwunden geglaubte Plagen und Nöte kehren zurück: Hunger, Epidemien und Anarchie. Schon in kurzer Zeit erkennt sich unsere Gesellschaft nicht mehr wieder. Wahrscheinlich ist - und die Geschichte bietet dafür zahlreiche Beispiele - dass sich die Bevölkerung dezimiert.
Dr. Doom
Das Deprimierendste aber ist, dass sich dieselben Muster über Jahrhunderte wiederholen und der Mensch sich nicht ändert. Nouriel Roubini, der als erster ganz präzise das Platzen der amerikanischen Immobilienblase 2008 mit allen Folgen vorhergesagt und sich damit den Beinamen „Dr. Doom“ eingehandelt hat, schreibt: „Krisen sind so alt und allgegenwärtig wie der Kapitalismus selbst. Sie kamen Anfang des 17. Jahrhunderts mit dem Kapitalismus auf und sind uns – wie die Stücke, die Shakespeare damals schrieb – in kaum veränderter Form erhalten geblieben. Inszenierungen und Publikum ändern sich, doch alles Übrige – die Protagonisten, die Handlung und sogar der Text – bleibt von Krise zu Krise und von Jahrhundert zu Jahrhundert erstaunlich konstant.“ (1)
Wie reagiert der Mensch auf unausweichlich bevorstehende Katastrophen? Von unheilbar Kranken wissen wir, dass sie die Befunde zunächst nicht wahr haben wollen, dass sie dann anfangen, mit dem Schicksal zu hadern, bis sie es zuletzt akzeptieren. Derzeit befinden wir uns im Übergang von der ersten zur zweiten Phase: Die erste Stufe des Schreckens hat gezündet, und die Hüter des Geldes und der politischen Ordnung sind ratlos. Noch hoffen wir, dass irgendein Wundermittel wenigstens die Zeit streckt.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Aber wir erkennen, dass die Handelnden schon längst keine Handlungsmacht mehr haben. Um so mehr hoffen wir, dass uns das Schicksal nicht ganz so hart trifft, dass wir irgendwie vom Schlimmsten verschont werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt, und bei einem Schiffsuntergang gibt es keine Atheisten.
Jeder steht plötzlich allein. Und er muss lernen, in der Haltlosigkeit Halt zu finden, wo auch immer. Auch dies geschieht in einer Stille. Es ist die Stille, die sich einstellt, wenn die Mannschaft von Bord gegangen ist und die Kapelle aufgehört hat zu spielen. Und es ist die Stille des Entsetzens, des Unglaubens und am Ende des schweigenden Arrangements. Aber es kann auch die Stille einer neuen Kraft sein.
(1) Nouriel Roubini, Stephen Mihm, Das Ende der Welt - Wirtschaft und Zukunft, Campus Verlag 2010, zitiert nach: GDI IMPULS, Nummer 2, 2010, S. 66