Ein staubiger Dorfplatz. Eine Menschenmenge hat einen Halbkreis um die Gefangenen gebildet. Diese sitzen im Staub am Boden, leicht nach vorne gebeugt, die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden. Mehr als die hin und her springenden Handybilder ist es der Ton, der durch Mark und Bein geht. Ein hysterisches Geschrei, Stimmen, die in rasender Wut durcheinander brüllen.
Vor den Gefangenen stehen schwarz maskierte Bewaffnete. Einer von ihnen trägt die Kappe des Henkers. Er schwingt den Koran und schreit mit sich überschlagender Stimme eines ums andere Mal «Allah akbar», als müsse er sich selbst in die explosive Erregung treiben, die zwangsläufig im Akt des Tötens Erleichterung findet. Plötzlich ein Moment der Stille, man hört nur das dumpfe Gemurmel der Menge, bevor der erste Schuss fällt. Der Maskierte geht hinter den Gefangenen vorbei und schiesst einen nach dem andern in den Kopf. Die Gefangenen zucken nach vorn wie unter einem Peitschenschlag, bevor sie zur Seite kippen.
Ein Bilderstrom der Gewalt
Ich weiss nicht, was diejenigen bezwecken, die solche Videosequenzen über Hinrichtungen gefangener syrischer Soldaten oder Milizionäre ins Internet stellen. Vielleicht rechnen sie mit einem Effekt der Abschreckung: Seht her, so wird es allen ergehen, die auf der Seite von Assad kämpfen.
Bisweilen mag es wohl auch ein Augenzeuge unter den Zuschauern sein, der meinte, er müsse den Vorgang dokumentieren. Vielleicht ist es einer der Bewaffneten selbst, der den Akt des Tötens mit seinem Handy festhält. Oder ist es einer, der zum Zuschauen gezwungen wurde und sich später von der Bestialität distanzieren will?
Ich habe es aufgeben, die unzähligen Bilder der Gewalt anzuschauen, die Tag für Tag über Youtube und andere Kanäle verbreitet werden. Es mag Fälschungen darunter geben, doch ein grosser Teil dieses Bilderstroms scheint authentisch. Oft werden Ort, Zeit und andere Daten angegeben, die überprüfbar sind. Meist ist auch durch die Art der Szene selbst eine Montage auszuschliessen
«Aussagen von Aktivisten»
Die öffentliche Wahrnehmung des Syrien-Konfliktes zwischen 2011 und 2014 ist die Geschichte einer Desillusion. Es ist auch die Geschichte einer grossen Fälschung. Als der Konflikt im März/April 2011 ins Blickfeld der grossen westlichen Medien geriet, liessen die Gegner des Assad-Regimes kein Mittel unversucht, um eine Wiederholung des Libyen-Mechanismus zu erreichen. Ein Volk erhebt sich gegen den Tyrannen, so hiess die Propaganda-Parole, der Diktator massakriert unbewaffnete Demonstranten. Dies verlautete aus Washington, Paris, London, Riad und Ankara. So tönte es auch beinah täglich auf allen Fernsehkanälen, und so konnte man es in grossen Tageszeitungen lesen. Es gab wohl keinen Radio-Moderator, keine Fernsehmoderatorin, die nicht den in Libyen erprobten Textbaustein «der Diktator schiesst auf sein eigenes Volk» im Repertoire hatten.
Im Sommer 2011 metastasierte die Story von der Unterdrückung friedlicher Oppositioneller zu einem wahren Medien-Taifun. Amnesty International forderte, das syrische Regime müsse vor den Internationalen Gerichtshof in den Haag gebracht werden, weil es versuche, «friedliche Proteste durch den Einsatz von Panzern und scharfer Munition zu ersticken.» UNICEF sah sich gezwungen festzustellen, unter 1’100 Todesopfern in Syrien seien viele Kinder.
Liest man die Medienberichte dieser Zeit, so fällt vor allem auf, dass als Quellen meist «Aussagen von Aktivisten» angegeben wurden. Monopolisiert wurde die Nachrichtenlage von einer sogenannten «Syrischen Beoachtungsstelle für Menschenrechte» in London, die nicht mehr und nicht weniger war als ein PR-Büro der Assad-Gegner und bis heute täglich ihre News verbreitet. Die Arabische Liga forderte, Assad müsse endlich mit der «gewaltsamen Unterdrückung der Opposition aufhören». Die Botschafter der USA und Frankreichs zeigten sich in der Stadt Hama und an anderen Konfliktherden, um sich mit der «wehrlosen Opposition» zu solidarisieren.
State Department: «600 Angriffe der al-Nusra-Front»
Es war weitgehend Show Business. Zu diesem Zeitpunkt wusste die Regierung in Washington bereits, dass radikal-islamische Terrorgruppen in Syrien operierten. Wo sie Dörfer oder Städte einnahmen, wurden syrische Soldaten oft kurzerhand erschossen. Es begann die brutale ethnische Säuberung in Zonen, die von Schiiten, Alawiten oder Anhängern Assads bewohnt waren. Die Story von der friedlichen Opposition war von Beginn an Fiktion.
Wer die offiziellen Verlautbarungen des amerikanischen Aussenministeriums aufmerksam studiert, stösst auf Erstaunliches. Am 11. Dezember 2012 veröffentlicht das State Department einen Pressetext, in dem es heisst, dass bereits im Jahr 2011 Terrorgruppen in Syrien operierten. Eine dieser Gruppen, die al-Nusra-Front, habe allein seit November 2011 die Verantwortung für sechshundert Angriffe übernommen. Im Wortlaut:
«Since November 2011, al-Nusra Front has claimed nearly 600 attacks – ranging from more than 40 suicide attacks to small arms and improvised explosive device operations – in major city centers including Damascus, Aleppo, Hamah, Dara, Homs, Idlib and Dayr al-Zawr. During these attacks numerous innocent Syrians have been killed.»
In derselben Pressemitteilung werden eine Reihe von radikal-islamischen Gruppen aufgezählt, die per Executive Order zur Liste der «Foreign Terrorist Organizations» hinzugefügt werden, welche in Syrien operieren.
«Kinder haben die syrische Revolution gezündet»
Das syrische Staatsfernsehen berichtete 2011 von niedergebrannten Gerichtsgebäuden und Telefonzentralen, von Massenerschiessungen in Dörfern, die in die Hand der Aufständischen gefallen seien. In der westlichen Presse wurde dies meist als billige Propagandalüge der syrischen Regierung betrachtet («Das Regime gibt an, es sei Opfer einer Aggression radikal-islamischer Terroristen», war der Standard-Satz in Radio und Fernsehen). Selbst als kurz vor Weihnachten 2011 Selbstmordattentäter im Zentrum von Damaskus zwei Autobomben zündeten, die 44 Tote und mehr als 160 Verletzte forderten, liessen sich die westlichen Medien nicht von ihrem Drehbuch abbringen, demzufolge die sogenannten Rebellen nun mal die sieben braven Geisslein waren und Assad der böse Wolf.
Für syrische Intellektuelle, die mit dem Assad-Clan aneinander geraten waren und wegen politischer Verfolgung das Land verlassen hatten, war das Chaos in Syrien das gefundene Fressen, um rhetorisch vom Leder zu ziehen. Der Schriftsteller Rafik Schami etwa, der seit vierzig Jahren in Deutschland lebt, erklärte in einem Interview, Assad halte «zwanzig Millionenen lebensfreudiger Syrer als Geiseln» und habe es mit einem Aufstand der Kinder zu tun:
«Diese Kinder und Jugendlichen zeigten, dass ‚der König nackt‘ ist. Das ist für den Herrscher erschreckend. Die ganze Revolte in Daraa haben diese Kinder gezündet. Ich werde bis zum Ende meines Lebens sagen, die Kinder haben die erste spontane Revolution des Volkes in Syrien seit tausend Jahren eingeleitet.» (NZZ, 28. März 2011)
«Freie Syrische Armee»
Doch bald war die Fiktion von der friedliebenden Opposition und den Kindern, die Revolution machen, nicht mehr haltbar. Da trat die «Freie Syrische Armee» auf den Plan. Sie diente sich den Medien an als eine Truppe, die im Wesentlichen aus syrischen Überläufern bestehen sollte, also Soldaten, die desertiert seien, weil sie «nicht auf ihr eigenes Volk schiessen wollten.» Der Westen berief sich auf diese Freie Syrische Armee, um einem bewaffneten Aufstand gegen einen souveränen Staat die Etikette einer demokratischen Legitimation anzukleben.
Angesichts der geringen operativen Wirkung dieser «Freien Syrischen Armee» fragten böse Zungen, ob sie in Wirklichkeit nicht hauptsächlich aus ein paar martialischen Videoaufnahmen und aus Talking Heads in Hotelzimmern bestand.
Effizient hingegen war der real existierende Terror. Und dieser ging von kampferprobten Einheiten aus, die zu einem grossen Teil aus ausländischen Jihadisten bestanden und bestehen. Als selbst renommierte amerikanische Zeitungen wie die New York Times berichteten, man habe es in Syrien mit weit über tausend verschiedenen Milizen zu tun, ein grosser Teil davon ausländische Terror-Gruppen aus dem Dunstkreis von Al Kaida, da gerieten einige Drehbücher und Gewissheiten ins Wanken.
Der Plot ist aus dem Ruder gelaufen
Dieselben Zeitungen und elektronischen Newsgefässe, die 2011 nicht müde wurden zu versichern, Assad massakriere die friedliebende Opposition, berichten heute über den Terror radikal-islamischer Brigaden wie al-Nusra oder ISIS (Islamischer Staat in syrien und im Irak). Martin Woker schrieb vor einem Monat in der NZZ:
«Wie in Bürgerkriegen üblich, bildete sich auch in Syrien ein unübersichtliches Kampffeld. Den Deserteuren, selbsternannten Emiren, simplen Kriminellen und kampferprobten Jihadisten aus aller Welt standen aufgerüstete Regierungstruppen gegenüber, ihrerseits unterstützt vom libanesischen Hisbullah und von Kämpfern aus dem Irak und Iran.»
Innert kurzer Zeit scheint der Plot und das gesamte Setting auf den Kopf gestellt. Da wurde ein Film gedreht, bei dem man nicht wusste, wo und wie er zuende geht. Erst unterstützte der Westen mit Waffen und einem gigantischen Propaganda-Aufwand die «Rebellen», nun sollen plötzlich die Rebellen die Bösen sein. Ein Blowback, das denjenigen bekannt vorkommt, die ein politisches Gedächtnis haben. Wie war das noch mit der amerikanischen Unterstützung für Osama Bin Laden und seine Mudschaheddin in Afghanistan? Wer lieferte die Stinger-Raketen über pakistanische und saudische Kanäle? Richtig, die CIA. Solange es galt, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben und damit das Vietnam-Trauma zu lindern, waren die Islamisten gute Verbündete.
Das Ganze von Anfang an missverstanden
In den Zirkeln der Macht in Washington weiss man sehr wohl, dass auch in Syrien die Realität anders aussieht als die offizielle Propaganda. Ein bemerkenswertes Zitat:
«In den amerikanischen Medien wird die derzeitige Lage als Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur bezeichnet – der Diktator ermordet seine eigene Bevölkerung, und wir müssen ihn dafür bestrafen. Aber darum geht es bei den gegenwärtigen Ereignissen nicht. Dieser Prozess wurde vielleicht von einigen Demokraten in Gang gesetzt, aber er hat sich nun im Ganzen gesehen in einen ethnischen und religiösen Konflikt verwandelt.»
Der dies sagt, ist keine geringerer als der ehemalige Sicherheitsberater und aussenpolitische Rasputin des Weissen Hauses, Henry Kissinger (Podiumsgespräch am 19. Juni 2013 an der Gerald R.Ford School of Pulic Policy, University of Michigan).
Kissinger trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er feststellt: «Ich muss einräumen, dass wir das Ganze von Anfang an missverstanden haben. In den Medien war zu lesen: Wir müssen Assad loswerden. Und wenn wir Assad einmal gestürzt haben, müssen wir eine Koalitionsregierung einsetzen. Das ist unvorstellbar. Ich bin durchaus dafür, Assad zu stürzen, aber im Konflikt zwischen den Russen und uns in dieser Frage vertreten die Russen die Auffassung: Zuerst wollt ihr Assad und andere stürzen, das ist aber nicht das entscheidende Problem. Dann zerstört ihr die Zentral-Regierung, und dann werdet ihr wie im Irak die staatlichen Institutionen zerstören – und es gibt nichts mehr, was das Land zusammenhält. Und dann wird es zu einem noch schlimmeren Bürgerkrieg kommen. Aus dieser Problematik heraus hat sich die derzeitige chaotische Situation entwickelt.»
Exakter kann man die Situation nicht beschreiben.
Gedächtnisverlust in den Nachrichtenredaktionen
Ich bin immer wieder überrascht über die Tatsache, dass in der Epoche der elektronischen Revolution, in der das tägliche Geschehen erstmals in unbegrenztem Umfang elektronisch archivierbare und verfügbare Geschichte geworden ist, unsere Nachrichtensendungen immer schneller und gedächtnisloser agieren. Die Journalisten sehen im Datenwald die Bäume nicht mehr. Oder sie wollen sie nicht sehen.
Wie anders ist es zu erklären, dass unsere Tagesschauen sowohl aus Syrien wie auch aus dem Irak tagtäglich von der Gewalt islamistischer Terrorgruppen zu berichten wissen, geradeso als handle es sich um einen schwer erklärbaren «Religionskrieg» zwischen fanatischen Sunniten und Schiiten. Nicht mit einem Satz wird dabei erwähnt, welche internationalen Akteure diese Konflikte verursacht und angeheizt haben, bis sie zu dem wurden, was sie heute sind.
Im Mai 2003 lösten die Amerikaner und ihre Verbündeten im Irak – nach ihrem erklärten «Sieg» – die 400‘000 Mann starke Armee auf und betrieben die Demontage der Baath-Partei von Saddam Hussein. Sie brachten die unter Saddam unterdrückten Schiiten in Bagdad an die Macht.
«Am Ende waren die Polizisten zu 99 Prozent Schiiten»
Die Kriminalisierung und Verfolgung der Anhänger des gestürzten Präsidenten trieb Zehntausende sunnitischer Offiziere und Soldaten in den Untergrund. Sie verloren ihren Job, ihr Haus, ihre Familie, ihre soziale Stellung, Es war diese Leute, die fortan den bewaffneten Aufstand gegen die amerikanisch-britische Besatzung aufnahmen. Sie operierten mit Terroranschlägen, und diese richteten sich selbverständlich auch gegen die Kollaborateure der Besatzungsmächte, also gegen die Schiiten. Dieser Konflikt dauert in wechselhaften und komplizierten Allianzen bis heute an, und es ist ebenso wenig ein «religiöser Konflikt» wie es beispielsweise der Krieg zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland es war. Dass Washington der schiitischen Armee des Machthabers in Bagdad nun Waffen liefern will, um den neu entflammten sunnitischen Aufstand zu unterdrücken, ist in dieser Logik nur konsequent.
Im Frühjahr 2007 machte der amerikanische General Joseph F. Peterson, der für die Ausbildung irakischer Polizisten zuständig war, gegenüber der New York Times die schier atemberaubende Bemerkung:
«Als wir die Truppe aufstellten, fragten wir nicht: Bist du Sunnit oder Schiit? Am Ende waren es dann 99 Prozent Schiiten. Im nachhinein sagen wir uns: Sie repräsentieren nicht die irakische Bevölkerung.» (NYT 6.März 2007)
Die Regierung George Bush Senior hatte bereits im ersten Golfkrieg die Schiiten im Süden zum Aufstand gegen Saddam Hussein aufgerufen. Das Anheizen ethnisch-religiöser Konflikte ist ein bewährtes Mittel amerikanischer Aussenpolitik, unerwünschte Regierungen zu destabilisieren.
Das Geschwätz von gestern
Die Herstellung der Public Opinion, die weitgehend Sache der grossen Medien ist, scheint oft nach dem Prinzip zu verlaufen: Was kümmert uns unser Geschwätz von gestern. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises machte der Philosoph Peter Sloterdijk im letzten Jahr seinem Unbehagen Luft angesichts einer amerikanischen Aussenpolitk, die die Welt unter der Nonsense-Parole «war on terror» zum Kriegsschauplatz erklärt hat:
«Seit zwölf Jahren ist mir zumute, als lebte ich in einem immerwährenden mediologischen Seminar, im dem man die Fabrikation der gemeinsamen Unwirklichkeit, die sich als informierte Öffentlichkeit ausgibt, von Tag zu Tag mitschreibt… Denn ich sah sie ja kommen, die Vergeltungstruppen und ihre eingebetteten Journalisten, mit ihrer grossspurigen Imperiums-Versteherei, ihrem Applaus für den Krieg unter gefälschten Vorwänden und ihrer anti-islamischen Verbissenheit. Und wir haben Grund festzustellen: Diese besinnungsfeindlichen Maulhelden von damals, diese Drohnen, die als unbemannten Hohlschädel ihre Überwachungsflüge über dem freien Denkraum ausführen – sie sind immer noch im Einsatz, und sie lassen von ihrer wutgetriebenen Vergiftungsarbeit nicht ab.»(Reflexionen eines nicht mehr Unpolitischen, Suhrkamp 2013)
Die «News York Times» hat immerhin den Mut gehabt, sich für ihre falsche Berichterstatttung rund um den Irak-Krieg bei ihren Lesern zu entschuldigen. Ich kann mich nicht erinnern, einmal erlebt zu haben, dass eine elektronische Nachrichtensendung sich für ihre eigenen Falschinformationen entschuldigt hätte oder wenigstens ihre eigene Fehler thematisiert hätte.